Von der Lehrperson zur Bildungsarbeiterin: Ein neuer Beruf

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Wenn es um die Aus- und Weiterbildung lehrender Berufe geht, steht im Zentrum, was Schüler*innen, Auszubildende und Studierende wissen & können sollten – und was dementsprechend Lehrende wissen & können sollten, damit sie es vermitteln können. Das wird den Lehrpersonen dann vermittelt. Das alles geschieht im Wissen um das „pädagogische Paradox“, dass Wissen & Kompetenz nicht vermittelt werden können. Das ist lange bekannt.

Sämtliche Varianten von Unterricht – derzeit ein Synonym für Schule – erweisen sich auf dem Hintergrund dieses Paradoxons als ungeeignet für Bildungsarbeit; ebenso wie die Fixierung auf Inhalte und deren Wiedergeben. Dennoch sind diese beide Aspekte bis heute tragende Säulen von Bildungsarbeit – neben Fächerwesen, Benotungskultur, (Jahrgangs-)Klassen und synchroner Präsenz, die für sich und zusammen dem Irrtum erliegen, Wissen und Kompetenz könnten vermittelt werden; und nach wie vor bilden wir Menschen in & zu etwas aus, das noch nie funktioniert hat, und das nie funktionieren wird: Die Vermittlung von Wissen und Kompetenz.

Welches Wissen und welche Kompetenz braucht es stattdessen für Bildungsarbeit – und wie kommt die auf den Weg, da Wissen und Kompetenz nicht vermittelt werden können? Welche Fähigkeiten brauchen dann Bildungsarbeiterinnen und Bildungsarbeiter?

Wir klären Bedürfnisse und Bedarfe

Zuerst realisieren wir erneut oder zum ersten Mal, dass wir im Kontext von Bildung, Schule und Lernen ausnahmslos Menschen begegnen, die – egal in welcher Rolle, Funktion oder Aufgabe sie unterwegs sind – pausenlos am Lernen sind. Der Bubblesprech vom „Lebenslangen Lernen“ meint eben dies. Nun ist Lernen nicht gleich Bildung: Ich kann aufhören mich zu bilden, aber aufhören zu lernen kann ich nicht. Damit mein Lernen nicht im Auswendiglernen und Aneignen von Skills und Tools steckenbleibt, mache ich es immer auch zu Bildungsarbeit.

Wenn wir also etwas anderes wollen als eine Schule, die lediglich „willfähriges, biologisches Material produziert“ und „lebendige Prozesse unterdrückt“, wie der Autoritätsforscher Frank H. Baumann schreibt, dann ist es sinnvoll, dass auch Bildungsarbeit lebenslang bleibt, wenn also alle in Bildungsarbeit Involvierten in eigener Sache Bildungsarbeiter*innen sind und bleiben.

Dann realisieren wir erneut oder zum ersten Mal: Professionelle Bildungsarbeiter*innen (aka „Lehrende“) zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie etwas wissen, was andere Bildungsarbeiter*innen (aka „Lernende“) nicht wissen, sondern dass sie über Fähigkeiten verfügen, mit denen sie Menschen bei der Konstruktion von Wissen und bei der Entwicklung von Kompetenz kompetent begleiten und unterstützen können.

Selbstverständlich ist es schön und gut, wenn Mathematiklehrer*innen sich in Mathematik auskennen. Doch wenn wir nicht mehr mit dem Konzept des/der Mathematiklehrer*in arbeiten (und nicht mehr mit dem Konzept des Mathematikunterrichts bzw. mit dem Fach Mathematik), öffnen sich lernenden und sich bildenden Menschen jene Informations-, Lern- und Bildungsräume, die bisher eingeengt waren auf das, was sie „vor Ort“ als Mathematik erleben. Was gute Mathematik ist, hängt bis heute für alle (!) Menschen davon ab, welche Mathematiklehrer*innen sie hatten – statt umgekehrt.

Die Alternative: Wir orientieren uns in der Bildungsarbeit zuerst an den Bedürfnissen jener Menschen („auf der anderen Seite des Pults“), die von professionellen Bildungsarbeiter*innen begleitet werden – ohne dabei die Bedürfnisse dieser Bildungsarbeiter*innen („Lehrpersonen“) auszublenden, zu vernachlässigen oder in Konkurrenz zu setzen.

Im Gegenteil: Wir fokussieren und klären die Bedürfnisse aller in Bildungsarbeit Involvierten. Warum? Weil die Arbeit an und mit Bedürfnissen Bildungsarbeit ist, wie uns Protagonist*innen in entsprechenden Disziplinen aufgezeigt haben (etwa Ruth C. Cohn und Arno Gruen).

Erste Konsequenz: Bedürfnisse & Bedarfe unübersehbar machen

Deshalb institutionalisieren wir den als eher mühsam erlebten und bis heute oft vermiedenen bzw. diffamierenden „Diskurs“ über Bedürfnisse lernender und sich bildender Menschen. Das ist ein im gegenwärtigen Bildungsbetrieb sträflich vernachlässigtes Anliegen.

Bildungslandschaft I (Quelle)

Zu diesem Zweck machen wir einerseits diese Bedürfnisse sichtbar. Nicht einmal (1x), auch nicht in Form einer didaktischen Analyse, auch nicht bezogen auf die Vermittlung von Wissen und Kompetenz, die gar nicht möglich ist (was wir lange wissen), sondern, ich wiederhole mich gerne, weil die Arbeit an und mit Bedürfnissen Bildungsarbeit ist.

Wir machen auch kein Fach, kein Unterrichts- und kein Projektthema draus, weil wir damit den Versuch starten würden, Wissen über „Bedürfnisse und Kompetenz im Umgang mit ihnen“ zu vermitteln, was gar nicht geht, wie längst bewiesen ist.

Stattdessen tragen wir gemeinsam Sorge, dass alle an Bildungsarbeit Beteiligten immer besser in der Lage sind, ihre Bedürfnisse zu erkennen und zu artikulieren, solche ihrer Mitmenschen in nah und fern zu realisieren, wertzuschätzen und immer wieder neu in Beziehung zu setzen. Sie weder zu ignorieren noch abzuwerten. Wir machen Bedürfnisse unübersehbar. Das tun wir transdisziplinär. So gelingt es uns, die faszinierende Fülle an Wissen & Erfahrung, die wir dazu heute schon haben, im Sinne sich bildender Menschen zu nutzen – für meine Befähigung als Bildungsarbeiter*in, ob ich nun in herkömmlicher Lesart „LehrendeR“ oder „LernendeR“ bin.

Welche Bildungsarbeit braucht die Lebens- und Arbeitswelt?

