Wir stecken in einem Paradigmenwechsel, der alle kulturellen Dimensionen neu definiert: Gesellschaft, Ökonomie, Arbeit, Wissenschaft und Forschung – womit wir Geld verdienen, wie wir arbeiten, kommunizieren, zusammenleben – das alles verändert sich gerade fundamental. Mit unseren geltenden Vorstellungen von Schule, Bildung und Lernen lässt sich das weder erfassen noch begreifen noch gestalten.
Titelbild: Irgendwo in Wien | Christoph Schmitt
Erster Aspekt: Es geht nicht um Werkzeuge sondern um Kultur
Im Interview mit Tamedia (2.10.2021) sagt die Lernforscherin Prof. Dr. Elsbeth Stern von der ETH Zürich (!): „Ich habe so langsam ein Problem mit dem Begriff digitales Zeitalter. Was heisst das denn eigentlich? Es wird immer so getan, als sei das jetzt eine Zeitenwende.“
Frau Stern artikuliert in diesem Interview (durchgehend) die Vorstellung, dass es sich bei „Digitalem“ ausschliesslich um Werkzeug handelt: „Es gibt wunderbare Möglichkeiten, zum Beispiel für das Üben von Vokabeln oder Mathe-Aufgaben. Da kann der Computer adaptive, an den individuellen Lernstand angepasste Aufgaben stellen und gute Rückmeldungen geben.“
Diese Mängel sind in der Tat ein großes Problem in Deutschland. Doch selbst wenn wir diesbezüglich paradiesische Zustände hätten, würde Schule nach wie vor das tun, was sie immer tut, weil der kulturelle Rahmen immer stärker ist.
Diese Überzeugung ist in Bildungskontexten „State of the Art“: Da gibt es ein paar digitale Endgeräte, ein Internet und (hier und da) WLAN, der Rest der Welt ist hingegen „wie immer“.
Wenn Frau Stern dann noch zu Protokoll gibt: „Ein jedes Werkzeug ist ein Tand in eines tumbenToren Hand“, dann redet sie damit zwar nicht wenigen Pädagog*innen das Wort. Doch sie unterschlägt (oder ignoriert), dass gerade der versierte Einsatz eines Werkzeugs, jederzeit die Absicht seines/ihrer Nutzer*in spiegelt. Das gilt nicht nur für Sprache, Schusswaffen oder Narkotika.
Die für den pädagogischen Kontext exemplarischen Positionen von Frau Stern machen deutlich: Die Herausforderung der Stunde für Schulalltag und Lernforschung besteht darin, Digitalität als ein Kulturphänomen zu begreifen, nicht als Tool oder als technisches Upgrade klassischer Be-Schulung: „The Digital Condition is not about transporting content but transforming societies and people“ (Quelle) – und genau das ist heute Bildungsarbeit. Die digitale Technologie selber ist längst Normalität – außer in Pädagogistan, wo sie als eine Art „neue Unterrichtstechnik“ interpretiert wird.
Was meint „Kultur der Digitalität als Handlungsrahmen“?
Dazu lasse ich einen ausgewiesenen Experten sprechen:
Immer mehr Menschen sehen sich selber als jemanden, der/die sprechen kann, der/die in irgendeiner Weise berufen ist, eine Meinung zu haben und diese auch zu vertreten.
Zum anderen erfahren wir eine umfassende gesellschaftliche Liberalisierung, die es Gruppen, die bisher nicht ’sprechfähig‘ waren, erlaubt, mit ihren Wertesystemen, mit ihrem kulturellen Horizont an die (digitale) Öffentlichkeit zu treten und mitzugestalten.
Daraus folgt: Kulturelle Fragen stellen sich auf immer mehr Feldern, es gibt vermehrte Handlungsoptionen, mehr Möglichkeiten des Handelns, die miteinander konkurrieren und in irgendeiner Weise verhandelt werden müssen.
Diese Verhandlungen sind eingebettet in immer komplexere Technologien. Um überhaupt angesichts diese Menge an Kommunikation, die in diesen Verhandlungen produziert wird, handeln zu können, um nicht in kommunikationsreduzierende Organisationsformen gezwungen zu sein und sich durch strikte Hierarchien zu organisieren, um nicht an der inneren Komplexität zu zerbrechen, braucht es immer mehr komplexe Technologien – und also die Fähigkeit, sie entsprechend strategisch einsetzen zu können.
Zusammenfassend: Kultur als Aushandlung von Bedeutung wird heute von mehr Menschen auf mehr Feldern mit mehr Technologie als je zuvor gemacht.“
… aus einem Referat von Felix Stalder zum Thema „Kultur der Digitalität“
Zweiter Aspekt: Wir stecken also in einem Paradigmenwechsel, der alle (!) kulturellen Dimensionen neu definiert: Ökonomie, Arbeit, Wissenschaft und Forschung, das soziale Gewebe; womit wir Geld verdienen, wie wir arbeiten, kommunizieren, zusammenleben – das alles verändert sich gerade fundamental. Mit Lehr- und Bildungsplänen, Unterricht in Klassenzimmern, Jahrgangs-Kohorten und Fächerstrukturen lässt sich das weder erfassen noch begreifen noch gestalten. Auf diesem Hintergrund ist es fatal, dass ausgerechnet im Bildungssystem Vorstellungen von Digitalität üblich sind, die völlig an unserer Lebenswelt vorbeigehen. Stichwort: Digital Citizenship.
The Centre for Digital Citizenship investigates the social and political consequences of current developments in digital media technologies – smartphones, social media, algorithms, data, and beyond – and asks how these technologies shape individuals, citizens, collectives, and publics. While digital technologies offer progress in terms of political mobilization and public conversation, they also hold the potential to enhance old inequalities and divides, countering trust in society. The Centre for Digital Citizenship seeks interdisciplinary explanations to these complex digital developments and their societal effects.
Dritter Aspekt: Bildung bedeutet heute „Alphabetisierung 2.0“, sprich:
Eine eigene Position in der Ursuppe des Informations-Kosmos zu entwickeln, darin orientierungsfähig werden und kritisch
Entscheidungsfähig werden statt nur zwischen vorgegebenen Optionen zu wählen
Offen auf wenig planbare Situationen zuzugehen, statt „Malen nach Zahlen“
Szenarien für das Unvorhersehbare zu entwickeln, statt unter künstlichen Rahmenbedingungen intellektuell zu verhungern
In Prototypen zu denken und zu handeln, statt Perfektion anzustreben
In allen relevanten kulturellen Bereichen zu partizipieren, also von Anfang an aktiv mitzugestalten: teilnehmen und teilgeben zu können
Vierter Aspekt: Dazu brauchen wir eine mit allen anderen kulturellen Playern eng vernetzte („verwickelte“) Schule, mit der Menschen folgendes lernen:
Wissens- und Informationsmanagement im digitalen Kosmos
Kollaboration
Unsicherheitstoleranz
Risikoaffinität
Lösungsorientierung
Ownership
sich in neuen Arbeitsmärkten & Beschäftigungsverhältnissen aktiv & selbstbewusst zu bewegen
Die durch nichts zu zerstörende Überzeugung, dass der eigene Anteil an der Gestaltung von Gesellschaft und Kultur unverzichtbar wichtig ist und sinnvoll.
Die aktuell größte Gefahr für junge Menschen auf ihrem Entwicklungsweg ist die Überzeugung, dass irgendjemand andere*r als sie selber für das Besorgen, Beurteilen, Verknüpfen und Verwerten von Information zuständig sei. Hier liegt im Moment die größte uneingelöste Aufgabe von Bildung.
Fünfter Aspekt: Wir brauchen eine Schule, in der Menschen sich – nicht andere – lustvoll auf verrückte, unsichere und unvorhersehbare Zukünfte vorbereiten.
Sechster Aspekt: Das beginnt mit einer neuen Lehr-Lern-Kultur, die auf Kinder, Jugendliche, ihre Eltern und auf Lehrer*innen gleichermaßen anziehend wirkt.
We ask the big question first of what are the functional skills an adult needs … to operate successfully in society and not be taken advantage of by others. That is our baseline, and forms the core skills in each programme, from explorer to creator to changemaker.
Drei Schritte, ein Ziel: Was Schulen tun können, um an Digitalität anschlussfähig zu werden.
Haben wir uns tatsächlich damit abgefunden, dass Bildung und Digitalität nicht zusammenkommen? In der Phantasie der allermeisten Menschen bringt es digitale Technologie heute nicht viel weiter als bis zum Status eines methodisch-didaktischen Spielzeugs in weiterhin geschlossenen Settings. Wenig Bereitschaft zeigen Schule und Hochschule hingegen, sich zu den neuen Bedingungen kundig zu machen, unter denen sie ihre Arbeit zu machen haben. Dabei ließe sich Bildung auch unter Bedingungen der Digitalität durchaus gestalten.
Dann jedoch ist „Weiter so!“ die falsche Devise. Sascha Lobo hat jüngst mit seiner Eröffnungsrede auf der re:publica deutlich gemacht: Die aktuelle Pandemie zeigt, dass Deutschland auf dem letzten Loch pfeift, was seine Zukunftsfähigkeit betrifft. Das ist natürlich viel auf einmal, und löst eher Depression aus als es sie zu überwinden hilft.
Ich halte in diesen stürmischen Zeiten an meiner Überzeugung fest: Wandel ist gestaltbar. In jedem Moment. Das Gerede von den Bedingungen, die wir erst zu schaffen hätten, damitsich Menschen auf den Wandel einlassen können, ignoriert, dass es diese Bedingungen nicht geben wird, außer wir schaffen sie gemeinsam – und DAS ist dann der Wandel.
Wir sollten begreifen, dass „Sicherheit“ keine Voraussetzung für Veränderung ist. Sie entsteht erst in diesem Prozess. Wir erarbeiten sie uns, in diesem Prozess. Dass Menschen Sicherheit bräuchten, um überhaupt mit dem Lernen anfangen zu können, stimmt nicht. Lernen hebt erst in jenen Situationen an, in denen Sicherheit nicht gegeben ist oder verloren zu gehen droht.
Wir Menschen verändern uns und die Welt, wir lernen, damit wir dadurch Sicherheit gewinnen, nicht weil wir sie schon haben.
Das Fehlen oder (antizipierte) Abnehmen von Sicherheit ist der Auslöser von Lernen, mit dem Ziel, Resilienz zu entwickeln. Niemand verlässt freiwillig die eigene Komfortzone, egal mit welchen methodisch-didaktischen Tricks operiert wird. Der einzige Grund sie zu verlassen, ist, wenn ich aus ihr vertrieben werde. In allen anderen Fällen erweitere ich sie bloß – und das ist die allgegenwärtige Tendenz in unserem Bildungssystem: Zurück in die gute Schulstube.
