Autor: Christoph Schmitt, Bildungsdesigner, Coach & Supervisor ZFH
Bildungsaktivist, Bildungsdesigner, Ressourcenklempner, Ethiker, Rituals Expert. Ich unterstütze Menschen und Organisationen beim "Digital Turn" - systemisch & lösungsfokussiert.
Ich coache Menschen in ihren Entwicklungsphasen und begleite in einschneidenden Lebensmomenten durch die Gestaltung von Ritualen.
Dass alle ungefähr denselben Rucksack mitbekommen müssen, dass also alle durch Schule so ungefähr mit demselben Gepäck ausgestattet werden müssen, höre ich immer wieder als Metapher, mit der die Notwendigkeit von Schule und Beschulung im Sinne eines Allgemeinguts begründet wird, und gleichzeitig damit durch die Blume oder unverblümt auch die allgemeine Schulpflicht, denn: wie kommen die sonst zu ihren gefüllten Rucksäcken?
Dieselben Rucksäcke – anders gefüllt?
Wenig später höre ich aus demselben System, dass das (aber irgendwie auch wieder) gar nicht geht, weil wir alle mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen zur Schule kommen, womöglich auch mit ganz anderen Rucksäcken: andere Elternhäuser, andere individuelle Kapazitäten, andere soziale Kompetenzen und einiges mehr.
Ein Schweizer Schulforscher, der über 30 Jahre lang mit Kindern und Jugendlichen und ihren Familien Biografie-Forschung betrieben hat, hat darüber hinaus zu Protokoll gegeben: Wir kommen alle schon sehr verschieden auf die Welt, und werden im Verlauf unserer Jugendzeit immer verschiedener.
Womöglich ist das ein der menschlichen Entwicklung innewohnendes Konzept: dass wir unverwechselbare Persönlichkeiten werden – nicht weil wir das wollen würden, sondern weil wir‘s einfach werden.
Das wiederum passt dann nicht mit der Metapher zusammen, dass Schule dafür sorgen muss, dass wir alle so ungefähr denselben Rucksack gefüllt bekommen müssten, oder einen „individuellen Rucksack“ mit demselben gefüllt (wohlhabende Menschen kaufen ihren Kindern vielleicht andere Rucksäcke als Menschen, die jeden Euro drei Mal umdrehen müssen).
Warum muss Schule dafür sorgen, dass bei allen dasselbe reinkommt? Warum muss bei allen dasselbe rein?
Wenn doch alle etwas anderes brauchen …
Wie kriege ich das mit der Erkenntnis zusammen, dass jede und jeder von uns tatsächlich irgendetwas anderes braucht, weil wir ja alle ganz verschieden sind und immer verschiedener werden, und auf lange Sicht bzw. im voraus womöglich gar nicht so genau wissen können, was das exakt ist, das wir hier und jetzt tatsächlich brauchen?
Wie viel Sinn macht dann für alle dieselbe Anzahl Unterrichtseinheiten Lesen, so und so viel Rechnen und so und so viel Schreiben? Die selbengleichen Bücher, Arbeitsblätter, Prüfungen, Orte, Räume, Zeiten?
Und wenn der Umstand, dass die einen anschliessend das eine oder alles besser können als die anderen, womöglich gar nichts mit dem zu tun hat, was die Schule in den Rucksack tut, sondern was alle anderen rein tun oder nicht, auch wenn Schule jedem und jeder den Rucksack gleich füllt – was soll das Ganze dann?
Bildungsarbeit muss dann doch eher ermöglichen, dass jeder einzelne Mensch ganz und gar seine und ihre eigene individuelle Bildungsbiografie schreiben kann. Derselbe Stoff, Inhalt und dieselben Ziele, Wege und Formate für jede und jeden, das ist dann der völlig falsche Ansatz. Immer schon. Nur wir heute wissen halt, dass das der falsche Ansatz ist.
Ausbildung und Lernen nicht länger isolieren in Schulen und Klassenzimmern, sie nicht mehr als ein Produkt verstehen, das die einen machen und die anderen konsumieren, sondern raus aus den alten Hierarchien zwischen Lehrenden und Lernenden. Der Effinger bietet keine „Bildung“ oder Ausbildung“ an, sondern: was da ist, entsteht durch die, die da sind. Der Effinger bietet keine alternativen Lern- und Arbeitsräume an. Die Menschen dort entwickeln sie miteinander – und sich selbst. Das ist der entscheidende Unterschied zu klassischen Vorstellungen und Haltungen von Ausbildung.
Und der Effinger ist ein Verein. Er lebt vom Engagement der Mitglieder. Sie führen dieses Herzensprojekt soziokratisch, also praktisch hierarchiefrei – mit dem Ziel Lernen und Arbeiten zu vergemeinschaften. Es menschlich zu machen und nachhaltig.
Wenn dieser Begriff irgendwo passt, dann hier. nachhaltig lernen und nachhaltig arbeiten.
Hier mein Video von dieser wunderbaren Expedition:
Immer wenn ein Boomer oder eine Boomerin darüber spricht, wie die Zusammenarbeit mit der Generation Z gelingen kann, werde ich misstrauisch, denn es ist ja in jedem Fall eine Boomersicht – und die erweist sich in letzter Zeit eher als Teil des Problems. Da ich selber ein Boomer bin, bringt mich das in eine Zwickmühle. Es erhöht mein Misstrauen gegenüber meinen eigenen Überzeugungen und Einstellungen.