Zugleich orientieren wir uns in der Entwicklung des neuen Berufs des und der Bildungsarbeiter*in an den gesellschaftlichen und ökononomischen Bedarfen einer sich in einem tiefgreifenden Wandel befindlichen Lebens- und Arbeitswelt. Wir machen auch diese Bedarfe unübersehbar – das ist heute ein wesentlicher Teil von Bildungsarbeit – und gestalten sie so offen wie möglich. Wir engen sie nicht länger ein auf das, was in Bildungsplänen festgehalten ist, denn die sind nur eine Momentaufnahme, ein mühsam erarbeiteter Kompromiss aus dem, was von den Herausforderungen, in denen wir heute stehen, noch nichts wusste.

Bildungsarbeit bedarf heute eines komplett anders aufgestellten Wissensmanagements als über Moodle und Bildungspläne. Glücklicherweise können wir über die Alternativen mehr und anderes wissen als je zuvor. Die Ressourcen liegen uns mit dem Internet zu Füssen – und auch hier gilt es als erstes dem Versuch Einhalt zu gebieten, den Umgang mit diesen Ressourcen irgendwie irgendwem zu vermitteln – und ihn stattdessen zu lernen.

Ein neuer Beruf braucht eine neue Ausbildung

Zugleich klären und entscheiden wir, wie Ausbildungsinstitutionen und -prozesse für Bildungsarbeiter*innen gestaltet sind, sodass Institutionen & Bildungsarbeiter*innen die benötigten Fähigkeiten auf dem Plan & Schirm haben – und zwar 24/7. Die aktuelle Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern – ein aussterbender Beruf – muss zu diesem Zweck nicht auf den Prüfstand. Wir erfinden sie komplett neu. Wir entwickeln einen neuen Beruf und einen neuen Weg hinein, der mit den alten Funktionen, Rollen und Aufgaben nichts mehr zu tun hat.

Ein wichtiger Aspekt dieser Entwicklungsarbeit ist die Auseinandersetzung mit den fundamentalen Veränderungen und Neuerungen der Berufswelten: Wie verändern sich Berufe? Was bedeutet es heute im Unterschied zu anderen Zeiten, einen Beruf zu erlernen, einen zu haben, ihn auszuüben? Die zahlreichen Szenarien, Alternativen und Möglichkeiten, die es da heute gibt, spiegeln sich im neu zu entwickelnden Beruf der Bildungsarbeiterin und des Bildungsarbeiters ganz selbstverständlich: Wer sich als LernendeR Gedanken macht über seine bzw. ihre zu entwickelnde Berufsbiografie, findet im Gegenüber einer Bildungsarbeiterin ein Beispiel für diese Vielfalt, im Unterschied zum heute noch weit verbreiteten „einmal Lehrer immer Lehrer“.

Eine Bildungsarbeiterin wirkt dann nicht länger „vorbildlich“ bei meiner Suche nach Antworten auf die Frage, was ich einmal werden will (oder nicht), sondern eher auf die Frage, wie ich etwas werden und sein möchte.

Diese Entwicklungsarbeit hin zum neuen Beruf des/der Bildungsarbeiter*in ist also bereits der erste Schritt im neuen Konzept und im neuen Beruf. Sie bereitet das nicht vor. Es gibt keine „Vorbereitung“ mehr, keine Vermittlung von Zukunftskompetenz, nur das reale Leben & Lernen und unsere Reflexion auf beides.

Neu ist damit auch: Was Studierende lernen, die einen Bildungsberuf anstreben, korreliert nicht mit dem, was „später einmal“ die Bedingungen sind, unter denen sie dann Bildungsarbeit machen, weil sich die Bedingungen von Bildungsarbeit pausenlos verändern. Bildungsarbeit ist immer im „Hier & Jetzt“, und sie bringt die Bedingungen, unter denen sie zur Sache geht, hervor.

Bildungslandschaft II (Quelle)

Es gibt kein „vor und nach“ der Ausbildung, weil beide auf eine professionelle Weise zirkulär funktionieren – nicht in dem Sinn von „zirkulär“, wie sie im Bildungssystem funktionieren:

Nicht zirkulär also im Sinne eines „mehr vom Selben“, sondern „mehr von Unterschiedlichem“: Lern-Fortschritt als Zunehmen und Unterstützen von Unterschiedlichkeit, wie Remo Largo nicht müde wurde einzufordern:

Wie finden sich bereits berufstätige Lehrer*innen darin zurecht?

Flankierend entwickeln wir attraktive, hochwertige Angebote für aktive Lehrerinnen und Lehrer, in denen sie sich fit machen für diese riesigen Herausforderungen, indem sie lernen (!), sich in ihnen souverän zu bewegen. Wir lassen dabei jedem und jeder völlig und vorbehaltlos frei, ob sie diese Angebote annehmen, oder ob und wie sie sich anderweitig für die neuen Herausforderungen qualifizieren, oder ob sie (als ein mögliches Ergebnis dieser Entwicklungsarbeit) auf einen anderen Beruf umsteigen. Auch dabei unterstützen wir nach Kräften.

Was wir dabei ganz sicher nicht tun: ihnen irgendetwas vermitteln.

Klammern wir also die Diskussionen darüber, „was junge Menschen heute können und wissen müssen“, für einen Moment ein (nicht aus sondern ein, denn da wissen wir ja schon recht viel drüber) und klären ganz grundsätzlich, wie der neue Beruf des Bildungsarbeiters und der Bildungsarbeiterin aussieht: welche Haltungen er bei denen voraussetzt, die ihn praktizieren (wollen) – deren Reflexion ein wesentlicher Teil der gesamten Berufsbiografie ist.

Wir laden über alle kulturellen Bereiche hinweg aktiv dazu ein, diesen Prozess auf Augenhöhe mitzugestalten. Als ein zivilgesellschaftliches Projekt.

Bildungslandschaft III (Quelle)

Damit werden wir drei zentralen Anliegen gerecht

Erstens entwickeln wir einen Beruf, der für jene eine anziehende und nachhaltige berufliche Möglichkeit darstellt, die wir gerne für diese Arbeit hätten, und die wir brauchen. Wir, die wir uns lebenslang bilden. Ich hätte gerne Bildungsarbeiter*innen, die sich als Partner*innen begreifen, die an (ihrer eigenen und jedweder) Entwicklung interessiert sind, an Entfaltung von Potenzial, die grundlos neugierig sind, lernbegierig, expeditionsfreudig.

Wir tun also nicht länger etwas „gegen Lehrermangel“, um den Lehrerberuf (wieder) attraktiv zu machen, sondern wir entwickeln schleunigst einen neuen, attraktiven Beruf – und wir tun es nicht in den (digitalen) Hinterzimmern von Schulverwaltungen und Pädagogischen Hochschulen, sondern dort, wo Menschen gemeinsam Bildungsarbeit machen, denn Bildungsarbeit bringt die Bedingungen, unter denen sie sich ereignet, jeweils mit.