Doch selbst unter solchen Bedingungen können wir mitgestalten.
Wenn eine Schule oder Hochschule oder ein Anbieter der beruflichen oder betrieblichen Aus- und Weiterbildung sich und sein Angebot angesichts einer „Kultur der Digitalität“ weiterentwickeln möchte, dann empfehle ich als Einstieg drei Aktivitäten. Die folgende Aufzählung ist dabei weder hierarchisch noch bedeutet sie eine zeitliche Abfolge. Jede kann den ersten Schritt bilden, eine Organisation kann die drei Schritte auch gleichzeitig machen (oder andere 🙂) – wie es passt.
Hier also mein Vorschlag für die ersten Schritte:
Sich informieren, was abgeht
Organisation und Mitarbeiter*innen informieren sich umfassend und entwerfen für sich, ihren Beruf, ihre Organisation und für ihr Angebot als Bildungseinrichtung ein Bild dessen, was „Kultur der Digitalität“ für sie konkret bedeutet: für den eigenen Handlungsraum. Anschließend fragen sie sich: Was ist für uns jetzt zu tun angesichts des Wissens, das wir uns erarbeitet haben? Erstes Ziel ist also:
Aufholen des teilweise erschreckend großen Rückstands nur schon hinsichtlich Information darüber, was „Kultur der Digitalität“ beinhaltet und bedeutet.
Den eigenen, digitalen Reifegrad ermitteln
Die Führung einer Schule, einer Hochschule oder einer privaten Anbieterin von Bildung fokussiert den digitalen Reifegrad ihrer Organisation und ihrer Mitarbeitenden in technischer, organisatorischer, kultureller und strategischer Hinsicht, um entsprechende Entwicklungsmaßnahmen ergreifen zu können. Hierfür gibt es bereits brauchbare „Lese- und Arbeitsinstrumente“.
Meine Zielgruppe verstehen
Ökonomisch formuliert geht es dabei um Marktfähigkeit – nicht von Menschen, sondern von Bildungsangeboten. Zwar halten öffentliche Bildungseinrichtungen hartnäckig daran fest, dass sie diesseits von Ökonomie agieren würden und Bildung nicht ökonomisiert werden dürfe. Aus dem Blick gerät bei diesem ideologischen Gerangel jedoch, dass es bei Bildung jederzeit auch darum geht, wie lernende Menschen anschlussfähig werden an Arbeitsmärkte , die sich im Rahmen der Digitalität völlig verändern – und damit verändern sich ja auch die Lebenswelten.
Dabei geht es nicht darum, dass Schule die Arbeitsmärkte mit Personal versorgt. Diese Verkürzung ist zynisch. Es geht um die Frage, welche Kompetenzen Menschen brauchen, damit sie in Zukunft (u. a.) ökonomische Realitäten aktiv mitgestalten können. Deshalb stellen wir uns als Bildungsorganisation analytische Fragen zu unseren Zielgruppen. Sie helfen uns dabei, uns entsprechend aufzustellen.
Was sind auf diesem Hintergrund die Herausforderungen unserer aktuellen oder zukünftigen Zielgruppen? Wie müssen die lernen? Was müssen die lernen, wissen, können?
Um das zu eruieren, muss ich nicht nur meine Zielgruppe und deren Bedarfe analysieren, sondern auch zukünftige Lebens- und Arbeitsbedingungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, weil sie sich bereits heute andeuten:
Wie werden Menschen, für die wir Bildung anbieten, in Zukunft arbeiten und wo?
Welche Optionen entwickeln sich hinsichtlich Arbeitsverhältnissen? Welche verschwinden?
In welchen Berufen werden Menschen in wenigen Jahren vor allem tätig sein? Wie sehen diese Berufe aus?
Welche Märkte und Branchen entstehen neu?
Wie verändert sich dabei das soziale Gefüge, wie das Verhältnis von Arbeits- und Privatleben, kurz:
Wie sehen die Lebens- und Arbeitswelten meiner Zielgruppen unter den Bedingungen der Digitalität aus?
Das Ziel: Die neuen Lebens- und Arbeitswelten lesen und verstehen lernen
Diese Phänomene muss ich als Bildungsanbieterin lesen und deuten können. In einem nächsten Schritt entwerfen wir dann Szenarien, wie sich die diagnostizierten Entwicklungen auf Bildungswirklichkeiten und Bildungswelten auswirken.
Aus solchen Analysen wird ersichtlich, was unsere Zielgruppen lernen und sich aneignen, was sie wissen und können, wenn sie uns in Anspruch nehmen.
Bei der Weiterentwicklung bzw. Neupositionierung von Bildungsorganisationen geht es also darum
wie in Zukunft Bildungs- und Lernprozesse überhaupt aussehen,
wie Menschen diese Prozesse organisieren: Prozesse, in denen sie lernen, was sie können und wissen müssen und wie sie es wissen und können müssen.
Was in diesen Prozessen die Funktionen und Aufgaben von Bildungsanbieterinnen sind – queer durch die Biografien von Menschen hindurch.
Eine neue Art von Informationsmanagement und Wissensarbeit nach dem Vorbild innovativer Learning-Communities („colearning spaces“) wäre ein idealer Approach, um Schule als konkreten, kritischen und effektiven Gestaltungsraum von Kultur und Gesellschaft zu initiieren, nicht als das Auf- und Abarbeiten von Informationsmyriaden zum Zwecke ihres Abprüfens und Benotens.
Beitragsbild: Noupload auf Pixabay
Allerorten kreischen die Sirenen: Es seien jetzt dringend Wissenslücken aufzufüllen bei Schüler*innen. Stoff muss nachgepaukt werden, zur Not in den Ferien: um aufzuholen. Der Alarmismus entlarvt ein Verständnis von Wissen, das im Bildungssystem nicht erst seit Corona sein Unwesen treibt – und lernende Menschen zur Verzweiflung.
Dabei steht Schule vor allem für eine bestimmte Art der Darreichung von Information. Wissen entsteht erst im praktischen Umgang damit. „Wissen“ ist angewandte Information. Wissen ist wissen, was zu tun ist, wenn etwas der Fall ist. Wissen ist das, was ich, am besten mit anderen zusammen, aus Informationen mache, um eine Herausforderung nach der anderen anzupacken.
Wissen ist Information im Kontext
Ein oder jedes Schulfach repräsentiert also, wenn es das tut, was Schule Wissens- und Stoffvermittlung nennt, nicht Wissen aus (s)einer Disziplin, sondern Informationen. Diese Informationen werden zwecks ihrer Darreichung an Schüler*innen didaktisch-methodisch aufbereitet: weichgekocht, in Häppchen geschnitten, repetitionsfähig portioniert, visualisiert, manchmal auch geschickt versteckt (Osterhasenpädagogik).
Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Wissen entsteht aus diesen Informationen dadurch, dass Menschen, denen diese Informationen dargereicht werden, in unserem Fall Schüler*innen und Studierende, Entscheidungen treffen, was sie mit diesen Informationen tun: wozu sie sie gebrauchen und einsetzen. Die „Metamorphose“ von Information zu Wissen findet statt, wenn Menschen eine Brauchbarkeit konstruieren in realen, lebensweltlichen Situationen: Was bringt mir die Information? Wobei nützt sie mir? In dieser notwendigen Konstruktionsleistung – notwendig, weil die Antworten auf Nützlichkeitsfragen in den dargereichten Informationen nicht enthalten sind – generiert ein Individuum Wissen.
Hier liegt also 1 Grund, warum es äusserst sinnvoll ist, zwischen Wissen und Informationen zu unterscheiden, also einen Unterschied zu bilden zwischen diesen beiden Phänomenen. Diese Unterscheidung erlaubt mir nämlich, den genuin kreativen, produktiven und konstruierenden Anteil des Menschen herauszustellen und sichtbar zu machen. Das ist übrigens auch ein wesentlicher Unterschied zwischen dem, was Maschinen mit Informationen tun (empfangen, speichern, vergleichen) und Menschen (Sinn entwerfen).
Wie komme ich zu einer guten Note?
In der Schule ist dieser Vorgang der Wissenskonstruktion jederzeit eingebettet in folgenden Kontext: Alles, was ich als Schüler*in mit den mir dargereichten Informationen anstelle und was nicht, endet in einer Note. Das gilt auch für meinen Umgang mit Informationen, die nicht als explizit prüfungsrelevant eingeführt werden, denn: je mehr Zeit ich mit denen verbringe, umso weniger Zeit bleibt mir zur Organisation jener Informationen, die prüfungsrelevant sind.
In der Schule ist jede Information prüfungsrelevant. Bis hin zu den Vorlieben der prüfenden und korrigierenden Person.
Die Grundfrage, die sich zu Beginn eines jeden Umgangs mit allen in der Schule dargereichten Informationen stellt, lautet also: Was muss ich mit diesen Informationen tun, damit die nächste Note eine ist, die mindestens mein „Bestehen“ nicht gefährdet? Völlig wurscht, in welcher (traditionellen oder innovativen) Form die Prüfung am Ende daherkommt und die Note zustande: Das ist das Ziel von „Informations- und Wissensmanagement“ in schulischen Kontexten.
Wenn ich weiß (!), wie ich mit den Informationen, die mir im Unterricht dargereicht werden, notenkonform umgehe, bestehe ich Prüfungen, die mir im Kontext dieser Informationen gestellt werden.
Diesen Prozess (aus der dargereichten Informationsfülle derart Wissen konstruieren, dass ich damit Prüfungen und langfristig die Schule bestehe) kann Schule nun auf vielfältige Art gestalten: frontal, gesprenkelt mit Gruppenarbeit, angelegt als Projektarbeit, eng geführt oder maximal selbstorganisiert, analog oder digital, synchron oder asynchron, mit „flipped classroom“, Tutorials – you name it.
Das wichtigste Wissen ist immer das Schulbewältigungswissen
Die konkrete Organisationsform der Informationsverarbeitung ändert, entgegen anderslautender Meinungen, nichts am Paradigma, denn unabhängig davon, wie Schule diese Prozesse methodisch-didaktisch organisiert, bleibt der Fokus für Schüler*innen jeweils derselbe: er ist gerichtet auf die Konstruktion von strategischem Wissen, wie sie dargereichte Informationen so organisieren, dass sie eine Prüfung bestehen, in der es darum geht, die dargereichten Information wiederzugeben.