Andererseits erlebe ich die Zusammenarbeit mit deutlich jüngeren Menschen als enorm inspirierend, entspannend, entlastend, lösungsorientiert, als anschlussfähig, flexibel, kompromissbereit.
In der Zusammenarbeit mit der Generation Z und noch jüngeren Menschen kommen für mich pausenlos alternative Sichtweisen ins Spiel, deren Qualität sehr wohl etwas mit der Zugehörigkeit zu einer Generation zu tun haben. Hier erlebe ich auch die so dringend notwendige Diversität, die uns dabei hilft, mit den komplexen Herausforderungen der Gegenwart klar zu kommen.
Szenenwechsel
XUND in Luzern ist das zweitgrösste Bildungszentrum für Gesundheitsberufe der Schweiz. Zusammen mit über 250 (!) Betrieben der in der Zentralschweiz trägt es die Verantwortung für die Ausbildung Pflegender Berufe.
Diese Berufe hängen heute und in Zukunft komplett davon ab, ob sich junge Menschen für sie entscheiden – und ob sie dabei bleiben. Das habe ich über neun Monate hinweg zum Thema gemacht. Als interner Bildungsentwickler habe ich habe im Auftrag von XUND Studierende befragt und Mitarbeitende, Lehrende und Weiterbildende. Vertreter*innen aus den Betrieben. Ich habe Interviews geführt, Diskussionen moderiert, Ergebnisse visualisiert.
Im Ergebnis erweist sich über alle Interviews, Rückmeldungen und Einschätzungen hinweg die Entwicklung einer neuen Kultur der Zusammenarbeit als spielentscheidend für die Zukunft.
Es lohnt sich also definitiv, im Kontext der Pflegeinitiative Ressourcen zu investieren, um neue Formen der Zusammenarbeit zwischen allen Involvierten zu entwickeln, denn:
Ein wesentlicher Gelingensfaktor um den Personalnotstand und den Fachkräftemangel umzukehren, liegt in der Art und Weise, wie die Menschen in Schule, Ausbildung und Pflegealltag zusammenarbeiten.
Hier liegt der Schlüssel für die Zukunft der Pflegeberufe – und übrigens auch für den Beruf der Lehrpersonen, für die Berufe der Sozialen Arbeit, der Gastronomie, im Tourismus, in der IT und auf dem Bau. Diese neue Kultur hat einen Namen:
Es geht um Kollaboration
Die ist nicht einfach eine neue Form der Arbeitsorganisation, wie häufig missverstanden wird. Sie ist eine neue Kultur der Zusammenarbeit – die im Moment einzig erfolgsversprechende, um junge Menschen ins Boot zu holen, und um den rasanten, fundamentalen Umwälzungen in der Arbeitswelt erfolgreich zu begegnen.
Wie ich darauf komme und warum ich Kollaboration für eine veritable Lösung halte, das beschreibe ich in diesem Video:
Gefängnisinsassen, die das Gitter von ihrem Fenster feilen, um anschliessend eine Grillfete zu organisieren. Im Ernst?
Ein Bild dafür, wie wir hier in dieser Gegend Freiheit handhaben. In der Politik, bei der Arbeit, in der Schule, in unseren Beziehungen.
Sind die Gitter erst einmal weg, sind wir zufrieden. Projekt abgeschlossen. Wir feiern. Das Ziel ist nicht frei zu werden, unabhängig, autonom, selbstbestimmt. Die freie Sicht reicht schon – und Freiheit selbst ist längst pädagogisch geworden: „Wie ich lerne, ein Gitter zu zersägen.“
Anschliessend feiern wir. Nicht weil wir frei sind, sondern um uns etwas Gutes zu tun. Um uns zu belohnen. Die einen mit Fleisch, die anderen vegetarisch, wieder andere vegan. Wir sind da ganz frei.
Sind wir das?
Denn mal ehrlich: Es reicht doch auch, sich der Möglichkeiten bewusst zu sein, die mann und frau sich geschaffen hat. Feilend. Es reicht um die Möglichkeiten zu wissen. Sie ganz bewusst zu geniessen!
Das freie Fenster genügt: Jederzeit gehen zu können. Die Alternativen zu haben ermöglicht zu bleiben. Nicht eingesperrt zu sein ist die Errungenschaft.
Das neue Gefängnis.
Möglich wurde diese Neukomposition dadurch, dass in unserer Gegend die Kämpfe gegen Unterdrückung längst gekämpft sind.
In den grossen Erzählungen (andere Baustelle) gibt es eine Befreiung, die in die Freiheit führt: durch das Schleifen der Rahmenbedingungen. In unserer Gegend ist die Freiheit eine Rahmenbedingung. Eine totale. Ein Kampf ist – wenn überhaupt – nur noch gegen die Freiheit möglich. Gegen ihre Risiken und Gefahren. Gegen ihre Zumutung.
Eine andere Sicht auf Freiheit
Da machen wir lieber eine Grillfete. Und für die kämpfen wir auch – zur Not. Denn wir haben sie uns verdient. Mit Fleisch, vegetarisch und vegan.
ChatGPT hat ein weiteres Mal den Vorhang gelupft, wodurch wieder einmal, in immer kürzeren Abständen, der Stand der Entwicklung sichtbar wird, die „wir nicht für möglich gehalten hätten“.