Zweitens eröffnen wir Menschen, die aktiv im Lehrberuf stehen, Möglichkeiten, sich neu zu entscheiden und zu professionalisieren; und zwar für das und auf das hin, was ihnen entspricht. Sie finden Unterstützung, die an keine Bedingungen oder Ergebnisse geknüpft ist – analog zu einer Hochform des BGE, wie sie hier reflektiert wird.

Drittens entwickeln wir dadurch kontinuierlich eine Bildungsarbeit auf der Höhe der Zeit, die Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gerecht wird. Wir bereiten ab jetzt nicht mehr „durch die Ausbildung auf Bildungsarbeit vor“, sondern praktizieren durchgehend Bildungsarbeit: Wir entwickeln uns an jedem Punkt unserer Bildungsbiografien und Lebensgeschichten weiter und unterstützen und begleiten uns gegenseitig in und mit all unserem Entwicklungspotenzial, unseren Bedürfnissen, Bedarfen und Sehnsüchten.

Warum ich der Pädagogik nicht über den Weg traue

„Eigenzeit“ von Menschen ist einer der größten Widersacher der Pädagogik. Eigenzeit ist aus pädagogischer Perspektive immer nur innerhalb eines von ihr vorgegebenen Rahmens denkbar. Und damit ist sie keine mehr, denn sie hat sich diesem Rahmen unter allen Umständen zu beugen. Vor allem was das Lernen betrifft, den Prozess also, der den Menschen ausmacht, und der so individuell ist wie nichts anderes.

Titelbild: KELLEPICS | Stefan Keller auf pixabay

Pädagogik ist eine Disziplin, die immer am Verhalten ansetzt, nie an den Verhältnissen. Deshalb verändern die sich auch nicht. Der Ort, wo sie das vor allem tut, ist die Schule: „Seid jetzt mal ruhig und passt besser auf!“ Mit dem Philosophen Michel Serres formuliert, ist Lehren und damit Schule ein Angebot, das nur in eine Richtung durchlässig ist. Deshalb schert es sich nicht darum, so Serres, welche Nachfrage es überhaupt gibt:

Da habt ihr das in den Büchern gehortete Wissen – also sprach das Sprachrohr, zeigte, las, trug vor. Hört zu, lest, wenn ihr wollt, nach. Aber seid vor allem still.

Serres, M [2013]. Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Berlin: Suhrkamp, S. 35
Would you stop interrupting me while I’m interrupting you?

Schule fokussiert immer das Verhalten von Schüler*innen – und btw nicht das der Lehrenden. Das wird, wenn überhaupt, dann mit den Verhältnissen gerechtfertigt, unter denen sie zu arbeiten haben. Schule passt Verhalten von Schüler*innen an ihre Verhältnisse an, kurz: Sie passt Menschen an, oder wie in der FAZ jüngst zu lesen war:

Unsere Auswertung weist darauf hin, dass die Schule in ihrer konventionellen Form ihrem Auftrag als großer Gleichmacher doch ganz gut gerecht wird.

Quelle
Korrekt angepasstes Verhalten. Lebenslang.

Das ist der Grund, warum ich Pädagoginnen und Pädagogen nicht über den Weg traue – was ihre Arbeit mit Kindern und Jugendlichen betrifft. Daher mein Vorbehalt. Sie führen nämlich immer etwas mit Kindern und Jugendlichen im Schilde. Sie trachten pausenlos und mit allem, was sie tun danach, junge Menschen zu beeinflussen, zu formen, zu korrigieren, sie mehr und weniger sanft zu dirigieren: sie zu etwas zu bewegen, sie in eine Richtung zu bringen, sie für etwas zu interessieren, sie aufzuklären (was nicht nur nach Kant eine Eigenleistung ist), sie zu bilden (auch so eine Eigenleistung) – und ihr Verhalten zu steuern durch Bestrafung und Belohnung. Durch Entzug oder Zuführung von Aufmerksamkeit. Lupfen Kinder einen Stein, schleppen (aufmerksame) Pädagoginnen eine Steinesammlung an:

Unser formales Bildungssystem hat neugieriges Sondieren schrecklich deformiert, da es aus dem Weiterverfolgen eine Tugend gemacht hat und dadurch dem Sondieren seine wesentlichsten Aspekte … geraubt hat.

Die Sudbury Valley School [2005]. Eine neue Sicht auf das Lernen. Leipzig: Tologo Verlag, S. 87

Pädagogik verzweckt Lebenswirklichkeit. Entdeckt sie, dass Menschen gerne spielen, wird sie spielerisch. Sie erfindet dann Gamification, baut Spielphasen in Unterricht ein, um „Lernen zu erleichtern“ und lustvoll zu gestalten. Um zu motivieren. Dadurch programmiert sie geschickt lernende Menschen, die dann allerlei widerspruchslos schlucken lernen, wenn es nur spielerisch genug daherkommt. So pervertiert Pädagogik das Wesen des Spiel(en)s.

Es geht nicht darum, Kinder und Jugendliche „vor der Digitalisierung zu schützen“ (schönes Interview dazu hier), sondern das Lernen vor der Pädagogik. Mehr zu dieser Spur hier.

Pädagoginnen und Pädagogen können Schüler*innen ex professo nicht einfach so begegnen. Ihr Interesse am Gegenüber ist immer schon ein pädagogisches, denn ihre Aufgabe ist ja das Vermitteln, das Heranführen von jemand an etwas. Zum Beispiel an Steinesammlungen. Sie denken und planen immer etwas für und anstelle ihres Gegenübers. Anders können sie Schüler*innen nicht begegnen. Wenn schon nicht am Pflänzchen ziehen, so doch: es gießen, beschneiden, düngen, edle Reiser aufpfropfen.

Wenn sich die Pädagogik für ihr Gegenüber interessiert, dann um ihren Vermittlungsprozess effizient(er) gestalten zu können, denn sie ist im Auftrag ihres Herrn unterwegs.

Jede Erkenntnis, jede Information und jedes Wissen, das Pädagoginnen und Pädagogen in Interaktion mit Menschen gewinnen, verwenden sie, um ihrem Gegenüber dadurch begreiflich zu machen, dass und was sie und er noch nicht begriffen hat. Das bringen sie dann durch Noten zum Ausdruck.

Wenn ich ja spüre, dass ich es noch nicht so kapiert habe, brauche ich keinen, der mir das mit einer Note labelt. Ich war deshalb früher sehr frustriert durch die Noten. Sie verstärken das Gefühl, etwas nicht zu können. Vorteilhaft ist, wenn das ausbleibt.

Schülerin (13) im Interview mit mir im Rahmen einer Schulevaluation

Das Pädagogische sieht seine Aufgabe darin, durch pädagogisch-didaktisches Geschick Nichtwissen und Nichtkönnen – nach Sektoren („Fächer“) getrennt – sichtbar zu machen und durch weitere pädagogische Interventionen zu beheben. Auch dort, wo Pädagog*innen an „Vorwissen anknüpfen“, tun sie es, um das Ausmass seiner (Noch-)Unvollständigkeit abzuchecken.