Abiturprüfung im Mai 2020 in einer Sporthalle in Ravensburg Foto: Felix Kästle / picture alliance / dpa (Quelle)
So prüfen z.B. Prüfungen im Fach „Französisch“ die Fähigkeit und das Wissen, Prüfungen im Fach „Französisch“ zu absolvieren, sprich: Wie ich die im Französischunterricht dargereichten Informationen so einsetze, damit ich die damit verbundene Prüfung bei dieser (und nicht bei einer anderen) Lehrkraft bestehe: „What a person learns in a classroom is how to be a person in a classroom“ (Clark Aldrich). Das gilt für alle Fächer und für alle Formen des Prüfens, auf die die Auseinandersetzung mit „Stoff“ angelegt und ausgerichtet ist – unter der Voraussetzung, dass ich als Schüler*in diese Prüfung bestehen will, was ich womöglich muss.
Solange Schule prüft, bewertet und benotet, ist sie für Schüler*innen ein Ort der Prüfungsvorbereitung. Schulische Satelliten eingeschlossen, denn Schüler*innen „lernen“ ja auch zuhause oder sonst wo. Der Fokus, sprich das „erkenntnistheoretische Interesse“ Studierender wird immer darauf liegen, wie sie eine Prüfung bestehen, wobei gilt: Nach der Prüfung ist vor der Prüfung.
Den Zirkel erkennen und durchbrechen
Diesen Teufelskreis kann Schule aufbrechen, wenn sie versteht,
dass sie nicht Wissen vermittelt sondern Information darreicht, wie das auch Rezo, Böhmermann, Welke, von Wagner, Uthoff und Konsorten tun;
dass sie Wissen gar nicht vermitteln kann, weil Wissen in und aus einem individuellen bzw. gemeinschaftlichen Konstruktionsprozess derer hervorgeht, die dargereichte Information organisieren: in konkreten Situationen, in denen Menschen alleine oder gemeinsam Probleme lösen – mit Hilfe von Information, die sie sich idealerweise selbst beschaffen (statt sie von der Schule dargereicht zu bekommen), um sich in diesem Beschaffungsprozess Grundsätzliches über Wissens- und Informationsmanagement beizubringen, was Unterricht aufgrund seiner Parameter ja gar nicht leisten kann;
dass das an die schulischen Darreichungsformen von Information jederzeit geknüpfte Prüfungs- und Benotungsparadigma den erkenntnistheoretischen und -praktischen Rahmen schulischer Wissensarbeit bildet, und damit zum leitenden Paradigma schulischen Handelns von Lernenden (Schüler*innen) wird, die dadurch lernen, Wissensarbeit als defensive Strategie zu begreifen und einzusetzen, mit der sie Sanktionen abwehren.
Stattdessen kann sich Schule zu einem Raum der kreativen Wissenskonstruktion entwickeln, die sich der Lösung realer Menschheitsprobleme zuwendet, wenn sie sämtliche damit verbundenen Prozesse prüfungs-, bewertungs- und benotungsfrei macht und stattdessen lernenden Menschen anbietet, ihre eigenen Qualitätskriterien zu entwickeln, die nicht nach Parametern schulischer Bewertungsraster funktionieren, sondern z.B. nach Kriterien, die wir aus Forschung, Produktentwicklung, aus Scrum und Design Thinking kennen, oder auch aus den Beratungswissenschaften (z.B. „Creative Knowledge Feedback“ nach Radatz mit entsprechender Anpassung).
In diesen neuen Zugängen zur Konstruktion und Produktion von Wissen steckt sehr viel Potenzial für das Anpacken der Herausforderungen, in denen wir in unseren globalisierten Welt-Dörfern stehen: Klimawandel, Pandemien, soziale Ungleichheit, Kriege, Ernährungskollaps, Populismus, Diskriminierung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, von BIPoC, von Migrant*innen, Geflüchteten, armen Menschen, Working Poors, von Menschen mit Behinderung, von Sinti und Roma, Religionsgruppen, HIV-Positiven, chronisch Kranken, zunehmendem Rassismus, den Folgen von Heteronormativität, Heterosexismus, Misogynie, Bodyism, sprich von körperbezogener Diskriminierung.
Diese Themen würden dann nicht mehr als fächerspezifisch aufbereitete Informationen dargereicht, um mit ihrer Hilfe prüfungsrelevantes Wissen zu generieren, sondern um sie als reale Problemkonstellationen anzugehen.
Eine neue Art von Informationsmanagement und Wissensarbeit nach dem Vorbild innovativer Learning-Communities („colearning spaces“) wäre deshalb ein idealer Approach, um Schule als konkreten, kritischen und effektiven Gestaltungsraum von Kultur und Gesellschaft zu initiieren, nicht als das Auf- und Abarbeiten von Informationsmyriaden zum Zweck ihres Abprüfens und Benotens.
Auf diesem Hintergrund finde ich es sehr bedauerlich, dass im Kontext von Digitalität und Corona derzeit große Chancen verschenkt werden, wenn in den Bildungsdebatten mit voller Überzeugung gefordert wird, es müssten jetzt schulische Wissenslücken gefüllt und Stoff nachgeholt werden.
Auch kristallisiert sich heraus, dass digitale Technologien in großem Umfang zur Anwendung kommen sollen, um diesen Vermittlungs- und Darreichungszirkus von Stoff zu perfektionieren. Der Diskurs hat sich also offenbar dafür entschieden, eine weitere Variante zu kreieren von „Prüfungen im Fach Französisch prüfen die Fähigkeit und das Wissen, Prüfungen im Fach Französisch zu absolvieren.“
Damit bleibt wohl auch der Diskurs um „alternative Schule“ auf die Frage reduziert, wer am Ende das Rennen um die bessere Prüfungsvorbereitung macht: Der analoge, mehrheitlich synchrone Präsenzunterricht, gespickt mit digitalen Flöckchen und Gruppenarbeiten, oder das mehrheitlich asynchrone, digitale Darreichen von Information und das (via Learning Analytics?) organisierte Einüben ihrer korrekten Anwendung auf die nächste Prüfung.
Julia M Cameron on pexels
Und dass es „am Ende wohl eine gute Mischung aus beidem “ sein könnte, ist ebenfalls keine gute Nachricht für junge Menschen.
Sämtliche Diskussionen, die derzeit über „Schule der Zukunft“ geführt werden, reden über Varianten des Bestehenden. Sie beabsichtigen im besten Fall, einen unerträglichen Zustand erträglich zu machen – nicht ihn abzulösen. Was wir jedoch angesichts unserer Gegenwart brauchen, ist eine radikale Alternative, die sich von fünf tragenden Säulen traditioneller Schule endgültig verabschiedet hat – hier mein aktuelles Video dazu
Wir brauchen keine alternativen Unterrichtskonzepte mehr, also nicht „anderen Unterricht“, sondern Alternativen für Unterricht: Lernen in lebensweltlichen Formationen, Strukturen, Prozessen, die nicht mehr in der Architektur und im Paradigma des Unterrichts und des Unterrichtens gedacht, geplant, vorbereitet, durchgeführt und reflektiert werden. Wir lassen das Konzept Unterricht hinter uns. Ein gelingendes Beispiel dafür im Kontext von „Numeracy“ findest du hier.
Zweitens: Keine Prüfungen und keine Noten mehr
Lernende und sich (weiter-)bildende Menschen brauchen keine neuen und alternativen Formen des Prüfens, Bewertens und Benotens. Die sind erwiesenermaßen nutzlos für die, die bewertet und benotet werden. Deshalb geht es jetzt um Alternativen für das Konzept des Prüfens, des Bewertens und Benotens, mit deren Hilfe lernende Menschen auf sich und ihre Entwicklung achten können und diese Prozesse reflektieren. Vorschläge für Alternativen aus einer Community, die das erfolgreich praktiziert, findest du hier.
Drittens: Keine Fächer mehr
Lernende brauchen keine neuen oder anderen Fächer, um die sich verändernde Welt zu begreifen – auch keine fächerübergreifenden Fächer.
Die Aufteilung der Welt, und damit die von Lernprozessen in Fächer, entspricht nicht mehr den Möglichkeiten, den Anforderungen und den Herausforderungen, wie Menschen heute Welt entdecken und verstehen. Das Denken in Fächern führt in verkürzte Weltbilder und verhindert die Entwicklung eines profunden Blicks für Zusammenhänge, die es zu entdecken gilt, nicht herzustellen, wie Prof. Dr. Wanner beschreibt. Deshalb entwickeln wir keine alternativen Fächer, sondern Alternativen für „Lernen in Fächern“:
Imagine what education would be like if every learning experience began with individuals finding and understanding their purpose or why; if every student was given agency to decide what they wanted to learn, how they wanted to learn it, and were guided by professionals who could mentor and coach them to inspire success.
Wir brauchen keine anderen Zusammensetzungen von Klassen und Jahrgängen. Keine grösseren oder kleineren Klassen, keine homogenen oder buntere, besser gemischte Klassen. Wir brauchen Alternativen für das Denken und Organisieren von Lernen in Klassen und Jahrgängen, damit lernende Menschen Lernpartner*innen jenseits dieser Vorgaben finden, und so ihre Interessen und Potenziale zur Vorgabe ihres Lernens machen (jüngst wurde hier das niederländische „Agora-Konzept“ beschrieben, das eine echte Alternative darstellt).
Fünftens: Schluss mit synchroner Präsenz
Und wir verabschieden uns endlich und endgültig vom Konzept der Synchronizität und der synchronen Präsenz, sei sie digital oder physisch: Alle zur selben Zeit am selben Ort, denselben Stoff auf dieselbe Art. Nichts steht dem Lernen und seinen individuellen Entwicklungspfaden mächtiger im Weg als diese Praxis der Gleichschaltung. Eine Schule, die das seit vielen Jahren radikal alternativ gestaltet, wurde hier untersucht.
Dass wir tatsächlich auf dem Weg eines neuen Paradigma des Lernens sind, erkennen wir daran, dass vor allem dieses Relikt verschwunden ist. Stattdessen sind lernende Menschen ganz selbstverständlich in ihrem eigenen Tempo, in ihren eigenen Rhythmen und mit den Themen unterwegs, die ihnen ganz entsprechen.
Der erste Schritt: Schüler*innen übernehmen die Führung, die Organisation und das Gestalten ihres Lernens:
Mehr Videos von diesem großartigen Bildungsgipfel von Schüler*innen für Schüler*innen findest du hier.
Was hingegen möglich ist: über Bedeutungen verhandeln, die wir ins Wissensspiel einbringen. Für Besserwisser und Rechthaber ist das natürlich der pure Horror. Doch es könnte sich lohnen.
Titelbild: brotsalz.de
Wir können Wissen nicht teilen. Der Begriff und die Vorstellungen von „Teilen“ lassen sich nicht auf Wissen anwenden, da Wissen der Gegenständlichkeit entbehrt. Die ist eine Voraussetzung für das, was unsere Sprache mit „Teilen“ ausdrückt. Teilen kann ich dem Wortsinn nach mein Bett, eine Packung Gummibärchen, Vermögen, ein Auto – und der Wunsch, mit jemandem das Leben zu teilen, spricht bereits in metaphorischer Sprache. Geteilt wird da nichts.