Es entsteht also regelmässig der Eindruck von Plötzlichkeit, ähnlich wie beim Klima. Dabei handelt es sich um eine Kontinuität mit exponentiellen Effekten, die auch pausenlos beobachtbar ist und reflektiert wird. „Plötzlich“ kommt das nur für die, die den Rest ihrer Zeit mit Abwinken beschäftigt sind.
Doch ichduersiees kann diese Kontinuität wahrnehmen, gestalten, einbauen, indem ich z.B. in den entsprechenden Netzwerken unterwegs bin, indem ich Diskussionen und Foren folge, an ihnen teilnehme. Indem ich Interesse entwickle, Neugier, indem ich verstehen und begreifen will und mitgestalten. Die Möglichkeiten nutzen, den Einsatz von Technologien kritisch begleiten, meinen Beitrag leisten – zusammen mit anderen.
Das alles ist möglich – und es geschieht. Es gibt mehr Menschen, die in Digitalien leben, arbeiten und mitreden, als in den Katakomben Analogistans und Pädagogistans vermutet wird. Das hat den Vorteil, dass sich Alternativen schon lange bilden, entlang der technologischen Entwicklungen. Die Kultur schläft nicht. Es gibt nicht nur die negativen Folgen von Technologie, die vor allem von Exponent*innen und Fans des Bildungssystems bewirtschaftet werden.
Diese Ängste kommen vor allem daher, dass die, die sie haben, uninformiert sind, nichtwissend und hilflos. Sie setzen sich nicht konsequent mit diesen Dingen auseinander. Sie lassen sich intellektuell und alltagspraktisch vor den Möglichkeiten hertreiben – und immer wenn der Vorhang mal wieder aufgeht, geht das Gezeter los. Jedes Mal dasselbe Gezeter. Wie bei den Fröschen des Ovid. Es geht ein Zaudern und Zittern durch die Gehege, das sich schnell wieder legt.
Ich vermute, dass das Schulsystem in nicht allzu ferner Zukunft einfach den Referenten auswechseln wird. Nicht mehr Wikipedia oder Google, die ehemaligen Erzfeinde, die heute nicht mehr wegzudenken sind, sondern in Zukunft eben openai und ihre Derivate. Schule wird vor der Abhängigkeit einknicken und neue Kontrollettis für die Kids erfinden, damit das Gefühl erhalten bleibt, wenigstens irgendwas kontrollieren und bewerten zu können.
Die technologischen Entwicklungen werden nicht dazu führen, dass Schule anfängt sich grundsätzlich zu hinterfragen, auch ihre eigenen Referenz-Systeme nicht. Sie werden keine Kehrtwende hinkriegen zur Entwicklung tatsächlichen Kritischen Denkens, zu einer selbstverständlichen Praxis von Kollaboration, für ein next level der Kommunikation, oder für das Ertüfteln von Problemlösekompetenz. Sie werden weiterhin unterrichten, unterrichten, unterrichten, neue Fächer raushauen, fancy Prüfungstools raushauen, am linearen Präsenzgedöns festhalten – und selbstverständlich weiterhin Hausaufgaben verteilen bis der Arzt kommt. Schule kann nur mehr desselben, in einer Welt, in der kein Stein auf dem anderen bleibt.
Allen, denen das Angst macht, sei gesagt: Die Alternativen existieren. Es gibt genügend Initiativen in Forschung, Ökonomie und Bildung, die mit hohen ethischen Standards und klaren Zukunftsvisionen unterwegs sind. Das ist jedoch kein Grund, sich zurückzulehnen sondern einer, sich einzusetzen: dafür, dass diese Alternativen zu den absterbenden Systemen an Stabilität gewinnen, an Tragfähigkeit, an Belastbarkeit.
Hier kommt mein Neujahrsvideo – und mein Fünf-Punkte-Plan
Was uns Schule als defizitär spiegelt, sind in Wahrheit unsere Ressourcen und Potenziale. Wir brauchen also ein reframing Das geht nur über einen Paradigmenwechsel: Wir gehen voll in die Verantwortung für unser eigenes Lernen.
Das Ziel ist: Lernen zu entschulen.
Ausbrechen aus Pädagogistan. Colearning forever!
Mein Fünf-Punkte-Plan
1. Sich der systemimmanenten Kontrollneurose bewusst werden, die einerseits über die Instrumente des Bürokratischen den ganzen Bildungsbereich lähmen, aber auch die eigenen kontrollneurotischen Anteile realisieren, die in jeder und jedem einzelnen von uns stecken, und die wir vor allem dann aktivieren, wenn es um Kinder, um Jugendliche und um Lernen geht.
Es ist wirklich ganz viel in dem Moment erreicht, wo wir Alternativen für unser Kontrollregime entwickeln.
2. Mindestens so wichtig: Konfliktkultur, gepaart mit Bedürfnismanagement. Auch da haben wir wahnsinnig viel aufzuholen, damit wir nicht pausenlos ausweichen, wenn es stattdessen darum gehen würde, Konfliktlinien zu benennen und zu überschreiten, um gemeinsam auch streitend Schritt für Schritt weiter zu kommen.
3. Aus der Schulpflicht konsequent eine Bildungspflicht machen. Dazu jene zivilgesellschaftlichen Kräfte ans Licht holen, die vorhanden sind. Dieses Engagement vor den Kontrollneurotiker*innen schützen (das helvetische Pendant zu Profilneurotiker*innen ennet der Grenze), zur Not gesetzlich.
