Was wir über die Zukunft von Schule sagen können

Beitragsbild von Gerd Altmann auf Pixabay

Führt Schule zu einer anderen Gesellschaft oder umgekehrt? Wie hängen beide zusammen, und wie wird Schule in Zukunft aussehen?

Schule ist, neben ihrem bzw. durch ihr Wissens- und Erziehungsgeschäft, eine Sortiereinrichtung mit dem Ziel, soziale Verhältnisse zu reproduzieren, indem sie einen ungefähren Ausgleich gewährleistet hinsichtlich der Zugänge zu bestimmten Berufen und der Übergänge zwischen sozialen Schichten (in Deutschland braucht es sechs Generationen, um von einem niedrigen zu einem mittleren Einkommen zu gelangen [Quelle]).

Vier kurze Statements. Zum Originalvideo

Wenn Schule und Umwelt sich auseinanderleben

Eine Veränderung dieser sozialen (kulturellen, ökonomischen) Verhältnisse kommt also eher nicht aus der Schule. Wahrscheinlicher ist, dass sich verändernde Verhältnisse in den Umwelten perturbierend (beeinflussend, aber nicht determinierend) auf Schule auswirken – in ihren Kernfunktionen

  • der Alphabetisierung: was müssen wir wissen und können?
  • der Sozialisation: wie funktioniert Gesellschaft eigentlich?
  • der sozialen Selektion: welche Gesellschaft wollen wir sein?

Je stärker die Veränderungen in den Schulumwelten, umso heftiger die Perturbationen. Das (Schul-)System versucht dann mit aller Kraft, die eigene Funktionalität nach innen zu gewährleisten. Schulentwicklung ist und tut in diesem Stadium erst einmal und immer wieder „mehr desselben“, auch wenn sie es „frisch etikettiert“.

„Mehr desselben“ (Quelle)

Ab einem bestimmten Veränderungsgrad der Umwelten geht das auf Kosten der Anschlussfähigkeit von System und Umwelt, weil das Schulsystem, je stärker es seine Dysfunktionalität wahrnimmt, umso mehr mit sich selbst beschäftigt ist. Indem es (immer) mehr desselben tut, manövriert es sich immer tiefer in die Dysfunktionalität und verliert immer mehr die Systemumwelten aus dem Blick – somit geht die Anschlussfähigkeit zurück. Gleichzeitig suchen und entwickeln die Systemumwelten von Schule nach und nach Alternativen für jene Funktionen, die für ihre eigene Funktionalität und für ihr Überleben wichtig sind – weil Schule das nicht mehr leistet.

Zwei Beispiele dafür, die derzeit noch den Charakter von „Wetterleuchten“ haben, kommen aus der Schweiz. Der Rektor der Universtität Zürich hat im März dieses Jahres (2021) verkündet, dass Studieren in Zukunft auch ohne Matura (Abitur) möglich sein wird (Quelle), und: renommierte Wissenschaftler*innen entscheiden sich vermehrt dafür, sich und ihr Forschen jenseits des Hochschulbetriebs zu oganisieren:

Bruno S. Frey gehört zu den meistzitierten Ökonomen Europas. Jahrzehntelang war er an der Universität Zürich tätig gewesen, bis er das Crema-Institut mitbegründete. «Ich bin von den klassischen Universitäten enttäuscht», sagt er. «Es geht nur noch ums Punktesammeln, die vertiefte Auseinandersetzung mit Themen findet immer weniger statt.» Die privaten Institute seien ein Zeichen, «dass die Unis nicht mehr der einzige Ort sind, um Wissenschaft zu machen», sagt Frey.

Quelle (Paywall).