Die Missverständnisse im zwischenmenschlichen Umgang mit Wissen, das in diesem Umgang übrigens pausenlos ausgehandelt wird und nicht geteilt, rühren nicht daher, dass Fehler beim Teilen von Wissen passieren würden („Besser aufpassen/erklären bitte!“), sondern dass wir annehmen, ich könnte „mein Wissen“, also etwas, das ich weiß, mit jemand anderem teilen. In welchen Portionen auch immer.
Bildquelle: vorwerk.de
Das ist die verwirrliche Grundannahme – gerade auch in jenen Fällen, in denen wir davon sprechen, dass uns jemand richtig oder falsch oder nur zum Teil verstanden habe, wenn er oder sie jenes Wissen, das wir zuvor mit ihm oder ihr geteilt zu haben annehmen, nicht in der Weise wiedergibt, wie wir es wiedergeben. Nicht einmal austauschen können wir unser Wissen – im Gegensatz zu Glühbirnen und Wärme. Also was geschieht da, wenn wir mit Wissen hantieren?
Bedeutungen aushandeln
Ab dem Moment, in dem ich das, was ich als „mein Wissen“ bezeichne oder definiere, in einer x-beliebigen medialen Form (ver-)äußere, habe ich keinerlei Zugriff darauf, was andere Menschen damit machen. Jede:r, der oder die auf irgendeinem Weg Kenntnis von meinem Wissen genommen hat, wird es in keinem Moment in exakt der Weise aufnehmen, verstehen oder wiedergeben (können), wie ich es „gemeint“ und „gewusst“ habe, als ich es geäußert habe. Das ist kein Defizit. Es ist eine Eigenschaft von Wissenskommunikation.
Was wir tun können: Einen Aushandlungsprozess über jene Bedeutungen lostreten, die jene, die in eine aktuelle Wissenskommunikation involviert sind, untereinander kommunizieren. Für professionelle Besserwisser:innen und Rechthaber:innen ist das natürlich der pure Horror. Doch es könnte sich lohnen. Wir würden dann zu für den Moment geteilten Bedeutungen gelangen – etwa über das Phänomen des Klimawandels oder über Inzidenzwerte im Kontext einer Virus-Pandemie. Das wäre schon richtig viel in einer Zeit, in der Wissenskommunikation so anspruchsvoll ist, wie selten zuvor.
Jedenfalls ist die Chance, in Prozessen des Aushandelns von Bedeutung gemeinsam Wissen „auf den Weg zu bringen“, dann gegeben, wenn wir uns darüber klar sind, dass Wissen nichts ist, das eine Person mit einer oder mit mehreren anderen teilen kann, nichts, das durch seine schiere Mitteilung so, wie ich es mitteile, bei irgendjemandem ankommt wie ein Gummibärchen.
Vielmehr bekommt Wissen in dem Moment, in dem ich es äußere, die Bedeutung und Wertigkeit, die jene ihm geben, die aus welchen Gründen auch immer davon Kenntnis erhalten. Der Rest ist Aushandeln.
Anders ist das womöglich mit dem, was wir als Information bezeichnen. Zwar entscheidet sich auch hier erst auf der Seite der Empfängerin, welche Bedeutung diese oder jene Information „tatsächlich“ hat. Ich antworte z.B. auf die Frage nach der Uhr- oder Ankunftszeit mit einer Information oder informiere ungefragt über etwas, das im Hier und Jetzt meiner Meinung nach für andere bedeutend ist („Das braucht ihr fürs Abitur!“). Wissen wird aus diesen Informationen jedoch erst dadurch, dass jemand ihnen eine Bedeutung gibt und diese Bedeutung mit anderen zusammen aushandelt. Deshalb teile ich auch nicht mein Wissen mit dir, wenn ich dir das Brotrezept meiner Großmutter rübereiche (erst recht nicht das Wissen meiner Oma), sondern stelle dir Informationen zur Verfügung.
Wissen kann ich nicht teilen. Ich kann es höchstens mit dir zusammen generieren – indem wir z.B. mal gemeinsam ein Brot backen oder zwei.
Meine Großmutter „wusste“ übrigens deshalb so wunderbares Brot zu backen, weil sie es konnte. Sie hatte da eine Kompetenz. Und Wissen ist keine Kompetenz.
Du möchtest mehr darüber wissen 😎? Dann empfehle ich dir wärmstens diese beiden Bücher:
Das links gezeigte Buch findest du hier, das rechts abgebildete hier.
Ein wunderbares Gespräch zum Thema mit den beiden Autoren findest du hier.
Kinder und Jugendliche brauchen jetzt Erwachsene, die in der Lage sind, die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in all ihrer Individualität und Vielfalt wahrzunehmen, anzuerkennen, wertzuschätzen und darauf einzugehen. Sie brauchen Erwachsene, die die Faktizität dieser Vielfalt zur Grundlage ihres Entscheidens und Handelns machen. Hier und jetzt.
Reden wir mal darüber, was Kinder und Jugendliche derzeit ganz besonders brauchen. Im Sinne einer situativen Dringlichkeit: Was brauchen sie im Hier und jetzt?
Ich würde diese brennende Frage vor allem auf das Jetzt der Kinder und Jugendlichen beziehen und nicht auf irgendeine Zukunft, von der wir gar nicht wissen, wie die sein wird und wie wir (uns und wen auch immer) konkret darauf vorbereiten sollen. Kümmern wir uns doch erst mal um die Gegenwart.
Was alle Kinder und Jugendlichen gemeinsam haben
Dann werden wir schnell feststellen, dass es die Kinder und Jugendlichen gar nicht gibt, und dass die Pandemie, die es sehr wohl gibt, uns gerade eines vor Augen führt: Kinder und Jugendliche sind ebenso wie ihre Situationen, ihre Kontexte, Familien und Bedürfnisse enorm vielfältig, unterschiedlich, heterogen. Das haben sie, das haben wir alle gemeinsam.
Deshalb: Bevor wir konkret darüber werden, was dieses oder jenes Kind und diese und jener Jugendliche jetzt braucht, realisieren wir zuerst, dass wir die Perspektive der Heterogenität und Vielfalt kindlicher Bedürfnisse und Situationen ein- und ernstnehmen – was wir jederzeit tun können. Wer oder was sollte uns davon abhalten?
Dann lautet eine erste Antwort auf die Frage, was Kinder und Jugendliche jetzt brauchen:
Sie brauchen Erwachsene, die in der Lage sind, die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in all ihrer Individualität und Vielfalt wahrzunehmen, anzuerkennen, wertzuschätzen und darauf einzugehen. Sie brauchen Erwachsene, die die Faktizität dieser Vielfalt zur Grundlage (bildungs-, familien-, finanz-, sozial-, kultur-)politischen Entscheidens und Handelns machen. Hier und jetzt.
Wir fangen dann also an, das einzelne Kind und die und den einzelne:n Jugendliche:n zu sehen. Das ist es, was Kinder und Jugendliche jetzt brauchen.
Die Stunde der Partizipation
Je nach Menschenbild, in dem ich unterwegs bin, kann ich diese präzisierte Frage danach, was Kinder und Jugendliche jetzt brauchen, so beantworten, dass ich Kinder und Jugendliche in das Finden und Formulieren dieser Antwort, sprich der Lösungen und dem Entwickeln und Umsetzen von Maßnahmen, aktiv mit einbeziehe.
Ich entscheide dann nicht einfach aus Sicht versorgender Systeme darüber, was Kinder und Jugendliche jetzt (zu) brauchen (haben). Ich gehe also nicht adultistisch (hier erklärt) vor. Ich beobachte sie auch nicht bloß mit der Erwachsenenbrille auf der Nase und ziehe daraus Schlussfolgerungen, was sie jetzt wohl brauchen könnten, sondern: ich lasse sie ganz selbstverständlich wesentliche und entscheidende Teilnehmer:innen und Teilgeber:innen dieser Suchprozesse sein, in denen es um Antworten auf die Frage geht, was sie aus ihrer Perspektive hier und jetzt ganz konkret brauchen. Ich nehme also die Pandemie zum Anlass, eine Kultur der Partizipation zu entwickeln.
Um das zu ermöglichen, nutze ich die Beziehungen der Kinder und Jugendlichen untereinander und die Beziehungen der Eltern dieser Kinder und Jugendlichen untereinander. Ich sorge dafür, dass, pandemiebedingt vor allem auf digitalen Wegen, Plattformen und Foren auf den Weg kommen, auf und in denen sich Gruppen und Teams finden, die gemeinsam artikulieren, was sie als diese ganz konkreten Kinder und Jugendlichen und ihre Eltern hier jetzt brauchen.
Wir als Erwachsene entwickeln in diesen Prozessen eine neue Aufmerksamkeit auf die Fähigkeit von Kindern und Jugendlichen, sich und ihre eigenen Bedürfnisse zu äußern und auf die anderer Kinder und Jugendlicher einzugehen, sie sichtbar zu machen und ihre Sichtbarkeit zu verstärken.
Wir erkennen dadurch nicht nur, was Kinder und Jugendliche hier und jetzt dringend brauchen, sondern auch, was sie beitragen können, um miteinander in dieser Situation einen Schritt weiterzukommen.
Schule als System ist zu Ende. Wir stehen an einem Punkt der Geschichte, wo das System Schule seine Funktionen als Stabilisator und Reproduzent von #Kultur verloren hat. Sie ist in jeder Hinsicht dysfunktional geworden. Schule reproduziert weder Gesellschaft noch Kultur, sondern nur noch sich selbst.
Titelfoto aus dem Video School @ Home – digitale Betreuungs- und Lerneinheit mit Herrn Böhmermann | ZDF Magazin Royale
Aktualisiert am 20.1.2022
Der Aktivist Rosa von Praunheim hat 1971 für das öffentliche Fernsehen in Deutschland einen Film produziert mit dem Titel: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“. Dieser Filmtitel bringt ein fundamentales Merkmal von Kultur zum Ausdruck: dass Normalität eine Frage des Kontextes ist, innerhalb dessen sie beansprucht wird; dass alles, was Kultur ist, auch anders interpretiert werden kann und hin und wieder sogar muss.