4. Steuergelder anders verteilen. In jedem Fall gesetzlich
Es geht nicht bloss um Zukunft. Es geht um eine neue Zukunft. Eine, die nicht mehr länger nur eine Geburt der Gegenwart ist und ihrer DNA.
Das Möglichwerden einer Gegenwart aus Zukunft verhindern wir mit all unserem Tun. Pädagogisch, ökonomisch, gesellschaftlich, politisch. Wir verwerfen Zukunft als Möglichkeit mit jeder unserer Aktionen. Konzertiert. Wir reduzieren ihre Wahrscheinlichkeit, ihren Kern auf das uns mögliche Minimum. Wir vererben ausschliesslich. Nur noch. Geld und Müll. Zukunft hingegen ist ein Habenichts. Darum ekeln wir uns vor ihr.
Mit Hilfe unserer beiden Lieblingsfetische: Techno- und Bürokratie verwehren wir uns gegen Zukunft. Wir sperren sie aus, indem wir darüber bestimmen, wie alles zu sein hat: Menschen, Organisationen, Pläne, Strukturen, Abläufe, Biografien.
Wir verunmöglichen das Werden. Wir verunmöglichen es ihm selbst. Was von selbst wächst, ist für uns ein potenzielles Geschwür. Wo wir es nicht kontrollieren können, trauen wir ihm nur zu, Geschwür zu werden. Wir beten das Wachstum an und misstrauen dem Wachsen.
Alles Unkontrollierte macht uns panisch: Flüchtende, Unbekannte, Neue, überhaupt Andere und Anderes. Und zu der Angst vor dem Fremden gesellt sich neuerdings die Furcht vor dem Bekannten, vor dem allzu Ähnlichen, das uns zu nahe kommen könnte.
Wie pervers wir doch sind: Wir haben nur noch unsere Angst um unsere Gegenwart. Zu ihr erhält Zutritt nur, wer oder was die Kriterien unserer Vergangenheit erfüllt, die wir für unsere Bestimmung halten – und für die Bestimmung eines und einer jeden. Das kann Zukunft aber nicht: die Kriterien der Gegenwart erfüllen, die ganz aus aktualisierter Vergangenheit besteht und mit ihr ausgekleidet ist. Zugekachelt.
Deshalb ekeln wir uns vor Zukunft; wir haben sie zur Bedrohung gemacht, zu etwas, das lauert, dräut.
Darum beschulen wir: um Lernen zu verhindern – jenes Lernen, das ein Blind Date mit Zukunft ist. Weil wir lehren, verhindern wir Entdecken – bei uns und allen anderen.
Wir zwingen alles in die totale Gegenwart, die zum Bersten übersättigt ist mit allem, was (sie) jemals war. Wir zwängen jedes einzelne Kind in unser Prokrustesbett, wo immer schon jemand liegt, um jenes Wachsen zu verhindern, das aus der Korrespondenz mit Zukunft entstehen würde.
Ihr lassen wir unsere Kinder erst dann begegnen, wenn sie sich unser Zukunftsmisstrauen zu eigen gemacht haben. Zertifiziert.
Alles hat präsent zu sein und sich der Gegenwart einzufügen, anzupassen, unterzuordnen, was Zukunft gar nicht kann. Nichts wird möglich, was allein sie ist: möglich.
Also bedeutet „sich der Verantwortung stellen“ heute, sich der Zukunft stellen. Wir konfrontieren Zukunft nicht länger mit uns, wir lassen uns durch Zukunft konfrontieren.
Schule ist einer der letzten Kontexte, in denen der Reflex und die Kultur der Kolonialisierung, deren Muster und Absichten bis heute in Reinform praktiziert werden – und zwar nicht erst dort, wo wir unsere Vorstellungen von Schule, Erziehung und Sozialisation anderen Kulturen überstülpen, was ja den eigentlichen kolonialistischen Reflex bildet, sondern täglich im eigenen Haus.
Klar: auch der Kolonialismus ist nicht „Geschichte“. Das deutsche Wesen, an dem die Welt genesen soll, ist omnipräsent; die historischen Bemühungen des vereinigten Königreichs, exakte Kopien seines Bildungssystems in „Entwicklungsländer“ zu exportieren, sind bis heute ohne Einschränkung wirksam. Die deutschen oder schweizerischen Auslandsschulen beschulen bis heute rund um den Erdball den Nachwuchs elitärer Gruppierungen – und zwar mit Lehrpersonal, das über ein deutsches oder schweizerisches Diplom verfügt.
Was damit nicht gemeint ist
Doch der kolonialistische Reflex aktualisiert sich nicht nur dort, wo die so genannte erste Welt ihre Bildung in aus ihrer Sicht zweite und dritte und vierte Welten exportiert. Vielmehr unterzieht unser Staatswesen zuerst und vor allem den eigenen Nachwuchs dem kolonialistischen Reflex. Das deutsche oder schweizerische Bildungssystem ist nicht zuerst ein unschuldiges nationales, das dann und darüber hinaus noch zum Zweck der Kolonialisierung exportiert wird. Es ist in seiner Wurzel kolonialistisch. Das Schulsystem kolonialisert.
Dabei geht es diesem Gedankengang überhaupt nicht darum, Bedürfnisse und Bedarfe von Kindern zu leugnen, sich in und an den kulturellen Mustern und Techniken zu orientieren, innerhalb derer sie aufwachsen. Junge Menschen brauchen und bekommen in jeder Kultur schon immer Anleitung, Unterstützung und Führung bei den Bemühungen, eine aktive, gestaltende, partizipierende, teilgebende und teilnehmende Person in ihrer Kultur zu werden. Diese Vorgänge gehören im Kern zu Kultur. Darum geht es (mir) nicht. Es gehört ja zum Wesen von Kultur, dass der Nachwuchs einer jeden Kultur von der Kultur in diese Kultur eingeführt wird und sich hineinlebt. That’s life.