In Pädagogistan kann etwas oder jemand so, wie es, er oder sie ist, niemals „gut“ sein. Gut ist immer woanders.

Störfaktor Eigenzeit

Pädagog*innen treten – und ich meine damit den beruflichen Kontext – mit ihrem Gegenüber nie im Hier und Jetzt in Kontakt. Dieses „Hier und Jetzt“ wird durch ihre didaktische Analyse und ihre Unterrichtsvorbereitung konsequent ausgeblendet. Sie sind und sie kommen immer von woanders. Sie trachten immer danach, Kinder und Jugendliche aus einer abstrakten Situation in eine abstrakte Zukunft zu führen, in der das konkrete Gegenüber der Pädagogik (dieses Kind hier), das in diesem Konstrukt immer ein abstraktes Konkretes bleibt, dann etwas kann – und sei es auch nur besser: Rechenaufgaben lösen, Lückentexte korrekt ergänzen, Vokabeln aufsagen oder ein Gedicht. Prüfungen absolvieren. Welch bizarrer Mummenschanz.

Was auch immer im Moment ist, es muss immer anders werden, und dieses anders ist ein besser, eine Steigerung, eine Vervollkommnung – das Verweilen in einer Situation ist für Pädagoginnen und Pädagogen (im beruflichen Kontext) ein Gräuel, ein aushalten müssen, außer dieses Verweilen hat ein für sie absehbares Ende. Etwa weil ihr Konzept einen nächsten Schritt geplant hat. Für ihr Gegenüber. Es muss weitergehen. Aufgaben müssen erledigt werden, Schritte gemacht.

„Eigenzeit“ von Menschen ist deshalb einer der größten Widersacher der Pädagogik, des Pädagogischen, der Pädagoginnen und der Pädagogen. Eigenzeit ist aus pädagogischer Perspektive immer nur innerhalb eines von ihnen vorgegebenen Rahmens denkbar. Und damit ist sie keine mehr, denn sie hat sich diesem Rahmen unter allen Umständen zu beugen. Vor allem was das Lernen betrifft, den Prozess also, der den Menschen ausmacht, und der so individuell ist wie nichts anderes.

An die Stelle dieses Lernens tritt die Pädagogik. Sehr früh – und solange, bis sie Menschen reif gemacht hat.

Das Pädagogische ist immer eine Infantilisierung. Eine grundsätzliche Entwertung des Kindlichen, eine Inkompetenzvermutung, über die sie ihre Macht ausübt – „indem sie sich an vermeintliche Dummköpfe“ (Serres, M. [2013], S. 61) wendet. Nicht nur im elementaren Bildungsbereich. Das Pädagogische lebt aus dieser Unterscheidung, die es zu diesem Zweck immer zuerst konstruieren muss. Sie muss die Inkompetenz ganz grundsätzlich unterstellen. Das ist ihre auch wissenschaftlich gewonnene Überzeugung, aus der heraus sie alltagspraktisch wird. Sie erinnert an die Dinosaurier, „die umso mehr Platz beanspruchen, als sie im Aussterben begriffen sind [und] die Emergenz neuer Kompetenzen ignorieren“ (Serres, M., ebd.). Überall ist Pädagogistan.

Macht

Ich konnte nicht nachvollziehen, warum Kinder, die an unserer Schule in vollem Respekt und in Gleichheit leben und ermutigt werden, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen – warum solche Schüler sich noch immer machtlos fühlen. Ich konnte es nicht begreifen. Wenn sie versuchten, es mir zu erklären, sagte ich: „Aber das ist die Vergangenheit, hier ist es nicht so. Ich habe keine Macht über dich, ich habe dir nicht zu sagen, was du tun sollst. Selbst wenn ich es wollte, selbst wenn ich über dir stünde und verlangen würde ‚Tu das’, könntest du mich angucken und antworten: ‚ Ich will das aber nicht tun‘, denn ich bin nicht befugt dazu. Du bist hier in einer Umgebung, in der du vollkommen respektiert wirst und die Dinge selbst in die Hand nehmen kannst.“ Dieses tiefe Gefühl der Machtlosigkeit, mit dem sie ankamen, wurden sie nicht los.

Greenberg, D. [2006]. Ein klarer Blick. Neue Erkenntnisse aus 30 Jahren Sudbury Valley School. Leipzig: Tologo-Verlag, S. 97

Pädagogik unterstellt dem Gegenüber, dass es aus sich heraus nicht in der Lage ist, sich selbst und die Welt zu begreifen; sich zu entwickeln und zu entfalten. Selbst in ihrer modernsten Form und Anwendung kann sie menschliche Entwicklung nicht ohne sich, die Pädagogik und ihre Interventionen denken. All das plant und organisiert das Pädagogische deshalb auf der Basis dieser Grundannahme, die sie im Sinne einer wissenschaftlichen oder disziplinären Leistung zuvor konstruiert und empirisch erhoben hat, und zwar immer schon unter Bedingungen des Pädagogischen.

Aus diesen Gründen traue ich Pädagoginnen und Pädagogen nicht über den Weg. Nicht wenn es um das Lernen von Kindern und Jugendlichen geht. Um die Entfaltung von Selbstwert und Selbstwirksamkeit.

Und es gibt noch einen Grund. Er verbirgt sich in einem Ausspruch der Bürgerrechtlerin Maya Angelou:

Für mich ist das eine Metapher, die derzeit auf ganz viele kulturelle Felder zutrifft. Wir sind – nicht nur als Pädagog*innen oder Lehrpersonen, aber die in ihren Funktionen ganz besonders – in immer mehr Bereichen „nackt“ in dem Sinne, dass wir die Zusammenhänge und ihre Komplexität nicht (mehr) durchschauen. Wir wissen von immer mehr immer weniger. Deshalb bedarf es in meinen Augen vor allem dort, wo Kinder und Jugendliche beschult und erzogen werden sollen, einer Haltung, die bei sich selbst darum weiss und sich diese Kränkung eingestehen kann, statt sich grossspurig, autoritär, adultistisch und sonstwie besserwisserisch gegenüber jungen Generationen in Position zu bringen.

Kostenlos aber nicht folgenlos lesen.

Auch deshalb fordere ich so hartnäckig die Entpädagogisierung und Entschulung des Lernens – und stehe damit ganz und gar nicht alleine da. Es ist höchste Zeit dafür. Wie immer.

Lust auf mehr? Dann hier einsteigen:

Was wir über die Zukunft von Schule sagen können

Beitragsbild von Gerd Altmann auf Pixabay

Führt Schule zu einer anderen Gesellschaft oder umgekehrt? Wie hängen beide zusammen, und wie wird Schule in Zukunft aussehen?

