Es gibt zwei sehr kräftige Gerüchte über Lernen, die sich im Bildungssystem besonders hartnäckig halten. Das hängt vor allem damit zusammen, dass das Bildungssystem diese Gerüchte braucht, sich quasi an ihnen festhält, denn auf diesen Gerüchten, die eigentlich Lügen sind, basiert das ganze System. Erstens: Lernen kann nicht immer nur nach dem Lustprinzip funktionieren und zweitens: Lernen muss auch mal wehtun. Beides ist nicht nur falsch, sondern nachgerade menschenverachtend. Aber der Reihe nach:
Dass Lernen auch mal wehtun muss, heißt mit anderen Worten: Lernen muss auch Schmerzen bereiten. Nochmal anders: Wenn oder solange du keinen Schmerz empfindest, bist du nicht am Lernen. Da lauern dann noch so Sprüche wie: „Die Erfahrung ist ein harter Lehrer“.
Das „muss“ in dieser perversen Formel von „Lernen muss auch mal wehtun“ führt eine „bedingende Notwendigkeit“ in die Lügengeschichte ein, eine normative Prämisse, denn erst durch dieses Bedingungshafte kann all das, was schmerzfrei geschieht, kein vollwertiges Lernen sein, denn Lernen muss ja auch mal wehtun. Dabei ist es völlig wurscht, ob das „auch mal“ in die Formel mit aufgenommen wird oder nicht. Es ist völlig irrelevant, ob mann oder frau diese Lüge mit der blumigen Erweiterung schmückt, dass es ja beim Lernen nicht nur um Schmerz gehe, und dass es ja womöglich schon die meiste Zeit „schmerzfrei“ sei, das Lernen. Denn der eigentliche Punkt, um den sich die Lüge dreht, ist: Es muss, und daran hält die Zunft unbeirrbar fest, auch mal wehtun. Und dafür sorgen sie dann.
Hier wirkt ein so genannter Sein-Sollen-Fehlschluss (der Link führt übrigens zu einer Weiterbildungseite für Gymnasiallehrende). Diesen Fehlschluss kenne ich sonst vor allem aus der Ethik – und der geht so: Anton sagt, er habe im Verlauf seines langen Lebens immer wieder schwangere und sogar gebärende Frauen gesehen. Daraus habe er die Schlussfolgerung gezogen, dass Frauen hier und da schwanger sind und gebären. Mit zunehmendem Alter kommt Anton deshalb zu dem Schluss, dass Frauen schwanger zu werden und Kinder zu bekommen haben. Er leitet aus einem IST ein SOLL ab – er führt also eine verdeckte, normative Prämisse ein.
Im Kontext dieses Blog-Posts hier haben wir es mit mehr als einer Hand voll Menschen zu tun, die entweder selber die Erfahrung gemacht oder bei anderen beobachtet haben, dass Lernen weh tun kann. Sie denken sich also: Lernen kann weh tun, und jetzt führen sie die Prämisse ein, dass, wer keine Kinder bekommt, keine richtige Frau ist.
Die Frage, was auch immer Lernen sonst noch bedeutet, das können die Anwältinnen und Anwälte des Schmerzprinzips nicht weiter ausführen. Mann darf vermuten, dass sie diese Frage mit dem anderen, von ihnen bis aufs Blut verteidigte Prinzip in einem Zusammenhang sehen, dass nämlich Lernen nicht immer und überall nach dem Lustprinzip funktionieren könne. Womit sie auch sagen: Es kann nun wirklich nicht jede und jeder das machen, worauf er oder sie Lust hat. Noch ne Prämisse.
Beide pädagogischen Bekenntnissätze (!) kommen dort, wo Diskussionen über zeitgemäße Lernformen (Selbstorganisation, Selbstverantwortung, Selbststeuerung) entstehen, nach sehr kurzer Zeit reflexartig ins Spiel. Meine Vermutung ist die, dass Lehrerinnen und Lehrer vor nichts mehr Angst haben und von nichts mehr überfordert sind als von der Vorstellung, dass lernende Menschen ihr Lernen restlos in die eigene Hand nehmen, es gemeinsam und selber organisieren und verantworten. Da stellt es einem Lehrer und einer Lehrerin die Haare zu Berge – und dann fällt ihnen nichts anderes mehr ein als: Lernen muss auch mal weh tun und kann nicht immer nur Spaß machen. Wo kämen wir da hin?

Es wird ziemlich klar, was wirklich gemeint ist: Echtes, „richtiges“ Lernen geht nur, wenn Lehrerinnen und Lehrer das Ganze kontrollieren, führen, steuern und bewerten. Und dann kann Lernen ja nicht immer einfach lustvoll sein. Nein, es muss dann auch mal weh tun. Der Schmerz muss zugefügt werden. Durch pädagogisch-didaktische Führung. Bis heute. Andernfalls tun Schülerinnen und Schüler offenbar ausschließlich das, was Schmerz vermeidet. Auch das ist ausgemachter Bullshit, dem jede Erfahrungswirklichkeit widerspricht.
Lernen ist aufs Allerhöchste mit Lust verbunden. Das bedeutet nicht, dass der Schmerz da nicht vorkommen kann, oder dass wir Menschen aus Schmerzen nicht oder nichts lernen würden. Aber es bedeutet genau so wenig, dass Menschen anderen Menschen Schmerz zufügen sollten, mit der Begründung, nur so würden sie wirklich lernen.
Und doch ist dieses Menschenbild gang und gäbe. Es ist bis heute tief verwurzelt in unseren Vorstellungen von Lernen – gerade bei Menschen, die lehren und erziehen.
Was Menschen, die durch diese Schule gegangen sind, gelernt haben, ist dies: Vermeide Lernen, und du vermeidest Schmerz.
Nach der Durchsicht der vielen Forderungen nach neuen Lernformen stelle ich fest, dass Christoph Schmitt offenbar noch nicht vom Dialogischen Lernen gehört hat. Insbesondere fehlt mir auch ein Bezug zu Deci & Ryan.
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In wie weit schließt seine Polemik denn Dialogisches Lernen oder die Theorien von Deci & Ryan aus? Er stellt doch bloß überspitzt das kuturell etablierte Bild von Lernen dar, das erfolgreichem selbstorganisiertem Lernen entgegen steht. Lernen als etwas Erfüllendes zu begreifen und empfinden, ist bei klassischem Frontalunterricht (oder anderweitig autoritär geleitetem Unterricht) doch tatsächlich schwer vorstellbar. Bei BuGaSi gehen wir davon aus, dass Lernen unbedingt Spaß machen darf und nachhaltiger Lernerfolg auf eigenen Erfahrungen basiert.
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ich lerne/spiele im Moment gerade Kitesurfen … uiui – vor allem in den ersten Tagen erwischte ich einen schmerzhaften Muskelkater … – und ich lerne/spiele weiter!
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