Kolonialismus statt Inkulturation
Es geht mir hier einzig um den Kern jedes Kolonialismus, dass er Gruppen von Menschen systematisch und methodisch unter sein Prozedere und unter seine Normen zwingt. Dafür entwickelt er ein Instrumentarium, Strukturen, Infrastrukturen und Prozesse, Rollen und Funktionen, ganze Systeme. Junge Menschen wachsen dann nicht in erster Linie auf „ganz kultürliche“ Weise und mit zunehmendem Alter in eine Kultur hinein, in der sie sowieso leben. Es werden vielmehr staatlich – und nicht zivilgesellschaftlich – verantwortete und kontrollierte Institutionen gegründet, denen der Auftrag der Inkulturation exklusiv zukommt – und zwar so, dass keine andere kulturelle, gesellschaftliche Institution sich dagegen wehren kann, nicht einmal Eltern. Alles was mit Erziehung, Inkulturation und Sozialisation zu tun hat, hat sich dem staatlichen Apparat unterzuordnen.
Das ist auch die autoritäre Wurzel jeder kolonialistischen Aktivität.
Quelle
Der kolonialistische Reflex sieht den Menschen in seiner und ihrer ganzen geschlechtlichen und überhaupt kulturellen Vielfalt nicht. Er ignoriert sie hoheitlich, und macht sie zum Objekt der Kolonialisierung: der systematischen kulturellen Programmierung.
Schule ist auf diese Weise kolonialistisch. Alles, was das Objekt der Kolonialisierung an eigenen Bedürfnissen, Bedarfen und Lebensäusserungen einbringen kann oder könnte, wird dem Kolonialisierungsreflex untergeordnet: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Der kolonialistische Reflex entzieht denen, die er zu kolonialisieren gedenkt, ihre kulturelle Autonomie und Gestaltungshoheit, er verneint den Eigenwert vorfindlicher Kulturen und wird an deren Stelle selber aktiv. Normativ. Schule ist kolonialisierend.
Schule: Der allgegenwärtige Kolonialisator
So versteht sich und so agiert Schule aus Prinzip. Ihr kolonialistischer Reflex weist der kulturellen Kompetenz, der Vielfalt und Diversität der Kulturen einer „Bevölkerung“ und ihrer Region den Rang und die Funktion von Folklore zu: Schriftsprache schlägt Dialekt, sie ergänzt ihn nicht. Auch alle weiteren identitätsstiftenden kulturellen Symbole und Aktivitäten tauchen übers Jahr hinweg marginalisiert und in folkloristischer Form auf. Sei es jetzt eine Fronleichnamsprozession oder eine Love-Parade.
Dabei rede ich hier nicht einer Kritik der Vereinheitlichung das Wort. Mir geht es um den kolonialistischen Reflex, der sich nicht zu den geltenden kulturellen Gepflogenheiten gesellt, der sich nicht neben all das andere stellt, was für die Menschen, die er zu kolonialisieren gedenkt, Kultur bedeutet. Schule geht es in ihrem kolonialistischen Wesen nicht darum, Menschen und ihre Kulturen und Identitäten zu respektieren und in ihrem kulturellen Lebensformen (Arbeit, Freizeit, soziales Miteinander, kulturelle Ausdrucksformen) wertzuschätzen, denen sie ihre Bildungsarbeit „schenkt“.
Tatsächliche Kultur in ihrer kultürlichen Vielfalt ist nie Grundlage dessen, was das kolonialistische Gebaren von Schule praktiziert. Es ist umgekehrt. Schule ist eine Institution, die ihren Auftrag darin sieht, das kulturell Normative lückenlos zu repräsentieren und durchzusetzen – und zwar bis tief hinein in jeden einzelnen sozialen und individuellen Lebenskontext. Sie bestimmt die Gestaltung aller kulturellen Aktivitäten und Lebensäusserungen derer, auf die sie Zugriff hat, und das sind in unserer Kultur alle.
Das geht nicht – sagen die Schweizer*innen mit diesem Bonmot. Entweder du bekommst das Brötchen, oder du behältst dein Geld. Sowohl-als-auch funktioniert nicht. Doch ausser beim Bäcker ist die Überzeugung, dass beides geht, hierzulande sehr beliebt. Die Schweiz mag keine Extreme. Es sollte immer beides Platz finden – und das wird in dem Moment zum Problem, wenn es nur ein Entweder-Oder gibt.
Greta Thunberg schreibt in ihrem neuen Buch:
Manches ist durchaus schwarz oder weiß. Tatsächlich haben die Erde und die Gesellschaft Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Wir glauben beispielsweise, unsere Gesellschaften könnten ein bisschen mehr oder weniger nachhaltig sein. Aber langfristig können wir nicht ein bisschen nachhaltig leben – entweder wir leben nachhaltig oder nicht. Es ist, als ginge man über dünnes Eis – entweder es trägt das Gewicht oder nicht. Entweder man schafft es ans Ufer oder man bricht in tiefes, dunkles, kaltes Wasser ein. Und wenn uns das passieren sollte, gibt es keinen nahen Planeten, der uns rettet. Wir sind völlig auf uns allein gestellt.