Schule ist, neben ihrem bzw. durch ihr Wissens- und Erziehungsgeschäft, eine Sortiereinrichtung mit dem Ziel, soziale Verhältnisse zu reproduzieren, indem sie einen ungefähren Ausgleich gewährleistet hinsichtlich der Zugänge zu bestimmten Berufen und der Übergänge zwischen sozialen Schichten (in Deutschland braucht es sechs Generationen, um von einem niedrigen zu einem mittleren Einkommen zu gelangen [Quelle]).

Vier kurze Statements. Zum Originalvideo

Wenn Schule und Umwelt sich auseinanderleben

Eine Veränderung dieser sozialen (kulturellen, ökonomischen) Verhältnisse kommt also eher nicht aus der Schule. Wahrscheinlicher ist, dass sich verändernde Verhältnisse in den Umwelten perturbierend (beeinflussend, aber nicht determinierend) auf Schule auswirken – in ihren Kernfunktionen

  • der Alphabetisierung: was müssen wir wissen und können?
  • der Sozialisation: wie funktioniert Gesellschaft eigentlich?
  • der sozialen Selektion: welche Gesellschaft wollen wir sein?

Je stärker die Veränderungen in den Schulumwelten, umso heftiger die Perturbationen. Das (Schul-)System versucht dann mit aller Kraft, die eigene Funktionalität nach innen zu gewährleisten. Schulentwicklung ist und tut in diesem Stadium erst einmal und immer wieder „mehr desselben“, auch wenn sie es „frisch etikettiert“.

„Mehr desselben“ (Quelle)

Ab einem bestimmten Veränderungsgrad der Umwelten geht das auf Kosten der Anschlussfähigkeit von System und Umwelt, weil das Schulsystem, je stärker es seine Dysfunktionalität wahrnimmt, umso mehr mit sich selbst beschäftigt ist. Indem es (immer) mehr desselben tut, manövriert es sich immer tiefer in die Dysfunktionalität und verliert immer mehr die Systemumwelten aus dem Blick – somit geht die Anschlussfähigkeit zurück. Gleichzeitig suchen und entwickeln die Systemumwelten von Schule nach und nach Alternativen für jene Funktionen, die für ihre eigene Funktionalität und für ihr Überleben wichtig sind – weil Schule das nicht mehr leistet.

Zwei Beispiele dafür, die derzeit noch den Charakter von „Wetterleuchten“ haben, kommen aus der Schweiz. Der Rektor der Universtität Zürich hat im März dieses Jahres (2021) verkündet, dass Studieren in Zukunft auch ohne Matura (Abitur) möglich sein wird (Quelle), und: renommierte Wissenschaftler*innen entscheiden sich vermehrt dafür, sich und ihr Forschen jenseits des Hochschulbetriebs zu oganisieren:

Bruno S. Frey gehört zu den meistzitierten Ökonomen Europas. Jahrzehntelang war er an der Universität Zürich tätig gewesen, bis er das Crema-Institut mitbegründete. «Ich bin von den klassischen Universitäten enttäuscht», sagt er. «Es geht nur noch ums Punktesammeln, die vertiefte Auseinandersetzung mit Themen findet immer weniger statt.» Die privaten Institute seien ein Zeichen, «dass die Unis nicht mehr der einzige Ort sind, um Wissenschaft zu machen», sagt Frey.

Quelle (Paywall).

Auch entstehen schon seit Jahrzehnten vermehrt und niederschwellig Initiativen und Communities, die jenseits des öffentlichen Schulsystems radikal alternative Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen machen (Beispiel). Da fehlt zwar bis heute oft noch eine Finanzierung, um diesen Weg auch für Menschen zu öffnen, die sich das nicht leisten können. Doch es dürfte eine Frage der Zeit sein, bis auch hier das Engagement von Kapitalgeber*innen greift, die verstanden haben, was die Stunde geschlagen hat. Es gehört nämlich nicht viel dazu um zu begreifen, dass Bildung nur dann ökonomisch und sozial wirksam wird, wenn sie in die Breite geht. Wenn es dazu privatwirtschaftliches Engagement braucht, sollten wir das fördern und nicht als elitäres Gedankengut einordnen.

Man mag das als „neoliberalistisch“ abtun, doch irgendwann ist es – nicht egal aber – zweitrangig, woher das Geld kommt, wenn es darum geht, ein dysfunktionales und entwicklungsresistentes Bildungssystem abzulösen und immer mehr Menschen unabhängig von ihrem sozialen Status wirkliche Bildung zu ermöglichen, denn genau hier versagt ja das öffentliche Bildungssystem.

„Elitär“ ist nämlich nicht bloss die Haltung, Bildung für Kinder wohlhabender Zeitgenoss*innen in privaten Schulen zu organisieren. Auch der Reflex, privaten Initiativen in jedem Fall die Verstärkung eines Zwei-Klassen-Systems zu unterstellen, ist eine elitäre Position, nicht zuletzt weil die erstens fast ausschließlich von Menschen artikuliert wird, die ihre eigenen Schäfchen im Trockenen wissen, und weil zweitens „schlechte Bildung für alle“ niemandem gerecht wird.

Eine kritische Beleuchtung solchen Engagements in der Schweiz findet sich hier.

Unbundling: Wehe wenn sie losgelassen…

Diese Suchbewegungen in den Umwelten von Schule bringen im Moment mit sich, dass die traditionelle Bündelung der drei Dimensionen

  • Sozialisation (Erziehung)
  • Alphabetisierung („literacy“)
  • soziale Selektion

und deren normative Delegation an ein einziges System („Schule“) sich nach und nach auflösen: unbundling. Ein schöner Text zu diesem Phänomen hier.

Kultur und Gesellschaft organisieren sich in einem exponentiellen Prozess neu – jetzt auch hinsichtlich Bildung und Lernen. Es kommt zu einer Ent-Institutionalisierung und Fragmentierung von ursprünglich aneinander gekoppelten Systemen, Funktionen und Aufgaben von Bildung, Lernen, Erziehung – und das alles aufgrund einer komplexen Neustrukturierung von Gesellschaft. Dabei werden nicht bloß „die Karten neu gemischt“, sondern ein neues Spiel entsteht – das sich neue Regeln gibt: Wissensproduktion, Kompetenzentwicklung und Qualifikationsprozesse beginnen an Orten zu sprießen, wo sie niemand vermutet hat.

Es ist davon auszugehen, dass auch hier nach einer gewissen Zeit des Mäanderns, des Ausprobierens und der lockeren Bindungen, die sich bilden und wieder auflösen, neue Systeme (ent)stehen werden. 

Im Moment ist das aber Zukunftsmusik. Was wir in den nächsten Jahren zu erwarten haben:

  • eine weiter zunehmende Dysfunktionalität des Schulsystems nach innen,
  • eine entsprechend wachsende Bindung von Ressourcen an den Versuch, die Funktionalität von Schule „nach alten Regeln“ aufrechtzuerhalten bzw. wieder herzustellen (Selbsterhalt durch mehr desselben),
  • die Entfremdung von Schule und Gesellschaft und eine abnehmende gegenseitige Anschlussfähigkeit
  • Prozesse des Neuentwickelns und Ausprobierens in den (ehemaligen) Umwelten von Schule, um die vom Schulsystem nicht mehr erfüllten Funktionen neu zu organisieren.