Normalität und das gesellschaftlich Normative sind also nicht vom Himmel gefallen. Sie sind kulturelle Konzepte. So ist das auch mit der Schule. Auch die ist ein Konzept, das einmal erfunden wurde. Aus Gründen. Heute ist sie eines der wenigen, das uns noch geblieben ist aus den letzten hundertfünfzig Jahren. Normativ hoch aufgeladen und sakrosankt wie einst die großen christlichen Kirchen, die ihre Funktion als moralische Flüstertüte des Kapitalismus verloren haben – so staatstragend sie einmal waren. Die meisten anderen Systeme (z.B. Politik oder Gesundheit) sind, was ihre Funktionsweise betrifft, ökonomisiert.
Derzeit scheint alle gesellschaftliche Hoffnung am Phänomen Schule zu hängen. Sie muss in jedem Fall und für alle verpflichtend „offen“ bleiben, damit Kinder nicht den Anschluss verlieren. Woran? An die Schule natürlich. An den Stoff, die nächste Prüfung, den Abschluss. Sie muss offen bleiben, damit Eltern zur Arbeit können oder ihre Kinder nicht quälen. Manchmal sogar, damit sie was zu essen haben. Medien verbreiten die Hiobsbotschaft: „Schulausfall kostet zukünftige Generationen bis zu 3,3 Billionen Euro“.
Schule erscheint als letztes Refugium eines von Bildungsexpert*innen gerne und häufig zitierten Humanismus, der bis heute für eher fragwürdige Ausformungen von Humanität steht, wie dieses Diagnose-Feuerwerk zu beschreiben weiß:
Diejenigen Merkmale, die in der Zeitum 1900 nur eine schmale Oberschicht kennzeichneten, charakterisieren heute grosse Bevölkerungsanteile Europas (und Deutschlands ganz besonders …): Mangel an Tatkraft, geringer Glaube an sich selbst, Reflexionsüberhang, Entscheidungsschwäche, Zukunftsangst, Orientierungsverlust, Vergnügungssucht, Überempfindlichkeit, Weichlichkeit bei latenter Grausamkeit, Narzissmus, Haltlosigkeit, Depressivität und Handlungslähmung, Identitätsschwäche, Rollenspiel, Egozentrik, Mangel an Gemeinsinn, Sexualisierung, Psychologisierung, Nervosität, Hypochondrie, Alkoholismus, Fress- und Magersucht, Historismus, Entpolitisierung und Ästhetizismus, Stilpluralismus, Manierismus, Zitatverliebtheit an Stelle von Eigenschöpfung, Schein statt Sein, Dezisionismus bei gleichzeitig schwacher, gelegentlich aber theatralisch auftrumpfender Willenskraft. (Hermann Kurzke: Elend, Glanz und Komik der Dekadenz, Tagesanzeiger 6.8.2005, S. 37).
Auf mich macht Schule den Eindruck einer ultimativen kulturellen Projektionsleinwand. Der alte Tanker mutiert zum „Rettungsboot für alle“. Das verleiht dem Schulsystem in den hitzigen und über weite Strecken vorhersehbaren Debatten über Bildung den Nimbus einer Institution, die eigentlich nicht zur Diskussion stehen darf. An Schule herumkritteln: klar. Sie Reformen unterziehen: bitteschön. Sie digitalisieren: wenn es sein muss. Aber sie selbst darf nicht zur Disposition stehen.
Schule ist vorbei
37 Sekunden Ausschnitt aus dem Trailer zum Film „School Circles“
Doch diese Situation ist eingetreten. Schule als System ist zu Ende. Ähnlich wie andere kulturelle Trägersysteme, die erfunden wurden, um über Jahrhunderte hinweg gesellschaftliche und ökonomische Stabilität zu garantieren, und die dann unter mehr oder weniger großem Lärm abgewickelt wurden. Wir stehen an einem Punkt der Geschichte, wo das System Schule seine Funktionen als Stabilisator und Reproduzent von Kultur verloren hat und in wirklich jeder Hinsicht dysfunktional geworden ist.
… und das sind nur die Digitaljobs
Schule garantiert nicht (mehr) „gesellschaftlichen Fortbestand“ und ermöglicht nicht mehr „kulturelle Teilhabe“, weil sie sich in ihren Strukturen und Prozessen auf eine Kultur und auf eine Gesellschaft bezieht, die nicht mehr existieren. Auch auf die fundamentalen ökonomischen Herausforderungen (Plattform- und Gig-Economy, neue Berufe und Berufsbilder) bereitet sie in keiner Weise vor, u.a. weil sie von den neuen ökonomischen Parametern völlig überfordert ist. Initiativen, die hier gesellschafliche Grundlagenarbeit leisten, werden weder unterstützt noch beforscht.
Ein Vater, der ein Unternehmen für Software-Entwicklung leitet, erzählt im Rahmen einer Studie, warum er das alternative Konzept von Schule für seine Kinder bevorzugt.
Dennoch halten sich ganz viele Akteure (Lehrende, Eltern, Bildungspolitiker:innen und auch Lernende) an der Idee fest, dass all die Probleme, die traditionelle Schule hat und hervorbringt, in den Griff zu bekommen seien. Sie sind nach wie vor davon überzeugt, dass wir das hinkriegen mit genügend Geld und so viel Reform, wie es halt (zum x-ten Mal) braucht. Lehrende hoffen auf andere Schüler und Eltern, Eltern und Lernende auf andere Lehrer, und natürlich: digitale Infrastruktur muss her. Doch da liegt ein fundamentaler Irrtum.
Wenn sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben sie einen scheiß digitalen Prozess.
Die aktuelle Pandemie wirkt wie ein Kontrastmittel. Wir beklagen zwar vor allem und zu Recht fehlende digitale Infrastruktur und Kompetenz. Tiefer liegt jedoch ein anderes Problem: Autoritäre Strukturen und Menschenbilder; ein großes Misstrauen gegenüber Schüler*innen und ihren nicht-schulischen Lebenswelten, dem eine uralte Inkompetenz-Vermutung zugrunde liegt, die mit Adultismus mittlerweile auf den Begriff gebracht ist. Partizipation bleibt ein Lippenbekenntnis. Die Machtstrukturen der Erwachsenen im Schulsystem dringen wie üblich voll durch.
Eine im Obrigkeitsdenken und im autoritären Menschenbild verwurzelte Überzeugung, dass der lernende Mensch nur lernt, wenn er/sie direkt und ununterbrochen didaktisch befeuert bzw. kontrolliert wird und vor allem: wenn er und sie sich lückenlos einpasst in das System: „Sozialisationsprozesse sind dann erfolgreich, wenn die Individuen am Ende genau das tun wollen, was das System benötigt, um sich zu reproduzieren.“ (Zygmunt Baumann, Leben in der Flüchtigen Moderne, S. 150) Ein Gegenentwurf hierzu wird in dieser Online-Publikation vorgestellt und reflektiert.
Sam Lardner und Christopher Pommerening von Learnlife über Unschooling
Nur ist es heute nicht mehr die Gesellschaft oder die Kultur, die sich mit Hilfe von Schule reproduziert. Schule reproduziert nur noch sich selbst.
Ein Beispiel: Der Einsatz flankierender Berufe wie z.B. Heil- und Sozialpädagogik und der Ruf nach ihnen nimmt stetig zu. Entsprechende Studiengänge & Stellen werden immer wichtiger. Vordergründig geht es dabei um die Unterstützung von Kindern mit Problemen. Tatsächlich geht es aber um eine Illusion von „Reibungslosigkeit“ nach dem Vorbild industrieller Produktionsabläufe: Wer sich nicht von sich aus in das Belehrungssystem einpassen kann, wird hineinunterstützt. Das Inklusionsversprechen ist angetrieben von einem ehrenwerten Anliegen. In der Praxis geht es allerdings um ganz andere Ziele, wie auch eine aktuelle Untersuchung bestätigt: „Eine Studie zeigt, dass es bei der Schulverteilung wohl nicht nur um den Bedarf der Jugendlichen geht.“ Maike Plath von ACT Berlin spricht metaphorisch von der Untertanenproduktionsmaschine, und auch Andreas Schleicher stellt fest, dass das industrielle Arbeitsmodell nach wie vor großen Einfluss auf die Schulkultur hat. Heilpädagogik, Logopädie, Schulsozialarbeit, Ritalin und Nachhilfe werden als Überlebensstrategien des Schulsystems eingesetzt.
Es geht um die Rettung einer anachronistischen Vorstellung von Normalität. Das System Schule bringt die vielschichtige Problematik mitsamt den Kindern, die „Probleme machen“, also womöglich erst hervor.
Darauf verweisen z.B. die Langzeitstudien von Remo Largo. Auch erleben mehr und mehr Kinder und ihre Eltern seit Jahren auf ganz nicht-wissenschaftliche Weise, dass Schule eher krank macht als klug, wie die Lerntherapeutin und Ex-Lehrerin Corinna Milinski exemplarisch beschreibt und auffängt.
Im Interview (März 2023) konstatiert die Bildungsforscherin Katharina Maag Merki, dass die Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems nur auf dem Blatt existiert, indem sie all jene Faktoren aufzählt, durch die Schule sich der Entfaltung individueller Bildungsbiografien in den Weg stellt.
Wir sind an einem Punkt angekommen, wo – wenn überhaupt – nurmehr die Kinder und Jugendlichen „unauffällig“ (!) bleiben, die ein gefestigtes soziales und am besten auch materiell gepolstertes Lebensumfeld haben, denn Nachhilfe wird, im Unterschied zu Ritalin & Co, nicht von der Krankenkasse bezahlt.
Wir nehmen nicht wirkmächtige Zusammenhänge in den Blick, sondern operieren an den Folgen herum. Wichtig ist, dass die Verantwortlichen in ihre Sessel zurückfallen können mit dem ruhigen Gewissen, dass sie nun wirklich alles mögliche getan haben, was Wirt- und Wählerschaft zuzumuten ist. Das Vorgehen ist auf perfide Weise hermetisch: Das Schulsystem erweckt den Eindruck, dass es „etwas für die Kinder tut“ und erwartet diesbezüglich vor allem Dankbarkeit und Zustimmung. Dass es selbst Mitverursacher und Verstärker eines Problems ist (z.B. in dem es „lernschwache Schüler“ hervorbringt), zu dessen Lösung es dann großzügig antritt (indem es dann lernschwache Schüler entsprechend beschult), diese erfahrungs- und reflexionsgesättigte Erkenntnis, die wird ausgeblendet. Aus Gründen.