Thunberg, Greta. Das Klima-Buch (S.34). FISCHER E-Books.
Wir glauben auch es reiche aus, Schule, Aus- und Weiterbildung ein wenig anders zu machen als früher und heute. In letzter Zeit vor allem „digital“. Fernunterricht ist da eine beliebte Vokabel, die anzeigt: Es ist und bleibt Unterricht. Einfach in die Ferne und aus ihr.
Die Situation ist paradox wie nie: Wir stecken in so „brutalen“ Entwicklungen und Veränderungen, ganz tiefgreifend und in vielerlei Kontexten unumkehrbar – und das Bildungssystem schenkt uns ergänzend zum Präsenzunterricht den Fernunterricht – also den digitalen Präsenzunterricht.
Im Kontext von Bildungsarbeit dreht sich das Diskussionskarusell pausenlos im Sowohl-als-auch-Modus: Wir wollen sowohl Unterricht als auch selbstorganisiertes Lernen. Wir sind sowohl Lehrer als auch Lerncoaches. Wir machen sowohl Fremdbeurteilung als auch Selbsteinschätzung, es gibt sowohl selbstbestimmtes Lernen als auch klare Reglementierung. Den Fünfer und das Weggli.
Ich würde einem Sowohl-als-auch in dem Moment zustimmen, wenn das Bildungssystem nicht mehr monopolistisch wäre und Menschen tatsächlich die Möglichkeit eines Sowohl-als-auch hätten. Doch da der Staat auf der Bildung drauf sitzt wie Onkel Dagobert auf dem Geld, da sich also niemand, kein*e Lernende*r, keine Mutter und kein Vater für oder gegen Lernen mit Lehrer*innen, für oder gegen fertige Vorgaben, One-Size-Fits-All-Prozesse, fixe Inhalte, Zeiten, Rhtythmen, fremdgesteuert Auswertungsprozesse u.v.m. entscheiden kann, gibt es ja ein tatsächliches Sowohl-als-auch gar nicht – weil es de facto nicht existiert.
Sobald die Alternativen gleichwertig, gleichberechtigt und gleich finanziert nebeneinander stehen, können wir über Sowohl-als-auch reden, weil wir dann die Wahl haben und echte Entscheidungen treffen können. Dann kann jede und jeder aus freien Stücken entscheiden, welchen Formen von Bildungsarbeit er und sie den Vorzug gibt. Das wäre dann beste liberale, Schweizer Tradition.
Unsere Liebe zum Problem
Doch in der Bildung investieren wir vor allem ins Problem. Deshalb kehrt es auch jeden Morgen wieder. Wir haben es im Gepäck. Wir sind davon überzeugt, dass wir ohne das Problem nicht leben können. Deshalb machen wir es zu einem Teil der Lösung. Feierlicher gesagt: Wir reframen das Problem. Der Cartoon bringt es auf den Punkt:
Die eingefleischten Sowohlalsauchler sagen mir jetzt: „Der Cartoon zeigt, dass es eben beide Perspektiven braucht, lieber Christoph. Sowohl als auch!“ Da ist was dran. Aber doch nur, um besser mit dem Problem klar zu kommen, nämlich eingesperrt zu sein. Dann sagen sie: „Aber nein, nur der, der das schöne Bild malt, wird eine schöne Zeit im Knast haben, und er wird sich viel besser auf die Zeit danach vorbereiten, weil er eine Vision hat, ein Annäherungsziel – und er ist doch ein viel netterer Zellenkumpan, weil er die Dinge positiv sieht. Mann muss in allem das Positive sehen.“ (Hier eine fundierte Gegenposition)
Und dann sagen sie noch, das könne mann übrigens gar nicht miteinander vergleichen: Gefängnis und Schule. Eingesperrt sein und Lernen: „Entweder Knast, oder Schule, Christoph!“ Oder wie Lehrer am Gymnasium bis heute gerne sagen: „Du bist freiwillig hier, mein Lieber.“
Unsere Welt würde heute schon völlig anders aussehen, besser, menschlicher, wenn junge Menschen gleichwertige Partner*innen in ihrer Bildungsarbeit wären. Wenn Bildung und Bildungssysteme ihre Aufgabe nicht mehr darin sehen würden, unsere toxische Kultur zu reproduzieren und stattdessen von der Zukunft her zu denken, zu planen, zu handeln und zu ermöglichen.
Nur das eigene Weltbild bestätigt zu bekommen ist die beste Voraussetzung dafür, um von der Evolution weggespart zu werden – und das passiert gerade: mit festem Griff und unübersehbar arbeiten wir an unserer Abschaffung. Exponentiell, wuchtig, kulturell, ökonomisch, sozial, ökologisch. Wir kommen nicht hinterher mit unserer Anpassung an die selbst erschaffene, hoch komplexe Welt, an die multiplen Realitäten, in denen Gedachtes, Gefühltes und Kommuniziertes nicht länger als für die Dauer eines Flügelschlages gelten.In der alle zugleich recht haben und falsch liegen.
Gleichzeitig tut meine eigene Generation, ein nach wie vor unüberschaubar grosser Haufen an patriarchalen, paternalistischen und heteronormativen Männern und Männerbünden, durchaus unterstützt von ihren Frauen und anderen weiblichen Fans, Tag für Tag nichts anderes, als mit Klauen und Zähnen ihr Welt- und Menschenbild zu verteidigen in all den Entscheidungen, die sie fällen und in den Entscheidungen, die sie nicht fällen. Sie versuchen mit Hilfe der von ihnen geschaffenen und ererbten Systeme ihren Kosmos aufrecht zu erhalten.