Wie lange es dauern wird, bis (ob?) daraus wieder eine Art „Schule“ wird und wie die dann aussieht – das ist offen und nicht vorhersehbar. Dafür sind die Wechselwirkungen und Emergenzen in einer Kultur der Digitalität zu groß.

Kinder auf die Zukunft vorbereiten: Drei pädagogische Fehlsch(l)üsse

Titelbild:  Andrea Piacquadio auf Pexels

Der Vorwurf lautet: Schule bereitet Kinder und Jugendliche nicht mehr auf die Zukunft vor. Tatsache ist: Das hat sie noch nie, weil das gar nicht möglich ist. Mich selber oder jemand anderen jetzt auf etwas vorzubereiten, von dem niemand weiß, was es ist und ob das irgendwann eintreffen wird – das funktioniert nicht. Nehmen wir also drei der beliebtesten pädagogischen Fehlschlüssse in den Blick.

Erster pädagogischer Fehlschluss: „Wir bereiten dich vor“

So wenig eine Safari die Teilnehmer:innen auf ein Leben in der Wildnis vorbereitet, bereitet Schule Kinder auf die oder ihre oder auf irgendeine Zukunft vor. Das tun die selber. Auch in der Schule. Egal, was die mit ihnen tut oder nicht. Wir Menschen sind vom ersten Atemzug an unendlich adaptiv. Unser Lernen ist und bleibt lebenslang so pluripotent wie Stammzellen. Ich kann mich immer wieder in etwas anderes entwickeln, mich gar neu erfinden – mitsamt der nötigen Kompetenz. Schule bereitet darauf nicht vor. Sie ist dafür lediglich ein Auslöser unter vielen. Sie ist eine Challenge der besonderen Art:

Wir Menschen besitzen den evolutionären Vorteil uns lebenslang lernend an neue kulturelle Anforderungen anzupassen. Das haben wir während unserer Schulkarriere gründlich vergessen, weil die uns erlaubt bzw. dazu gezwungen hat, das Lernen als fremdgesteuerten Vermittlungsprozess zu akzeptieren – und es genau dadurch zu verlernen.

Foto von Kaitlyn Jade auf Pexels

Wenn Schule diese Pluripotenz nicht völlig zu desavouieren vermag, entwickeln wir aus dem Vermögen, uns selbst und die Welt in jedem Moment anders zu sehen und neu zu erfinden, die Kreativität im Sinne einer Lösungskompetenz. Die ist ein umfassendes Versprechen an die Zukunftsfähigkeit von uns Menschen. Sie zeigt, dass wir alles schon mitbringen, um uns hier und jetzt an die Gestaltung unserer Gegenwart zu machen – welche Zukunft dann auch immer kommt.

Kinder und andere Menschen entwickeln & erfinden sich, ihre Fähigkeiten und ihr Potenzial im Austausch mit den realen, gegenwärtigen Umwelten, nicht mit der Zukunft. Alles, was ein Mensch lernt, lernt sie in Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Ich lerne „etwas“ also nicht, weil ich „es“ fürs Abitur brauche, sondern weil es für mich jetzt gerade eine Lösung zu versprechen scheint. Aufs Abitur lerne ich bekanntlich kurz vorher.

Beispiel: Im Unterricht „Mitschreiben“ hat eine Entlastungsfunktion von dem Druck, sich bezogen auf die Prüfungszukunft alles merken zu müssen. Nützen tut es mir dabei nur jetzt, nicht „in Zukunft“. 

Womöglich bereiten Kinder sich also nicht einmal auf die Zukunft vor, wenn sie das tun, was wir Lernen nennen. Vielleicht trainieren sie sich dadurch einfach in der Fähigkeit, unangepasst zu bleiben um sich an jede nicht absehbare Zukunft anpassen zu können.

Wenn Schule und Erziehung das zulassen.

Zweiter pädagogischer Fehlschluss: „Zukunft ist planbar“

Zukunft ist nicht vorhersehbar und nicht planbar. Das heißt nicht, dass ich nicht absehen kann, dass mir die Wohnung gekündigt wird, wenn ich die Miete nicht bezahle. Doch das ist nicht vorhersehbar. Das ist absehbar. Nichts ist vorhersehbar. Auch die Zukunft nicht. Sie ist, zumindest für den Moment, auch für den des Lernens, unausweichlich. Das wars.

„Voller Hoffnung zu reisen ist besser als anzukommen“ – nie war Robert Louis Stevensons Verdikt wahrer als in unserer flüchtigen Moderne. Wenn die Ziele beweglich sind oder ihren Reiz schneller verlieren, als Menschen laufen, Autos fahren und Flugzeuge fliegen können, dann ist das Unterwegssein wichtiger als das Ziel. … Unsere Kultur beruht nicht mehr wie die Kulturen früherer Zeiten oder jene, die die ersten Ethnologen vorfanden, auf einer Praxis der Erinnerung, der Bewahrung und der Gelehrsamkeit. Sie ist eine Kultur der Auflösung, der Diskontinuität und des Vergessens.

Zygmunt Baumann, Leben in der Flüchtigen Moderne, S. 198f.

Deswegen ist die beim ersten pädagogischen Fehlschluss reflektierte Fähigkeit, sich so offen wie möglich auf neue Situationen einzulassen und sie lösungsorientiert anzupacken, so wichtig und vielversprechend. Gäbe es diese Pluripotenz des Lernens nicht, wären wir alle verloren, weil wir ja in der Gegenwart nicht wissen, auf welche Art von Zukunft wir uns gefasst machen sollen.

Foto von cottonbro auf Pexels

Außerdem ist das, was wir Kultur nennen, also Sinn, Wert und Bedeutung von Gesellschaft, Arbeit und Individualität, mittlerweile so komplex und wechselhaft, dass es fast schon ridikül anmutet, sich durch irgendeine Art des Lernens auf etwas „einstellen“ zu wollen, das weiter als ein, zwei Jahre in der so genannten Zukunft liegt. Wir wissen praktisch nicht mehr, wie es werden wird mit Ökonomie, Arbeit, Kapital, Politik, und den natürlichen Grundlagen unseres Lebens.

Dieses Nichtwissen ist und bleibt unausweichlich.

Dritter pädagogischer Fehlschluss: „Zukunft fokussieren statt Gegenwart“

Der Ort, an dem Lernen passiert, ist die Gegenwart. Sie steckt voller Herausforderungen, Chancen, Aufgaben und divergierender Bedürfnisse ihrer Bewohner:innen. Schule und Erziehung sagen jedoch: „Oh, wir können und du solltest auf deine Gegenwarts-Bedürfnisse nicht allzu sehr eingehen, weil es ja um deine und um die Zukunft aller anderen geht. Wir müssen die Aufmerksamkeit und die Ressourcen da hin lenken.“ Didaktik und Methodik sollen diesen Widerspruch dann abmildern, indem sie die Kinder dort abholen, wo sie stehen (siehe erster pädagogischer Fehlschluss: Safarimodus – bitte alle einsteigen…).