Nicht das Kind ist krank, sondern die Schule, in der es steckt
In Deutschland braucht es sechs Generationen, um von einem niedrigen zu einem mittleren Einkommen zu gelangen. Grafik aus Minouche Shafik: Was wir einander schulden. Ein Gesellschaftsvertrag für das 21. Jahrhundert
Schule bringt aber nicht nur Probleme hervor, die sie dann zu lösen vorgibt. Vielmehr vermittelt sie unzähligen Kindern und Jugendlichen ja ein Selbstbild als problematische, zurückgebliebene, als nicht oder nur schwer integrierbare Menschen und (re-)produziert mit dem Benotungs- und Bewertungsunsinn den Leistungsdruck auf junge Menschen. Schule ist entweder selbst eine Quelle der Diskriminierung: „In der Hälfte aller gemeldeten Fälle von Diskriminierungen gegen SchülerInnen [an Berliner Schulen] (im Schuljahr 2019/20: 272) waren Lehrkräfte diejenigen, die diskriminierten. Das Gros waren Rassismen wegen Sprache, Herkunft oder Religion.“ (Quelle) – oder Schule reicht Diskrimierung durch bzw. verstärkt bestehende Formen.
Dabei ist völlig aus dem Blick geraten, dass wir Menschen niemals sind: lernschwach oder bildungsfern etwa. Wir verhalten uns: so oder anders. Auch und gerade Schüler:innen. Die Situation, in die Schule junge Menschen steckt, hat immer einen fundamentalen Anteil daran, wie sich diese Kinder und Jugendliche dazu verhalten. Selbst Probleme wie das Mobbing, das ja reflexartig an den Kindern und an ihrem kulturellen bzw. familiären Hintergrund festgemacht wird, an den Medien und den Eltern, gedeihen ja vor allem in bestimmten schulischen Kontexten.
Wer (Cyber-)Mobbing verstehen möchte, sollte nicht bloß auf die Menschen schauen, die es praktizieren, sondern auch auf die Schule als ein Kontext, in dem das passiert. Die Tatsache, dass sich Mobbing an innovativen und alternativen Schulen nicht durchsetzt (hier eine aktuelle Untersuchung einer Schule, an der Mobbing keine Chance hat), hat nicht damit zu tun, dass dort „halt spezielle Kinder sind“, die sich eine Schule quasi wie Rosinen herauspickt. Es hat damit zu tun, dass das Phänomen an solchen Schulen keine Chance hat, weil Kinder und Jugendliche, die auch dort aus jedem erdenklichen persönlichen Background kommen, eine andere Kultur des Lernens und der Gemeinschaft erfahren, und weil sie dort ganz anders lernen, mit Macht umzugehen.
Ganz zu schweigen davon, dass auch Kinder und Jugendliche, die einigermaßen unauffällig durchkommen (aka „erfolgreich“), sich in der Schule schon lange nicht mehr auf das vorbereiten, was die Gegenwart an Haltungen, Fähigkeiten und Einstellungen erfordert. Hier lautet die Begründung von Seiten der Schule immer wieder: „Wir können unsere Arbeit deshalb nur noch schwer machen, weil wir immer mehr problematische Kinder haben.“ Dass ein Kind ganz einfach überfordert ist, wenn es in einen Rahmen gespannt wird, der die Individualität von Lernen und Persönlichkeitsentwicklung systematisch ignoriert und unterdrückt, gerät nicht in den Fokus der Überlegung. Vielmehr ist genau dann zu hören, Kinder müssten als erstes lernen, sich ein- und anzupassen, sich unterzuordnen. Und wer das nicht kann, brauche halt Unterstützung – oder eine andere Schule.
Tatsächlich kann Schule als System die kulturelle Vielfalt und Heterogenität einfach nicht bewältigen, die sich in unseren Lebens- und Arbeitswelten heute abbildet. Dafür wurde sie nicht erfunden. Deshalb erfinden sich im Moment ja auch vielerorts ganz neue Konzepte von Lernen und Bildung.
Wir brauchen keine „andere Schule“ sondern eine Alternative
Ein neues Lern-Paradigma in 1 Minute. Mehr über Devin und seine Lerngeschichte findest du hier
Wir brauchen einen Zusammenschluss all jener Kräfte in unseren Gesellschaften, die Bildung und Lernen auf viele kulturelle Schultern nehmen; nicht verteilen sondern in Angriff nehmen, selber in die Hand nehmen; die die Anliegen von Bildung und Lernen gemeinsam und grundsätzlich neu praktizieren. Nicht nur vereinzelte Eltern und Elterngruppen, die ihre Kinder aus der Schule nehmen, weil es nicht mehr anders geht – wie es zunehmend in Ländern geschieht, die keine Schulpflicht kennen. Das kann nur ein Anfang sein. Ein wichtiger und wertvoller Anfang, weil er alarmiert. Aber es geht um viel mehr. Es geht darum, dass wir mit Kindern und Jugendlichen zusammen völlig andere Räume und Formen des Lernens entwickeln, bauen und umsetzen – und das passiert ja bereits, gegen den hartnäckigen Widerstand der staatlichen Bildungsmonopolist*innen.
Die traditionellen Institutionen zu adressieren oder auf sie zu warten, ist deshalb sinnlos, wie im Kontext der Pandemie gerade deutlich wird, denn die sind weder bereit noch fähig, sich auf innovative Initiativen einzulassen und von ihnen zu lernen. Die Safaris und Wallfahrten, die Bildungspolitiker*innen imme wieder zu innovativen Learning Communities unternehmen, enden so, wie die Ausflüge von Politikern und Unternehmern ins Silicon Valley: Sie kehren erschreckt und fasziniert in die eigene Welt zurück mit der Erkenntnis, „dass das so bei uns natürlich nicht funktionieren kann“ – aus Gründen.
Die Fragen, die wir uns jetzt zu stellen haben, sind: Was spricht dafür, im großen und ganzen so weiterzumachen wie bisher, mit all diesen Ausreden und Begründungsreflexen, weil wir das bestehende Schulsystem weiterhin für das beste aller möglichen halten, an dem wir hier und da rumschrauben und reformieren, digitale Tools importieren und eine Schulsoftware, die Frontalunterricht, Leistungsnachweise und Lehrermangel optimal digitalisiert? Und was spricht dafür, dass die traditionelle Schule zu Ende gegangen ist: konzeptionell, methodisch und in Bezug auf ihr Menschenbild? Erkennbar daran, dass sie die meisten jener Probleme, die sie hat, selber hervorbringt, indem sie pausenlos mehr desselben tut in einer Situation, in der ein radikaler Neuanfang die Lösung ist.
Die großen Institutionen, die dem Umfang nach immer noch das ganze Bühnenbild und den Szenenaufbau dessen beherrschen, was wir unsere Gesellschaft zu nennen fortfahren, obwohl sie mehr und mehr in einer Inszenierung aufgeht, die mit jedem Tag an Plausibilität verliert, nachdem sie sich sogar der Mühe enthoben glaubt, das aufgeführte Schauspiel zu erneuern, und ein ganzes gescheites Volk durch ihre Mediokrität hinabzieht – die großen Institutionen also gleichen jenen Sternen, deren Licht uns erreicht, während sie, wie die Astrophysik uns lehrt, seit langem schon erloschen sind.
Michel Serres, Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, S. 62 – ein unglaublich kluges und analytisches Buch.
Das neue Lernen ist in den Nischen
“Wir geben uns unser Lernen zurück.” Gründung des Vereins Colearning.org im Effinger in Bern im April 2023.
Aufgrund meiner Beobachtungen, Beratungen, Expeditionen, Gespräche und Recherchen vermute ich, dass vor allem jene Initiativen stark an gesellschaftlichem Einfluss zunehmen, die nicht innerhalb des bestehenden Schulsystems innovativ werden, sondern im freiem Feld: initiiert von Menschen, die verstanden haben, was es braucht; die das Geld und auch die Aufmerksamkeit zusammenkratzen, um ihre wertvollen Konzepte weiterzuentwickeln und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das ist im Moment noch mit hohen Risiken verbunden – vor allem im alten Europa, wo Staaten wie Deutschland ihre Bürger*innen mit einer rigorosen Schulpflicht drangsalieren und ausschließlich traditionelle Systeme alimentieren – sei es mit Geld, sei es mit Gültigkeit. Fatal ist, dass wir alle im Moment noch am staatlichen Bildungsmonopolismus hängen, der jedoch zum Glück nicht verhindern kann, dass sich in Nischen wunderbare Initiativen entwickeln und verbreiten – und damit meine ich nicht jene Privatschulen nach Schweizer Vorbild, die jährlich Zigtausende von Euro dafür kassieren, um junge Leute durchs Abitur zu bringen, die also am Ende doch wieder im Takt des traditionellen Systems tanzen.
Ich denke an jene Initiativen, die ums finanzielle Überleben kämpfen, gerade weil sie mit einem völlig anderen Konzept arbeiten als staatliche Schule. An dieser Stelle seien einige genannt, in denen ich die Zukunft des Lernens sehe: Das mittlerweile über 50-jährige Konzept der Sudbury Valley School in seiner ganzen Radikalität, aufgegriffen und weiterentwickelt in den Demokratischen Schulen, die School Circles in den Niederlanden bzw. ganz aktuell dort die Agora-Schulen, die Villa Monte, das Lernhaus SOLE oder Die Wirkstadt-Schule in der Schweiz, und die Learnlife-Comunity.
Das neue Lernen, das wir so dringend brauchen, wird sich weder im alten Schulsystem entfalten, noch aus ihm heraus. Vergleichbar mit vielen Entwicklungen, die wir momentan im Kontext der Digitalisierung erleben, und die sich allesamt an anderen Orten auf dieser Welt abspielen.
Wenn du an einer Entschulung des Lernens mitdenken und mitgestalten möchtest, dann findest du hier Inspiration, Impulse und eine Möglichkeit zum Mitmachen:
Das alte Europa, und darin ganz besonders Deutschland, ist kraft- und mutlos geworden. Zelebriert wird das Alte, wird die Wiederholung. Der patriarchale Traditionalismus mit seinen Symbolen und Artefakten, mit seinen Hierarchien und Seilschaften durchwirkt noch immer alles, damit das radikal Neue nicht Fuss fassen kann: nachhaltige Formen des Wirtschaftens und des Zusammenlebens, ökologische Neuanfänge auf breiter Ebene, Überwindung nationalistischer Narrative, Erfindung neuer Erzählungen über lebenswertes Leben, eine Ahnung davon, wie unsere Zukunft aussehen könnte, statt des ritualhaften Abhakens all jener Vorschläge, die nicht genehm sind. Aus Gründen. Überall Vermeidungsängste statt Zukunftshoffnungen. Und dazwischen das gute alte „panem et circenses“ (Brot und Spiele) im neuen Gewand.
Der erste Schritt, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist ein Unterbrechen der Versorgung unseres Schulsystems mit „menschlichem Nachschub“. Entweder wir gehen dieses Risiko ein und praktizieren Bildung und Lernen jetzt neu – die Alternativen sind ja weltweit bereits vorhanden, oder wir gehen vor die Hunde. Ob wir das wahrhaben wollen oder nicht.