Auch entstehen schon seit Jahrzehnten vermehrt und niederschwellig Initiativen und Communities, die jenseits des öffentlichen Schulsystems radikal alternative Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen machen (Beispiel). Da fehlt zwar bis heute oft noch eine Finanzierung, um diesen Weg auch für Menschen zu öffnen, die sich das nicht leisten können. Doch es dürfte eine Frage der Zeit sein, bis auch hier das Engagement von Kapitalgeber*innen greift, die verstanden haben, was die Stunde geschlagen hat. Es gehört nämlich nicht viel dazu um zu begreifen, dass Bildung nur dann ökonomisch und sozial wirksam wird, wenn sie in die Breite geht. Wenn es dazu privatwirtschaftliches Engagement braucht, sollten wir das fördern und nicht als elitäres Gedankengut einordnen.

Man mag das als „neoliberalistisch“ abtun, doch irgendwann ist es – nicht egal aber – zweitrangig, woher das Geld kommt, wenn es darum geht, ein dysfunktionales und entwicklungsresistentes Bildungssystem abzulösen und immer mehr Menschen unabhängig von ihrem sozialen Status wirkliche Bildung zu ermöglichen, denn genau hier versagt ja das öffentliche Bildungssystem.

„Elitär“ ist nämlich nicht bloss die Haltung, Bildung für Kinder wohlhabender Zeitgenoss*innen in privaten Schulen zu organisieren. Auch der Reflex, privaten Initiativen in jedem Fall die Verstärkung eines Zwei-Klassen-Systems zu unterstellen, ist eine elitäre Position, nicht zuletzt weil die erstens fast ausschließlich von Menschen artikuliert wird, die ihre eigenen Schäfchen im Trockenen wissen, und weil zweitens „schlechte Bildung für alle“ niemandem gerecht wird.

Eine kritische Beleuchtung solchen Engagements in der Schweiz findet sich hier.

Unbundling: Wehe wenn sie losgelassen…

Diese Suchbewegungen in den Umwelten von Schule bringen im Moment mit sich, dass die traditionelle Bündelung der drei Dimensionen

  • Sozialisation (Erziehung)
  • Alphabetisierung („literacy“)
  • soziale Selektion

und deren normative Delegation an ein einziges System („Schule“) sich nach und nach auflösen: unbundling. Ein schöner Text zu diesem Phänomen hier.

Kultur und Gesellschaft organisieren sich in einem exponentiellen Prozess neu – jetzt auch hinsichtlich Bildung und Lernen. Es kommt zu einer Ent-Institutionalisierung und Fragmentierung von ursprünglich aneinander gekoppelten Systemen, Funktionen und Aufgaben von Bildung, Lernen, Erziehung – und das alles aufgrund einer komplexen Neustrukturierung von Gesellschaft. Dabei werden nicht bloß „die Karten neu gemischt“, sondern ein neues Spiel entsteht – das sich neue Regeln gibt: Wissensproduktion, Kompetenzentwicklung und Qualifikationsprozesse beginnen an Orten zu sprießen, wo sie niemand vermutet hat.

Es ist davon auszugehen, dass auch hier nach einer gewissen Zeit des Mäanderns, des Ausprobierens und der lockeren Bindungen, die sich bilden und wieder auflösen, neue Systeme (ent)stehen werden. 

Im Moment ist das aber Zukunftsmusik. Was wir in den nächsten Jahren zu erwarten haben:

  • eine weiter zunehmende Dysfunktionalität des Schulsystems nach innen,
  • eine entsprechend wachsende Bindung von Ressourcen an den Versuch, die Funktionalität von Schule „nach alten Regeln“ aufrechtzuerhalten bzw. wieder herzustellen (Selbsterhalt durch mehr desselben),
  • die Entfremdung von Schule und Gesellschaft und eine abnehmende gegenseitige Anschlussfähigkeit
  • Prozesse des Neuentwickelns und Ausprobierens in den (ehemaligen) Umwelten von Schule, um die vom Schulsystem nicht mehr erfüllten Funktionen neu zu organisieren.

Wie lange es dauern wird, bis (ob?) daraus wieder eine Art „Schule“ wird und wie die dann aussieht – das ist offen und nicht vorhersehbar. Dafür sind die Wechselwirkungen und Emergenzen in einer Kultur der Digitalität zu groß.