Was sich nach und seit der letzten Präsidentenwahl in den USA abspielt, eignet sich zum Urbild einer neuen Gesellschaftsordnung: Der spätestens seither endlose Aufmarsch von Anhänger*innen irgendeines abgewählten Irgendwems – kopiert in andere Länder und Wahlen und Übernahmen. Die Weigerung, Wirklichkeiten, Realitäten, Tatsachen und Zusammenhänge anzuerkennen – das alles hat hohen Symbolwert: Es ist die Spitze eines Eisbergs, ein Aufbäumen und Aufbegehren gegen den Untergang einer Welt, gegen das nie eingehaltene Versprechen unendlichen Wachstums, Wohlstands, Konsums.
Diesseits des Teichs gibt es diese Veitstänze auch – obwohl es eigentlich wurscht ist, wo die Performer ihren Wohnsitz haben, denn das Phänomen ist digitalglobal – auch wenn die Rezeptur ein Kind der Industrienationen ist. Im Team sind: allerlei Querdenker*innen, sich anschmiegende Rechts- und Reichsbürger*innen, Trans- und Homophobe, Rassist*innen, Wissenschaftsfeind*innen, Misogyne, Heterosexist*innen, Klimakastastrophenleugner*innen, Relativierer*innen und solche, die es übertreiben (womit auch immer, also auch mit dem Relativieren), die eiskalten und die lauwarmen Neoliberalisten – und die sich wohlfeil artikulierenden Beobachter*innen. Wir bilden zusammen einen wabernden Sauerteig, der sich durch die sozialen Netzwerke schiebt.
Verharmlosend kommentiert und begleitet von Politiker*innen, Minister*innen, Gerichten und Polizeieinsätzen führen wir uns beinahe täglich vor Augen, wie macht- und wirkungslos unsere politische Kultur geworden ist, und wie wenig wir auf die ideologische Unabhängigkeit und Klarsicht jener hoffen dürfen, die einst installiert wurden, um unser Verständnis und unsere Praxis von Rechtstaatlichkeit zu gewährleisten.
Die Reproduktion der toxischen Kultur
Je mehr wir diese nie da gewesenen Entwicklungen und Erscheinungen auf der sozialen, auf der ökologischen und auf der ökonomischen Ebene in all ihren Wechselwirkungen mit Hilfe der alten Muster und Strategien und Abläufe anpacken, umso mehr sind wir zum Scheitern verurteil. Wir reiten uns gegenseitig immer tiefer in die Scheisse.
Das Schulsystem ist ein anschauliches Beispiel dafür, was ich damit meine: nicht erst seit der Corona-Pandemie, aber jetzt in zunehmend absurdem Ausmass erweist es sich als komplett ungeeignet, Lösungen zu entwickeln und umzusetzen für die Lern-, Lebens- und Arbeitssituationen, für die kulturellen Bedingungen, in denen wir leben: ökologischer, ökonomischer und sozialer Art. Schule vernetzt sich nicht, Schule öffnet sich nicht in Richtung Gesellschaft und Ökonomie, Schule digitalisiert sich nicht (sie kauft höchstens Technologie ein, wenn sie die Kohle hat), Schule entwickelt keine neuen Formen der inter- und transdisziplinären Kommunikation, sie tut nichts dergleichen. Sie hat den Anschluss und die Glaubwürdigkeit längst verloren. Es gibt sie nur noch, weil wir nicht wissen, wohin mit ihr – und mit all den Lehrer*innen.
Wir nehmen die nächste Generation in Geiselhaft für unsere eigene ZukunftsUNfähigkeit, die wir in allen relevanten Bereichen täglich unter Beweis stellen: Klima, Politik, Bildung, Ökonomie, Lebensgrundlagen.
Wir verfügen über abundante Mengen an Information, und kriegen keine Lösungen hin für auch nur eines unserer Überlebensprobleme. Stattdessen tut Schule nichts anderes als Information zu reproduzieren: Stoff büffeln, Prüfen statt Lernen, Bulimiepädagogik und pädagogischer Aberglaube, Jurassic Park, Selektion, Lernmüdigkeit evozieren.
Dieser Aberglaube sitzt noch immer ganz tief in den Köpfen der Lehrenden, der Bildungspolitiker*innen, der Schulleiter*innen und der Didaktiker*innen und nicht zuletzt in den Köpfen von Eltern, und er wird wohl nie verschwinden, die Erbsünde aller Beschulung: dass das Wissen in den Kopf gepresst werden muss, koste es, was es wolle. Sie alle halten an dieser Ideologie fest, wie der Gläubige an seinem Gott („Uns hat’s auch nicht geschadet“ bzw. „Das Hirn ist ein Muskel“).
Dieser absurde Umgang mit Wissen hat uns dorthin geführt, wo wir heute sind: in die lähmende Überinformiertheit.