Die Herausforderung, die es für die nächsten Generationen bedeutet, aus dem heruntergewirtschafteten Ort, den wir ihnen hinterlassen, wieder einen Lebensraum zu machen, sind riesig – nicht nur ökologisch, sondern auch was das Zusammenleben angeht. Und es ist unsere Aufgabe, jungen Menschen erstens alles aus dem Weg zu räumen, was es ihnen erschwert, diese Zukunft zu gestalten und ihnen zweitens alle Unterstützung zu geben, die sie fordern, um das zu leisten.
Ein erster Schritt in diese Richtung ist der, Kinder und Jugendliche gleichwürdig und auf Augenhöhe als Gesprächspartner*innen zu erkennen und wertzuschätzen, nicht nur, aber vor allem dann, wenn es um Bildung und Lernen geht. Dann kommen zum Beispiel solche Initiativen zu Stande:
Mehr zu diesem Bildungsgipfel erfährst du in den Videos hier. (Quelle Artikel: Suttgarter Zeitung)
Mein Vetter Bengt Krezdorn ist Familien- und Ehemann, Vater von drei Söhnen, gelernter Kunstschmid, Imker und Naturfotograf und ernährt zusammen mit seiner Frau die Familie. Auch heuer, in dieser aufwühlenden Zeit, hat er auf Facebook seine Jahresendgedanken publiziert und ich freue mich, sie hier in meinem Blog dokumentieren zu dürfen.
Text & Fotos: Bengt Krezdorn
„Die Frage wird sein, wie gehen wir mit den Folgen von Corona um. Und nicht, wann das Ganze zu Ende ist, nicht, wann wir wieder zurückkehren zu 2019. Wir werden nicht zurückkehren – das ist klar, oder?“
Claudia Brözel, Professorin für Tourismuswirtschaft im SPIEGEL
Ein merkwürdiges Jahr geht zu Ende. Für uns alle hat sich einiges verändert, fast nie zum Guten oder sagen wir Besseren. Vielleicht steht der eine oder andere vor den Trümmern seiner Existenz, vor den Scherben seines Lebenstraums. Die allgegenwärtige Corona-Krise trägt dazu bei, bereits vorhandene Probleme und Konflikte zu verschärfen. Ich denke dabei ganz aktuell an den Brexit und die Probleme innerhalb der Europäischen Union oder im Gesundheitswesen. Vor diesem Hintergrund möchte ich euch meine subjektive Sicht auf dieses besondere Jahr schildern.
Viele von euch kennen mich als Pessimisten, als eingefleischten Schwarzseher. Vielleicht ist daher mancher etwas überrascht von einigen meiner Gedankengänge. Ich habe das Geschehen um die Pandemie von Anfang an vor allem als eine Chance wahrgenommen. Frank-Walter Steinmeier sagte in einer Rede zu Beginn des ersten Lockdowns im Frühjahr, dass die Welt eine andere sein werde, wenn das vorüber sei. Das war damals auch mein erster Gedanke und ich dachte noch: da kann was draus werden, wenn wir uns nicht wieder zu dämlich anstellen. Dann wäre dieses Opfer vielleicht nicht umsonst.Ich weiß schon: makaber! Denken jetzt sicher einige. Schließlich ist das die größte Katastrophe seit Menschengedenken, vergleichbar bloß mit den Weltkriegen oder der spanischen Grippe 1918-1920. Ja, tatsächlich! Wir alle haben Vergleichbares nicht erlebt.
Pflöcke im Treibsand
Und das ist auch schon mein erster Punkt. Je älter man wird, desto weniger erste Male kommen einem unter. Irgendwann hört es gefühlt ganz auf. Für mich war dieses Jahr voller erster Male. Das erste Mal Homeoffice, das erste Mal versuchen, drei Kinder daheim zu beschulen, ihnen Teilhabe am online-Unterricht zu ermöglichen. Zum ersten Mal face-time mit meinem Vater, zwei Stunden bevor er gestorben ist. Ich konnte ihn ja nicht mehr besuchen in Kanada. Die erste Weihnachtsfeier per Teams. Zum ersten Mal mit dem Rad zur Arbeit. Und dann immer wieder, den ganzen Sommer lang bis in den Oktober hinein. Zum ersten Mal mit Maske einkaufen gehen und dabei versuchen, den Mindestabstand einzuhalten. Zum ersten Mal in meinem Leben Ausgangssperre. Daheim sein müssen um acht Uhr.
Wenn man etwas zum ersten Mal macht, begegnet einem etwas Neues. Man macht Erfahrungen, die einem bisher unbekannt waren. Man lernt. Klar, das ist für Manchen ganz schön hart. Vieles von dem, was einem in dieser Krise zum ersten Mal begegnet, ist nicht dazu angetan, das Gemüt zu erheitern. Wenn man den Laden jetzt zum zweiten Mal wieder zuschließen muss für weiß der Himmel wie lang, oder wenn man nicht mehr auftreten darf. In der Messe- und Veranstaltungsbranche, im Tourismus ist die Luft grad sehr dünn, da gibt es wenig Spielräume. Das ist mir durchaus bewusst. Denen, die gar nicht über die Runden kommen können, hat der Staat ja Hilfen versprochen, aber weil der Staat halt so ist wie er ist, lässt er sich damit ziemlich viel Zeit. Der Einzelhandel und auch die Gastonomie hatten größtenteils schon im ersten Lockdown Mittel und Wege gefunden, ihre Kunden dennoch zu beliefern. Unser Buchhändler vor Ort hat seine Mitarbeiter die Bestellungen einfach ausfahren lassen und viele andere Geschäfte machen es inzwischen genauso. Fast alle Gaststätten bieten Take-out oder Lieferservice für ihre Gerichte an.
Wir lernen. Wir passen uns an
Das war schon immer so. Das ist unsere Natur, deshalb waren wir auch in den letzten 50.000 Jahren so grausam erfolgreich. In der ZEIT vom 23.12.2020 stand ein kurzer Bericht über einen jungen Schiffbauingenieur. Titel: „Ich sehe mich als Corona-Gewinner“ Was? Ja, der junge Mann war im April mit dem Studium fertig. Aus der zugesagten Stelle wurde nichts. Er musste sich umorientieren und ist auf die private Seenotrettung gekommen. Was als Notnagel begonnen hat, erwies sich als Berufung und inzwischen hat er dort eine Arbeit, die ihn sogar ernährt.
Es bleibt uns momentan wenig übrig, als uns – unser Verhältnis zur Welt – neu zu denken. Ganze Branchen werden möglicherweise verschwinden. Vielleicht müssen sie das auch. Schließlich war auch vor Corona schon klar, dass wir so nicht mehr weitermachen können. Wir fahren den kompletten Planeten auf Verschleiß ,und das wissen wir alle sehr genau, nur hat es unsere Entscheidungen bisher so gut wie nicht beeinflusst. Dank Corona stehen wir aber auf einmal – notgedrungen – auf der Bremse. Wenn die Tourismusindustrie jetzt kaum noch eine Rolle spielt, dann ist das gut für uns alle, denn es schont eine Menge Ressourcen, die wir ohnehin eigentlich gar nicht mehr zur Verfügung haben.
Bullshit-Jobs vs. Grundeinkommen
Ja, ich weiß: die vielen Menschen, die ihre Jobs verlieren. Riesenproblem! Wirklich? Ich bin mir da nicht so sicher, denn ernährt, gekleidet, behaust und gebildet haben wir diese vielen Leute auch vorher schon. Ein bisschen pervers finde ich, dass das direkt an den individuellen Beitrag zum Bruttosozialprodukt gekoppelt zu sein hat. Zumal auch das oft eine Fantasiegröße ist. David Graeber, auch einer von denen, die dieses merkwürdige Jahr so einfach hinweggefegt hat, hat den Begriff der sogenannten Bullshit-Jobs geprägt, also von Arbeit, die eigentlich nichts Sinnvolles hervorbringt, die bloß als Ausrede dafür dient, dem „Arbeitnehmer“ das Geld zu überweisen, dass er zum Leben braucht. Graebers Vorschlag zur Lösung des Problems war, die Bullshit-Jobber freizustellen und ihnen ein bedingungsloses Grundeinkommen zu zahlen.
Eine Überlegung, die mir dabei gerade durch den Kopf geht: das wäre wahrscheinlich auch gut für die Umwelt: Das Pendeln würde wegfallen. Das Heizen und Beleuchten vieler Büros könnte man sich sparen, ebenso die Serverleistung, die der Mitarbeiter belegt hätte. Die Firmen würden immense Personalkosten sparen, weit über die Gehälter hinaus. Eigentlich hätten wir alle was davon.
Zurück zum Tourismus. Momentan kann man fast nirgends hin. Für die Umwelt ist das ein Riesengewinn. Schließlich ist allein der Flugverkehr zeitweise um über 70% eingebrochen. Für manche Weltgegenden ist das aber dramatisch. Wer von den Urlaubern lebt, die Devisen bringen, schaut in die Röhre. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist die Lage oft sehr bescheiden. Da gibt es auch keine Patentlösung, die sich ad hoc anwenden ließe. Es bräuchte weltweite Solidarität, um andere Möglichkeiten des Auskommens in den Urlaubsgebieten zu schaffen.
Klatschen oder Solidarität?
Und plötzlich bewege ich mich im Konjunktiv und das verdirbt sehr schnell die Laune, denn der Konjunktiv deutet darauf hin, dass die angedachte Lösung wohl nicht funktioniert. Solidarität ist momentan schon innerhalb Europas ein vom Aussterben bedrohtes Konzept, mindestens ein stark gefährdetes. Das geht schon bei der Solidarität mit dem Pflegepersonal los. Mehr als Klatschen vom Balkon ist uns dazu nicht eingefallen. Das ist verdammt mager. Andererseits können wir auch nicht viel mehr tun. Den Rahmen für eine faire Bezahlung unserer Pflegekräfte muss die Politik setzen und darum drückt sie sich seit Jahrzehnten recht erfolgreich. Vielleicht wäre jetzt Zeit für eine Mail an den Bundestagsabgeordneten? Ein bisschen was geht schließlich immer. Viele von uns versuchen ja auch in dem Mass, wie es ihnen möglich ist, andere zu unterstützen, lokal einzukaufen, die Lieferdienste der Gaststätten zu nutzen und vielleicht auch Gutscheine zu erwerben für Dienstleistungen für die Zeit nach dem Lockdown. Microkredite sozusagen. Alles das hilft ein wenig und ich hoffe auch, dass es in unseren Köpfen etwas verändert und unseren Blick schärft für die Dinge die zählen.
