Was ist da los beim Lernen? So fragen Jan Schönfeld und Thomas Tillmann in ihrem neuen Buch Lernhacks, das mich von der ersten bis zur letzten Seite daran erinnert, dass der Wandel der Arbeitswelt nach ganz anderen Formen des Lernens ruft als die, mit denen wir groß geworden sind. Diese neuen Formen, zu denen auch die Lernhacks gehören, zeichnen sich vor allem durch eine Abnahme an Formalisierung aus: Vorgegebenes, Vorgefertigtes, Vorgekautes verlieren rasant an Relevanz, weil die Arbeitsumgebungen sich entsprechend verändern bzw. längst verändert haben.
Dies ist keine Rezension 🙂
Leider kommen unsere milliardenschweren, offiziellen Lernumgebungen da nicht hinterher. Vielmehr halten die meisten – beginnend mit der Schule – an fixen Settings und Routinen fest. Doch dort, wo sich gesellschaftliche und ökonomische Realitäten widerspiegeln, verlieren hierarchisch konstruierte und vorstrukturierte Lern-Settings ihre Plausibilität und ihren Nutzen. Sie entsprechen nicht mehr den Lebenswirklichkeiten in ihrer krassen Vielfalt, und sie helfen mir definitiv nicht mehr in diesen Realitäten zu lernen, wie ich in ihnen gestaltungsfähig bin: wie ich beruflich erfolgreich werde, wie ich mich als Bürger*in in sozialen Kontexten und Netzwerken erfolgreich bewege. Gegen solche Kopfbilder treten Lernhacks an:

Die einen sagen deshalb: Wir müssen das selbstorganisierte und selbstgesteuerte Lernen „aufbauen“ – und starten ein Didaktik-Festival nach dem anderen: Sie erfinden neue Tools, mit deren Hilfe sich Lernende selbstständig Stoff aneignen können, sie deponieren diesen Stoff in digitalen Osternestern und gamifizieren das „Lernen“, bis der Arzt kommt. Sie machen also, was sie immer schon tun: Sie formalisieren das Lernen.
Andere sagen, so auch ich: Es geht nicht mehr darum, den nächsten pädagogischen Turnaround zu wuppen. Es geht nicht um den Aufbau neuer Lernumgebungen.
Es geht um den Abbau der Ideologie, Menschen bräuchten, um erfolgreich und nachhaltig und sinnvoll zu lernen, vorstrukturierte Umgebungen, Inhalte, Prozesse. Das ist der Grundirrtum des Bildungssystems.
Stattdessen geht es darum, Lernen als einen durch und durch individuellen, konstruktivistischen Prozess so zu begleiten, dass Menschen, die sich anschicken zu lernen, ihre eigene Umgebung dafür bauen – und das war’s dann.
Die Pädagogik des Stützrades
Keine noch so ausgefuchste und individualisierte Pädagogik, Didaktik und Methodik wird es schaffen (sie haben es auch noch nie geschafft), Lernen durch seine Institutionalisierung in eine Qualität zu bringen, wie sie Menschen hinkriegen, wenn sie ihr Lernen selbst organisieren – wobei immer mitgedacht ist, dass dabei auch die Organisation dieses Lernens (also die „Organisation von Selbstorganisation“) ganz selbstverständlich gelernt wird und eben nicht durch institutionelle Angebote angeleitet, rhythmisiert und gesteuert werden muss, „bis das Individuum das selber kann“.
Letzteres ist eine pädagogische Kernideologie, die jeder empirischen Grundlage entbehrt, und die ja nur dann „gilt“, wenn bereits (z.B. durch Lehrpläne) entschieden ist, wer was auf welche Weise bis wann wohin gelernt zu haben hat – wenn also „Lernen“ völlig instrumentralisiert, verzweckt und durchreguliert ist. Dann brauchen Menschen pädagogische Stützräder. In allen anderen Fällen setzen sie sich auf ein Rad und fahren (hier im Sinne einer Metapher).
Bis heute tragen wir in pädagogischen Kontexten zu keinem Zeitpunkt die reale Verantwortung für unsere eigenen Lernprozesse. Die zentralen Referenzpunkte für unser Lernen sind immer schon vorgeben: Zeiten, Rhythmen, Inhalte, Formate, Ergebnisse. Deshalb entwickeln und erfahren wir das zentrale Element und den existenziellen Nutzen des Lernens nicht: Selbstorganisation – denn das machen immer andere (pädagogische Profis), die immer auch für die Bewertung dieses Lernens (als Prozess und als Ergebnis) verantwortlich zeichnen. Soweit das elende Konstrukt, das uns in Tat und Wahrheit von dem abhält, was den Namen „Lernen“ verdienen würde.
Besonders bizarr sind für mich dabei jene „Formen selbstorganisierten Lernens“, bei denen Kinder und Jugendliche zeitweise unüberwacht in „Lernbüros“ Vorgegebenes, Vorgefertigtes und Vorgekautes abarbeiten, also ein „Lernpensum“ abspulen.
Derart programmiert betreten wir anschließend die Arbeitswelt. Auch dieses Nacheinander gehört zum traditionellen, mittlerweile dysfunktionalen Setting, nämlich: Zuerst Lernen, dann Arbeiten, dann wieder Lernen, und dann wieder Arbeiten. Nun verlangt diese Arbeitswelt von uns heute, was die folgende Grafik aus dem Buch „Lernhacks“ abbildet:

Als Arbeitnehmer*in oder Freiberufler*in stehe ich also vor der Aufgabe, ein tief verinnerlichtes Lern- und vor allem Lehrparadigma wieder zu verlernen, das mir während meiner gesamten Schul- und Ausbildungszeit als Vorbild für Lernen gedient hat.
Dass „hinter“ diesem Verlernen wiederum nichts anderes zum Vorschein kommt als das, was Lernen in der belebten Natur immer ist, nämlich Selbstorganisation und Selbststeuerung lebender Systeme, ist im ersten Moment ein schwacher Trost, weil ich es ja anders gelernt habe, und das bedeutet eben auch: mit anderen Emotionen besetzt.
Hier liegt ein wesentlicher Grund dafür, warum uns das Ver- und Entlernen formalisierter Rituale und Überzeugungen so schwer fällt – allen voran Angehörigen pädagogischer und lehrender Berufe: Wir haben dieses Paradigma mit der Schulmilch aufgesaugt, die ja bis heute das Hauptnahrungsmittel von Pädagog*innen ist (im Sinne einer Metapher) – und wer sich anschickt, tief verinnerlichte Bilder, Erfahrungen (Belohnung und Bestrafung, Konkurrenz und Kompetition), Beziehungsmuster, Überzeugungen und Routinen traditionellen Lernens ans Licht zu holen, hat eine emotionale Achterbahnfahrt vor sich. John Erpenbeck und Rolf Arnold sprechen von „Labilisierung“: vom Aushalten der garantiert eintretenden, existenziellen Verunsicherung, ob ich denn jetzt das Richtige richtig lerne, wenn es mir nicht vorgegeben, vorgefertigt und vorgekaut wird – und von einem oder einer Expert*in entsprechend beurteilt.
Der im Verlauf der Pandemie intensiver werdende Ruf nach Präsenz- und Frontalunterricht erfüllt hier vor allem die Funktion einer psychischen Sicherheit oder zumindest Absicherung, auf dem richtigen, weil vorgegebenen und angeleiteten Pfad zu sein – sowohl was die Lerninhalte, die Lernpfade als auch die Lernziele betrifft. So interpretiere ich zum Beispiel die Aussagen von Lernenden der Sekundarstufe 1 vom Juli 2021:

Es ist also nicht das Lernen als solches, das uns verunsichert, denn Lernen ist sogar eine Dopaminquelle, sondern das „drohende“ Verlassen jener Pfade, auf denen wir in den prägenden Phasen unseres Lernlebens immer und immer wieder geführt wurden. Wir brauchen keine pädagogischen, didaktischen und methodischen Stützräder beim Lernen. Wir brauchen heute als (Hoch-)Schulabsolvent*innen allenfalls Unterstützung beim Verlernen dieser Muster, Pfade und Routinen.
Je früher im Leben ein Mensch sein und ihr Lernen frei und selbstbestimmt praktizieren kann, umso höher die Wahrscheinlichkeit, eine resiliente Persönlichkeit zu entwickeln, die dann zu einem „Lernvorbild“ taugt, das Jan und Thomas in Lernhacks hatnäckig und sehr zu Recht anmahnen.
Ich behaupte: Je mehr sich nicht erst in der Arbeitswelt, sondern viel früher im Schulsystem ein*e Lehrer*in ganz konsequent als Lernvorbild versteht und zeigt, umso schneller lernen Menschen, die mit diesen Vorbildern unterwegs sind, ihren eigenen Pfaden zu vertrauen. Und dann treffen die genialen Lernhacks auf fruchtbaren Boden, was ich ihnen von ganzem Herzen weiterhin wünsche.
„Je früher im Leben ein Mensch sein und ihr Lernen frei und selbstbestimmt praktizieren kann, umso höher die Wahrscheinlichkeit, eine resiliente Persönlichkeit zu entwickeln, die dann zu einem „Lernvorbild“ taugt, das Jan und Thomas in Lernhacks hatnäckig und sehr zu Recht anmahnen.“
Wie ich mir das ganz konkret vorstelle und seit 1970 mit Kindern praktiziere, selbst diesen Weg seit 78 Jahren gegangen bin, erfährt man unter http://www.visitenkarte.edeju.de.
LikeLike
Wenn der Lernort Schule bevorzugt wird von den Schülerinnen und Schülern, dann liegt das – wie von dir beschrieben – schon daran, dass diese nichts anderes kennen. Ein anderes Phänomen ist m. E. ein soziales: Die Zeit in der Schule ist eine mit anderen verbrachte Zeit. Auch darum geht es, wenn Schüler:innen sich für den Lernort Schule entscheiden!
Wir müssten ihnen alternative Lernorte bieten und dort vielfältiges Lernen ermöglichen. Solange die Schulpflicht als Anwesenheitspflicht besteht, wird dies jedoch scheitern. Es sei denn, die Akteure im System Schule beginnen damit, die Wände einzureißen, Lehrpläne zu verbrennen und einer 45-Minuten-Didaktik Redeverbot zu verordnen 🙂
LikeGefällt 1 Person