Da hilft auch kein Lehrplan21 und dieses Gerede über Kompetenz. Letztere scheitert im Keim am systemisch gedeckten Starrsinn. Das Corpus Paedagogicum hat immer noch nicht verstanden (!), wie Lernen funktioniert – vielleicht, weil sie es in ihrer eigenen Ausbildung zum Lehrer und zur Lehrerin gepaukt und auswendig gelernt und wieder vergessen haben, und vor allem: weil sie es nie selber erfahren haben, denn sonst hätten sie eine Vorstellung davon, wie viel Potenzial und Lebenszeit junger Menschen sie mit diesem Beschulungszirkus verschleudern. Und wenn diese jungen Menschen dann auf ihre Art protestieren, weil sie endlich lernen wollen statt unterrichtet zu werden, setzt sich der Sanktionsapparat in Bewegung: Von Strafe über Medikation bis hin zu spezieller Betreuung.
Und Jahre später kommen die Agil Coaches und Scrum Masters, die Holokraten und Soziokraten, und müssen Schicht für Schicht abtragen, müssen all das mühsam ent-lernen helfen, was das Bildungssystem an Irrtümern und Haltungen aufgeschichtet hat: Hierarchiegläubige Mitarbeitende, die keinen Schritt ohne Anweisung machen, um nicht den Unbill von Vorgesetzten auf sich zu ziehen, die im Übrigen ja dafür da sind um uns zu sagen, wo es wie langgeht und was wir zu liefern haben – wie seinerzeit in der Schule auch.
Unter anderem Bruno Latour wird der Satz untergeschoben, es sei leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Letzterer kann in diesem Satz problemlos durch „Schule“ ersetzt werden.
Das Stockholm-Syndrom
Bis heute kommen Lehrer*innen und Dozierende um die Ecke, die als Begründung für das, was sie tun, die Lernenden anführen; gipfelnd in der Phrase: „Die wollen das ja. Die sind dankbar dafür, dass wir ihnen sagen, wo es wie lang geht.“ Solche argumentativen Nebelkerzen zeigen mir überdeutlich, dass es höchste Zeit ist, den Taschenspielertrick zu entlarven: die Identifizierung der Opfer mit den Tätern. Es geht jetzt darum, die Lernenden aus dieser Geiselhaft entlassen. Wir sollten aufhören, sie weiterhin als Kronzeugen für die Richtigkeit dieses Irrsinns zu dressieren.
Wenn wir junge Menschen nicht nur als Beschulungsmasse missbrauchen und nicht bloss über ihre Köpfe hinweg ihre Biografien und Zukünfte bestimmen würden, dann würde es uns allen grad viel besser gehen. Wir brauchen den radikalen Generationenwechsel, und haben doch überall nur das Stockholm-Syndrom: Die in Geiselhaft genommene nächste Generation entwickelt nach wie vor mehrheitlich Empathie, Mitgefühl und Verständnis für die, die ihnen die Zukunft nehmen.
Wir haben ja nicht nur keine zukunftsfähigen und zukunftsorientierten Bildungskonzepte. Corona hat offenbart: Unsere Schule ist ein System, das sich selbst überlebt hat, und das jungen Menschen keinerlei Zukunftsperspektiven anbietet, die den Namen verdienen – auch nicht was die Zukunft ihrer Gesellschaften, und was die Zukunft der Arbeitsmärkte und der Arbeitsformate betrifft.
Diese Welt würde heute schon völlig anders aussehen, besser, menschlicher, wenn junge Menschen gleichwertige Partner*innen in ihrer Bildungsarbeit wären. Wenn Bildung und Bildungssysteme ihre Aufgabe nicht mehr darin sehen würden, unsere toxische Kultur zu reproduzieren und stattdessen von der Zukunft her zu denken, zu planen, zu handeln und zu ermöglichen.
Stattdessen werden junge Menschen so früh und so lange wie möglich in Klassenzimmer gesteckt, die den Mief des vergangenen Jahrhunderts atmen, und in denen
über das Framing, die Rollen und Funktionen, die Struktur, die Hierarchie,
über ein total veraltetes Leistungs- und Konkurrenzdenken, über die Inhalte, die Abläufe,
über das in seiner Wurzel unfaire und unmenschliche Benoten,
über das Instruieren und Gleichschalten
das Mindset einer Kultur und Gesellschaft reproduziert wird, die uns an den Abgrund geführt haben, an dem wir gerade stehen.
Ich halte an meiner Vision fest
Doch bis heute ist und bleibt das meine Vision: Dass es die Alten endlich schaffen, den Reflex bei sich auszuschalten, junge Menschen bei jeder Gelegenheit zu belehren und mit ihrem vermeintlichen Wissen und ihrer sogenannten Weisheit zu versorgen.
Dass die Alten stattdessen eine aufrichtige Ehrfurcht entwickeln vor jungen Menschen, die sich anschicken, dieser Welt eine Zukunft zu ermöglichen. Dass die Alten es als eine Ehre empfinden und ausdrücken, wenn ein junger Mensch ihre Nähe sucht, um mit sich selbst weiter zu kommen.
Ich halte noch immer an der Möglichkeit einer Welt fest, in der die Alten einen tiefen Respekt entwickeln vor den Jungen und ihnen auf diesem Weg zeigen, wie wertvoll sie sind für die Zukunft dieser Welt. Respekt und Ehrfurcht vor denen, die der libanesisch-amerikanische Philosoph Kahlil Gibran „Die Söhne und die Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber“ nennt.
Ich bin davon überzeugt, dass nur auf diesem Weg eine Kultur der Menschlichkeit in unsere Welt kommt. Alles andere funktioniert nämlich nicht nur nicht – es treibt uns offensichtlich immer schneller und zielsicher in den Abgrund.
Den Führungsanspruch in Sachen Zukunft hat meine Generation allerdings verspielt.