Schule und Erziehung neigen dazu, individuelle und soziale Gegenwart zu entwerten – um der Zukunft willen.

Beispiel: Dass mein Kind es einmal besser haben soll, klingt erstmal total nach Zukunft und nach deren Planung z. B. durch gute Schulabschlüsse. Also durch Zeugnisse und Noten. Dieses Motto bezieht sich jedoch lebenslang ausschließlich auf die Gegenwart eines so programmierten Kindes und darauf, wie es diese Gegenwart gestaltet. Es ist das Jetzt des Kindes, das durch den Ansatz vom „Es mal besser haben“ seine Ausrichtung erhält – nicht dessen Zukunft. Wenngleich auch ihr Leben als Erwachsene mit hoher Wahrscheinlichkeit von diesem Grundton begleitet sein wird: dass sie es einmal besser haben soll als ihre Eltern – außer sie dreht diesen Ton irgendwann ab. Im Hier und Jetzt. Nicht in der Zukunft.

Lernen, also lieben, streiten, atmen, spielen, bauen, kommunizieren, interagieren, berechnen, verstehen, beschreiben, sich verlaufen, nach Hause finden, Umwege gehen, pipapo, findet in einer Gegenwart statt, die bewältigt werden will. So geht Leben – und die Art, wie wir diese Dinge, wie wir die Gegenwart in ihrer Komplexität und Unausweichlichkeit angehen, entscheidet maßgeblich darüber, welche Zukunft wir dadurch provozieren – ohne je eine Garantie dafür zu haben, dass sie so kommt, wie wir sie gerne hätten.

Eine Schule, die das ernst nimmt, hat nichts mehr mit dem zu tun, was sie heute ist und tut.

Warum Lernen keine Disziplin braucht, sondern den Raum der freien Entfaltung

Titelfoto: Alexander Lesnitsky auf Pixabay

Aktualisiert am 26.12.2020

Thomas Tillmann hat mit seinem Team eine Toolbox für selbstorganisiertes Lernen entwickelt: die Lernhacks – auch als Buch. Ihr Prinzip funktioniert in praktisch jedem Lebensalter und in jedem Lern- und Arbeitskontext. Erst recht unter den Bedingungen der Digitalen Transformation, die ja bekanntlich das Beste am menschlichen Lernen wieder in den Vordergrund rückt: Selbstvertrauen, Selbstorganisation und Selbststeuerung.

Wie so oft, wenn neue Konzepte alte Konzepte herausfordern, stehen sich in der Diskussion relativ schnell die Mindsets der jeweils anderen Seite gegenüber. Im Bereich Schule und Bildung sind das intrinsisch vs. extrinsisch, Lehren vs. Lernen, Selbst- vs. Fremdsteuerung, Ordnung vs. Chaos, Disziplin vs. Strukturlosigkeit und Beliebigkeit. Exemplarisch hierfür steht meines Erachtens dieser Tweet:

Reflexartig ertönt bei jedem Landeanflug von „Selbstorganisation“ bis heute der Warnruf: Aber bitte diszipliniert! Warum das? Entgegen landläufiger Annahmen ist Disziplin weder eine Tugend noch eine Fähigkeit. Sie ist eher ein Konzept. Wie Hefeteig. Ohne Hefe geht der Kuchen nicht auf. Ohne Disziplin die Selbststeuerung des Lernens nicht. Man nehme eine ordentliche Portion Disziplin, dann ist der Krieg schon halb gewonnen. Auch der gegen sich selbst.

Disziplin: Ein deutsches Erfolgsmodell

Als Konzept hat Disziplin und das Beharren auf ihr etwas sehr Deutsches. Mir fällt dazu ein Ausspruch von Kurt Tucholsky ein: „Der französische Soldat ist ein verkleideter Zivilist, der deutsche Zivilist ist ein verkleideter Soldat.“ Dieses Zitat stammt aus einer Zeit (Weimarer Republik), in der das aktuelle Schulsystem und seine Grundüberzeugungen von Ordnung, Diziplin und Standardisierung bis heute wurzelt.

Disziplin: Jemanden oder sich zu etwas zwingen. Vermeidungsziele verfolgen. Gegenkräfte aktivieren. Für die gute Sache: Durchhalten. Üben, üben, üben. Erfolg will verdient sein. „Lernen muss auch mal weh tun!“ Der Treibstoff für Disziplin ist das pädagogische Konzept von „Belohnung und Strafe“ – auch und gerade dort, wo „ich mir selber mal was versage und gönne“. Zehn Vokabelkärtchen – ein Gummibärchen. Was für ein Leben 😳

Disziplin als Gleichschaltung und Standardisierung

Als Konzept findet sich Disziplin(ierung) vor allem in jenen Systemen wieder, die Michel Foucault mit „Überwachen und Strafen“ attribuiert: Fabriken, Schulen, Gefängnisse gehören zu den besonders wirksamen Orten. Disziplin hat eine Überwachungsfunktion. Sie wird als wirksamer Ordnungsgenerator eingesetzt, und sie wird umso wirksamer, als sie mit Überwachung verbunden ist: „Discipline is commonly applied to regulating human and animal behavior to its society or environment it belongs“ (wikipedia). Disziplin kommt zum Einsatz, um Individuen und Individuelles gleichzuschalten mit dem Zweck, die Ausübung von Macht zu organisieren. Disziplin ist ein Konzept, das erfunden wurde um Prozesse und Menschen zu standardisieren. Auch Schule wurde erfunden, um zu standardisieren.

Quelle: spiegel.de

Disziplin ersetzt Organisation durch Kontrolle

Wer sagt, dass die Selbststeuerung von Lernen Disziplin erfordere, überträgt das extrinsische Konzept der Disziplin(ierung) auf die intrinsische(n) Dimension(en) des Lernens. In Kontexten von Erziehung, Pädagogik, Sozialisation und Ausbildung ist dann bald einmal die Rede von Selbstdisziplin – und vom notwendigen, didaktisch „gesteuerten“ Prozess der Aneignung und Verinnerlichung. So entsteht im lernenden Menschen eine Art Hierarchie, in der der Ansatz der Diziplinierung mit zunehmender Lernbiografie nach oben rückt. Neugier, Leidenschaft, Feuer und Eifer, die ich für eine Sache entwickeln kann, und die in mir eine kreative Hartnäckigkeit des Lernens entstehen lassen, werden auf die hinteren Plätze verwiesen – oder sie mit Disziplin gleichgesetzt. Da gibt’s übrigens auch ein spannendes Buch dazu:

Selbstverständlich entwickle ich im Laufe meines Lebens Strategien der Selbst- und Affektkontrolle, und das fällt mir umso leichter, als sich meine Lebenswelt dabei als unterstützend erweist. Doch auch hier gilt: Es ist nicht das Lernen, das diese Selbstkontrolle „braucht“. Das Lernen ermöglicht sie.