Es gibt verdammt viel zu tun für uns und diese Krise hat uns klar gezeigt, wo die Baustellen sind. Wir müssen jetzt anfangen diese Baustellen abzuschließen. Die Krise bietet uns eine einmalige Chance dazu. Wofür ich dieses Jahr dankbar bin, das sind die vielen ersten Male, diese Momente der Erkenntnis und des Lernens, von denen es in diesem außerordentlichen Jahr wirklich eine Menge gegeben hat. Mir hat das gezeigt, wie flexibel und anpassungsfähig wir sein können, wenn wir wach sind und uns auch weiterentwickeln wollen. Ich hatte alles in allem ein tatsächlich für mich persönlich erfülltes und in vielen einzelnen Momenten auch schönes Jahr voller neuer Erkenntnisse über mich selbst und uns als Gemeinschaft.
Es ist schön mit euch, Leute! Macht‘s gut, wir sehen uns nächstes Jahr!
Alle müssen zur Schule. Nur so sei Bildungsgerechtigkeit gewährleistet. Nur so würden junge Menschen auf eine erfolgreiche Zukunft vorbereitet – so tönt es aus den Kanälen der Bildungspolitik. Doch das Abregnen von Stoff führt nicht zu Gerechtigkeit – und vermittelt wird durch die Hintertür etwas anderes.
Nicht erst seit wir in einer Pandemie stecken, wird allerorten die Bedeutung von Schule als Ort zuverlässiger Wissensvermittlung betont. Endlich geht es wieder um Inhalte! Doch die sind in jeder Hinsicht zweitrangig. Der Unterrichtsstoff ist vielmehr ein Transportmittel. Mit seiner Hilfe vollzieht Schule ihren eigentlichen Auftrag, der nicht in der Wissensvermittlung liegt, sondern in der Reproduktion von Kultur. Der Stoff ist eine Lokomotive.
In neun Schuljahren lernten die Kinder Lesen zum Entziffern der Werbeanzeigen. Schreiben, zum Bestellen von Waren, Rechnen zum Kalkulieren der Ratenzahlungen. Lesen, Schreiben, Rechnen. Für andere Dinge war keine Zeit.
Bereits dort, wo Schule einigermaßen „funktioniert“, reproduziert sie eine Kultur. Das ist ihr Job. Nicht Wissen, sondern die Kultur, deren Schule sie ist: Hierarchien, Menschenbilder, Werte und Normen, Verhaltenskodices, Überzeugungen von Gesellschaft und Zusammenleben, Sinn und Lebensziele, ästhetische Urteile, Vorstellungen von Geschlecht und Beziehung. Was und wie ein Mensch sei und wie nicht, wie er und sie lebt, was richtig und falsch ist, gut und böse.
Problematisch wird dieses Reproduzieren dann, wenn Schule den Kontakt zu der sie umgebenden Kultur mehr und mehr aus den Augen verliert. Dann, und an diesem Punkt stehen wir heute, rekurriert Schule auf eine Kultur, die entweder schon der Vergangenheit angehört, oder auf eine, die wir dringend hinter uns lassen müssen um Platz zu machen für neue Formen von Kultur, die über unsere Zukunft mitentscheiden: Inklusion statt Selektion, Soldiarität statt Wettbewerb, Kollaboration statt Konkurrenz, Zirkularität statt Wachstum u.v.m.
Lesen, Schreiben, Rechnen: ein geschicktes Ablenkungsmanöver
„Sozialisationsprozesse sind dann erfolgreich, wenn die Individuen am Ende genau das tun wollen, was das System benötigt, um sich zu reproduzieren.“
Zygmunt Baumann, Leben in der Flüchtigen Moderne, S. 150
Schule reproduziert also nicht Kulturtechnik, sondern Kultur, die sie mit Hilfe von Kulturtechnik reproduziert: Kinder müssen „in die Schule“, weil nur so ihre Eltern das tun können, worauf Schule zuvor sie vorbereitet hat. Und nur wenn Kinder zur Schule gehen, kann Schule sie auf das vorbereiten, worauf sie bereits deren Eltern vorbereitet hat – und das ist nicht Lesen, Schreiben, Rechnen, sondern die Internalisierung einer Kultur.
Der Fokus auf Stoff und Wissen, der Ruf nach Bildungsgerechtigkeit durch Präsenzunterricht, also: alle denselben Stoff zur selben Zeit am selben Ort in der selben Form, im selben Tempo – das ist bloß ein Ablenkungsmanöver. Kultur lässt sich einfach leichter reproduzieren, solange alle daran glauben, es würde um Wissen, Stoff und Kulturtechnik gehen.
Auf dem Weg zum Erfolg: Informationen von A nach B tragen. Aus einem Werbevideo eines privaten Gymnasiums (Quelle: youtube. Release: 19.11.2020)
Ein Beispiel
Ich kann Unterrichtsstoff wie „Menschenrechte“ oder „Menschenwürde“ so durchnehmen (aka „unterrichten“), dass ich dadurch gegen beide verstosse, indem ich z.B. Unterricht misogyn, rassistisch, homophob, autoritär organisiere – also durch die Art, wie ich Unterricht strukturiere, und wie ich ihn durchführe – also durch die Art(en) der Interaktion. Was ich dabei reproduziere, ist eine Kultur, sind Menschenbilder:
„Wer nämlich mit ‚h‘ schreibt, ist dämlich.“
Umgekehrt: Wenn mir wichtig ist, dass wir Menschenrecht und Menschenwürde verwirklichen, brauchen wir dafür keine Schule und keinen Unterricht, sondern eine bestimmte Art des sozialen Miteinanders, das wir überall gestalten können – selbstverständlich auch in einem Schulgebäude.
Und es ist auch keine Kleinigkeit, dass dort, wo Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen sollen, sie dies unter besonderer Berücksichtigung ihrer Rechte tun können und ihrer Bedürfnisse und ihrer Persönlichkeit. Wenig schadet einem Kind mehr, als wenn es in der Entwicklung grundlegender Kompetenzen unter Zeit- und Erfolgsdruck gesetzt wird, denn beim Lernen gibt es keine Gleichzeitigkeit. Lernen ist seinem Wesen nach „ungleichzeitig“ – auch in einem Schulgebäude.
Diese Tatsache ignoriert traditionelle Schulkultur auf der ganzen Linie.
Immer wieder höre und lese ich, dass alles Wissen dieser Welt heute jederzeit und überall bei Fuß steht, und Schule sich deshalb fragen lassen muss, wozu es sie dann eigentlich noch braucht. Die Antwort auf diese Frage finden wir aber nicht über den Stoff, den sie ankarrt, nicht über Formeln, Texte und Landkarten, sondern über die Kultur, in der sie es tut. Die bestimmt darüber, was Menschen in der Schule tatsächlich lernen während sie lernen.
Was ich in der Schule lerne
Wer vorne steht, hat das Sagen – egal, was er oder sie sagt.
Autoritäre Autoritäten bestimmen über meinen Alltag: wie ich ihn gestalte, wo ich mich wann aufhalte, was ich wann mache und nicht, mit wem und was ich mich beschäftige und nicht, wofür ich Zeit einsetze, die niemals meine ist, weil andere sie mir zuteilen und sie portionieren, sie mir geben und nehmen.
Individuelle Bedürfnisse sind mindestens zweitrangig. Es ist besser, sich nicht so intensiv mit ihnen zu beschäftigen bzw. sie gar zu einem Bestandteil meines Lernens und meiner Bildungsprozesse zu machen.
Martin Walser (1982), Heimatlob, S. 34, 37. Insel Verlag.
Die Bewertung durch andere ist jederzeit Ausgangs- und Zielpunkt meiner Selbsteinschätzung. Im Zweifelsfall gilt, wie andere mich einschätzen.
Es entscheiden immer andere über richtig und falsch. Ich lerne, diese Perspektive zu übernehmen. Ich lerne nicht zu entscheiden, was richtig und was falsch ist. Ich lerne, dass andere darüber entscheiden. Das lerne ich als richtig. Ich verinnerliche das.
Andere entscheiden über mich.
Protest führt zu Sanktion und Verlust von Chancen.
Ich habe keinen Einfluss auf die äußeren Bedingungen meines Lernens. Auch nicht auf die Gestaltung der Rahmenbedingungen. Sie sind immer von anderen gesetzt.
Wer es mit Autoritäten gut kann, wird Erfolg haben.
Es geht in der Schule darum, eine Kultur zu reproduzieren. Eine Kultur der Kontrolle. Eine Kultur der Reiblungslosigkeit. Eine Kultur des sich Ein- und Unterordnens. Eine Kultur der Milieus und der Schichten, des Oben und des Unten. Eine Kultur, in der im Wesentlichen immer andere über dein Leben, dessen Spielräume und seine Gestaltung entscheiden. Eine Kultur, deren Basis die Selektion bildet.
Darauf bereitet Schule vor, indem sie es tut. Unerbittlich:
Schule braucht den direkten, umfassenden, physischen Zugriff auf Kinder und Jugendliche. Nur so kann sie ihren Reproduktionsauftrag erfüllen. Je weniger Zugriff sie auf die Lernenden hat, je weniger die ihrer Kontrolle unterstehen, je freier und diverser die ihr Lernen gestalten, zusammen mit unzähligen Akteuren der Zivilgesellschaft, umso mehr schrumpfen die Möglichkeiten zur Kontrolle, umso schwieriger wird es für Schule „zu reproduzieren“. Darum geht’s bei Präsenzunterricht.
Zwar wird gerade in Zeiten einer Pandemie gerne folgendes Argument aus dem Ärmel gezogen:
Doch aus diesen real existierenden Problemen und Benachteiligungen müsste folgen
niederschwellig qualifizierte Betreuung anzubieten für alle Menschen, die das brauchen,
die eklatante soziale Benachteiligung in unserer Gesellschaft abzubauen (die ein kulturelles Phänomen ist)
und den Arbeitsmarkt sozial verträglich zu gestalten,
statt ein völlig überfordertes und in mancher Hinsicht dysfunktionales Schulsystem zum Sozial-Lazarett zu stilisieren. Präsenzunterricht gehört in all seinen re-reformierten Ablegern in eine andere Zeit. Weder ist es heute aus organisatorischen Gründen nötig, Kinder und Jugendliche zu Bildungszwecken nach Jahrgängen getrennt in Schulzimmer zu pferchen, um allen auf dieselbe Weise Stoff zu vermitteln, noch entsprechen die anderen traditionellen Säulen von Schule (z.B. Fächerstrukturen, Benotungssysteme) den Bedarfen und Bedürfnissen lernender Menschen, noch befähigen sich junge Leute in solchen Settings auf ein Leben und Arbeiten in einer Kultur der Digitalität.