Denn Lernen ist zuerst und grundsätzlich selbstgesteuert. Fremdsteuerung als Teil der Rahmenbedingungen (etwa durch Pädagogik und Didaktik) richtet sich nicht an das Lernen als Funktion unseres Daseins, sondern an seine schulische Organisation:

Mein Lernen kann gut oder schlecht organisiert sein – es ist jederzeit selbstgesteuert. Das muss mir nicht immer gleich stark bewusst sein als lernender Mensch, doch dieses Beweusstsein kann ich entwickeln. Dann steigt die Qualität von Lernen mit meinem Bewusstsein davon, dass ich es eigentlich jederzeit selbst steuere, und wie gut ich es deshalb selber organisieren kann – auf Ziele hin, die mir erstrebenswert erscheinen. Hier kommt Disziplin erst einmal gar nicht vor.

Tritt jetzt „Disziplin“ in den Vordergrund, wird die Selbststeuerung des Lernens zwar nicht völlig verdrängt. Was hingegen passiert: Disziplin ersetzt die Kräfte der Selbstorganisation durch das Prinzip der (Selbst-)Kontrolle. Wer dafür plädiert, dass selbstgesteuertes Lernen der Disziplin bedarf, ist im Mindset der Außen- und Fremdsteuerung unterwegs und macht sie zu einem Prinzip des Lernens.

Die Formulierung „Selbststeuerung von Lernen“ im Tweet weiter oben im Text insinuiert, dass es auch Formen des Lernens gibt, die nicht selbstgesteuert sind – und dass diese aus pädagogischer Sicht den Normalfall bilden. Wenn in diesem Mindset klassischer Ordnungskonzepte externe Steuerungsimpulse zugunsten einer Selbststeuerung des Lernens ersetzt werden, kann das – in diesem Mindset – nur gelingen, wenn zugleich auch das Moment der Disziplinierung an die Lernenden übergeben wird inklusive der „Verantwortung für sein eigenes Lernen“, die der Lernende gemäß Tweet nun ebenfalls zu übernehmen hätte. Selbststeuerung und Verantwortung werden hier an jemanden „übertragen“, der sie vorher nicht hatte. In Wirklichkeit können jedoch beide gar nicht übertragen werden.

Verantwortung wahrnehmen

Nicht nur Lernen ist immer selbstgesteuert. Selbst wenn ich es an die Wand fahre. Auch mit der Verantwortung verhält es sich aus ethischer Perspektive so, dass jeder Mensch sie a priori hat: für das, was er und sie tut und unterlässt, für das, was er und sie denkt und spricht. „Wir“ können also einem Menschen seine oder ihre Verantwortung für das, was er und sie denkt, tut, sagt und verschweigt, nicht übergeben, weil er und sie die immer schon haben. Sie sind Owner. Es reicht völlig, wenn das Bildungssystem den Lernenden diese Verantwortung nicht wegnimmt – um sie ihnen dann wieder grosszügig zu übergeben.

Wir lernen also nicht Verantwortung zu übernehmen. Im besten Fall realisieren wir, dass wir sie immer haben, wenn wir so oder so handeln, dieses tun und jenes nicht. Wir werden uns also unserer Verantwortung bewusst. Wenn jemand verantwortungsvoll handelt, dann nicht, weil er oder sie gelernt hat, sie zu übernehmen, sondern weil er oder sie realisiert hat: Ups, ich habe die ja jederzeit. Verantwortung ist aus ethischer Perspektive nicht etwas, das ich übernehmen und deshalb auch zurückweisen könnte. Ich kann sie lediglich wahrnehmen oder ignorieren.

Womöglich ist dem Menschen (dir und mir) ja aus eben diesem Grund viel mehr zuzutrauen an Verantwortung, an Empathie und Einflussnahme, als Schule insinuiert. Dann geht es jetzt um die Frage, wie sich der einzelne Mensch überhaupt seiner und ihrer Verantwortung bewusst werden kann. Und zwar lustvoll und nicht über das diesbezüglich deplatzierte Instrument der Diziplin(ierung). Mit dieser nicht ganz unwichtigen Frage nach dem Wesen der Verantwortung in Zeiten kollektiver Ausreden habe ich mich in meinem Buch „Die Moral ist tot. Es lebe die Ethik“ auseinandergesetzt (S. 90-123). Auch mit entsprechenden Vorschlägen aus der Literatur (u.a. Zygmunt Baumann, Susan Reiman, Hans Jonas, Kurt Homann, Julian Nida-Rümelin). Die Kernthesen finden sich hier im Autorengespräch mit Gunnar Sohn.

Das Lernen freilassen

Meine These lautet: Dass wir nur noch schwach an die Kraft und die Möglichkeiten glauben, die in uns Menschen schlummern, ist ein Effekt unserer Bildungs- und Erziehungspraxis, die diese Regel zur Ausnahme erklärt hat, um dadurch das Konzept der Disziplin zu begründen.

Wenn wir wollen,

  • dass mehr Menschen als bisher die Verantwortung für das, was sie denken, sagen und tun, wahrnehmen,
  • und dass sie sich in dieser Haltung zusammenfinden und mehr und mehr in Prozesse gestaltend und visionär eingreifen,
  • wenn wir zusammen dafür sorgen wollen, dass sich die Spiralen des Wahnsinns abflachen, verlangsamen und sich in andere, humane und nachhaltige Richtungen entwickeln,

dann sollten wir aufhören mit der Infantilisierung des Menschen durch lehrende und erziehende Systeme. Dann sprechen wir uns am besten jene Verantwortung zu, die uns von Alters her von großen Denkerinnen und Denkern unterstellt wird. Von Sophokles‘ Antigone über Kant bis in den modernen systemischen Konstruktivismus hinein geht es ja immer um die Kraft des Menschen, seiner und ihrer eigenen Verantwortung nachzukommen.

Dass es wirklich ganz anders werden kann, zeigt eines von vielen gelingenden und erfolgreichen Konzepten, das mir neulich im Netz begegnet ist: Die School Circles, die Demokratische Schulen in den Niederlanden praktizieren – nach dem Prinzip Sociocracy. Es gibt eine Video-Dokumentation, die eindrücklich die Unterschiede zum klassischen Schulsystem zeigt, und wie diese Unterschiede praktisch werden. Ich kann diese Doku wärmstens empfehlen, weil sie ein anderes Konzept zeigt, das funktioniert – jenseits aller Vorurteile und Ausreden.

Schließen möchte ich mit einem Statement, das mich sehr berührt hat. Foucault aus Kindermund: