Was wir über die Zukunft von Schule sagen können

Beitragsbild von Gerd Altmann auf Pixabay

Führt Schule zu einer anderen Gesellschaft oder umgekehrt? Wie hängen beide zusammen, und wie wird Schule in Zukunft aussehen?

Schule ist, neben ihrem bzw. durch ihr Wissens- und Erziehungsgeschäft, eine Sortiereinrichtung mit dem Ziel, soziale Verhältnisse zu reproduzieren, indem sie einen ungefähren Ausgleich gewährleistet hinsichtlich der Zugänge zu bestimmten Berufen und der Übergänge zwischen sozialen Schichten (in Deutschland braucht es sechs Generationen, um von einem niedrigen zu einem mittleren Einkommen zu gelangen [Quelle]).

Vier kurze Statements. Zum Originalvideo

Wenn Schule und Umwelt sich auseinanderleben

Eine Veränderung dieser sozialen (kulturellen, ökonomischen) Verhältnisse kommt also eher nicht aus der Schule. Wahrscheinlicher ist, dass sich verändernde Verhältnisse in den Umwelten perturbierend (beeinflussend, aber nicht determinierend) auf Schule auswirken – in ihren Kernfunktionen

  • der Alphabetisierung: was müssen wir wissen und können?
  • der Sozialisation: wie funktioniert Gesellschaft eigentlich?
  • der sozialen Selektion: welche Gesellschaft wollen wir sein?

Je stärker die Veränderungen in den Schulumwelten, umso heftiger die Perturbationen. Das (Schul-)System versucht dann mit aller Kraft, die eigene Funktionalität nach innen zu gewährleisten. Schulentwicklung ist und tut in diesem Stadium erst einmal und immer wieder „mehr desselben“, auch wenn sie es „frisch etikettiert“.

„Mehr desselben“ (Quelle)

Ab einem bestimmten Veränderungsgrad der Umwelten geht das auf Kosten der Anschlussfähigkeit von System und Umwelt, weil das Schulsystem, je stärker es seine Dysfunktionalität wahrnimmt, umso mehr mit sich selbst beschäftigt ist. Indem es (immer) mehr desselben tut, manövriert es sich immer tiefer in die Dysfunktionalität und verliert immer mehr die Systemumwelten aus dem Blick – somit geht die Anschlussfähigkeit zurück. Gleichzeitig suchen und entwickeln die Systemumwelten von Schule nach und nach Alternativen für jene Funktionen, die für ihre eigene Funktionalität und für ihr Überleben wichtig sind – weil Schule das nicht mehr leistet.

Zwei Beispiele dafür, die derzeit noch den Charakter von „Wetterleuchten“ haben, kommen aus der Schweiz. Der Rektor der Universtität Zürich hat im März dieses Jahres (2021) verkündet, dass Studieren in Zukunft auch ohne Matura (Abitur) möglich sein wird (Quelle), und: renommierte Wissenschaftler*innen entscheiden sich vermehrt dafür, sich und ihr Forschen jenseits des Hochschulbetriebs zu oganisieren:

Bruno S. Frey gehört zu den meistzitierten Ökonomen Europas. Jahrzehntelang war er an der Universität Zürich tätig gewesen, bis er das Crema-Institut mitbegründete. «Ich bin von den klassischen Universitäten enttäuscht», sagt er. «Es geht nur noch ums Punktesammeln, die vertiefte Auseinandersetzung mit Themen findet immer weniger statt.» Die privaten Institute seien ein Zeichen, «dass die Unis nicht mehr der einzige Ort sind, um Wissenschaft zu machen», sagt Frey.

Quelle (Paywall).

Auch entstehen schon seit Jahrzehnten vermehrt und niederschwellig Initiativen und Communities, die jenseits des öffentlichen Schulsystems radikal alternative Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen machen (Beispiel). Da fehlt zwar bis heute oft noch eine Finanzierung, um diesen Weg auch für Menschen zu öffnen, die sich das nicht leisten können. Doch es dürfte eine Frage der Zeit sein, bis auch hier das Engagement von Kapitalgeber*innen greift, die verstanden haben, was die Stunde geschlagen hat. Es gehört nämlich nicht viel dazu um zu begreifen, dass Bildung nur dann ökonomisch und sozial wirksam wird, wenn sie in die Breite geht. Wenn es dazu privatwirtschaftliches Engagement braucht, sollten wir das fördern und nicht als elitäres Gedankengut einordnen.

Man mag das als „neoliberalistisch“ abtun, doch irgendwann ist es – nicht egal aber – zweitrangig, woher das Geld kommt, wenn es darum geht, ein dysfunktionales und entwicklungsresistentes Bildungssystem abzulösen und immer mehr Menschen unabhängig von ihrem sozialen Status wirkliche Bildung zu ermöglichen, denn genau hier versagt ja das öffentliche Bildungssystem.

„Elitär“ ist nämlich nicht bloss die Haltung, Bildung für Kinder wohlhabender Zeitgenoss*innen in privaten Schulen zu organisieren. Auch der Reflex, privaten Initiativen in jedem Fall die Verstärkung eines Zwei-Klassen-Systems zu unterstellen, ist eine elitäre Position, nicht zuletzt weil die erstens fast ausschließlich von Menschen artikuliert wird, die ihre eigenen Schäfchen im Trockenen wissen, und weil zweitens „schlechte Bildung für alle“ niemandem gerecht wird.

Eine kritische Beleuchtung solchen Engagements in der Schweiz findet sich hier.

Unbundling: Wehe wenn sie losgelassen…

Diese Suchbewegungen in den Umwelten von Schule bringen im Moment mit sich, dass die traditionelle Bündelung der drei Dimensionen

  • Sozialisation (Erziehung)
  • Alphabetisierung („literacy“)
  • soziale Selektion

und deren normative Delegation an ein einziges System („Schule“) sich nach und nach auflösen: unbundling. Ein schöner Text zu diesem Phänomen hier.

Kultur und Gesellschaft organisieren sich in einem exponentiellen Prozess neu – jetzt auch hinsichtlich Bildung und Lernen. Es kommt zu einer Ent-Institutionalisierung und Fragmentierung von ursprünglich aneinander gekoppelten Systemen, Funktionen und Aufgaben von Bildung, Lernen, Erziehung – und das alles aufgrund einer komplexen Neustrukturierung von Gesellschaft. Dabei werden nicht bloß „die Karten neu gemischt“, sondern ein neues Spiel entsteht – das sich neue Regeln gibt: Wissensproduktion, Kompetenzentwicklung und Qualifikationsprozesse beginnen an Orten zu sprießen, wo sie niemand vermutet hat.

Es ist davon auszugehen, dass auch hier nach einer gewissen Zeit des Mäanderns, des Ausprobierens und der lockeren Bindungen, die sich bilden und wieder auflösen, neue Systeme (ent)stehen werden. 

Im Moment ist das aber Zukunftsmusik. Was wir in den nächsten Jahren zu erwarten haben:

  • eine weiter zunehmende Dysfunktionalität des Schulsystems nach innen,
  • eine entsprechend wachsende Bindung von Ressourcen an den Versuch, die Funktionalität von Schule „nach alten Regeln“ aufrechtzuerhalten bzw. wieder herzustellen (Selbsterhalt durch mehr desselben),
  • die Entfremdung von Schule und Gesellschaft und eine abnehmende gegenseitige Anschlussfähigkeit
  • Prozesse des Neuentwickelns und Ausprobierens in den (ehemaligen) Umwelten von Schule, um die vom Schulsystem nicht mehr erfüllten Funktionen neu zu organisieren.

Wie lange es dauern wird, bis (ob?) daraus wieder eine Art „Schule“ wird und wie die dann aussieht – das ist offen und nicht vorhersehbar. Dafür sind die Wechselwirkungen und Emergenzen in einer Kultur der Digitalität zu groß.

Learnlife Reflecting Team

Regelmäßig treffen sich Menschen aus der Learnlife Alliance und reflektieren eine Fragestellung zwischen Lernalltag und Lerntheorie. So auch gestern zum Thema „self determined learning in peer groups“.

Warum diese „Reflecting Teams“? Das hat mit dem Selbstverständnis innovativer Lerngemeinschaften zu tun. Die haben vor allem zweierlei gemeinsam:

Erstens unterscheiden sie sich stark voneinander, weil sie nicht Satelliten eines Systems sind, das auf Homogenität und Vergleichbarkeit achtet, wie das für öffentliche Schule gilt. Die „diverse Identität“ ist beabsichtigt, denn:

Lernumgebungen können die Heterogenität und Diversität lernender Menschen und ihrer Lebenswelten nur dann begreifen, abbilden und gestalten, wenn sie selber so ticken.

Zweitens haben innovative Lerngemeinschaften bei aller Unterschiedlichkeit eines gemeinsam: Das Interesse an der eigenen Entwicklung; am fortlaufenden Abgleich des Alltags mit der Vision und dem Programm – und umgekehrt, also zirkulär – auch deshalb sind immer die Lernenden und ihre Prozesse im Fokus. Für diese Reflexionsarbeit holt sich Learnlife Außenperspektiven ins Spiel, die wertvolle Informationen beitragen, weil sie sehen, was innen (noch) nicht (mehr) gesehen werden kann.

Lernen in lernenden Organisationen

Diese Entwicklungsarbeit findet nicht nach Schulschluss statt, am Wochenende oder in den Ferien, sondern im alltäglichen Handeln. Sie „ist“ Schule. Sie gehört dazu, weil es sich bei „Schule“ ja um nichts anderes handelt als um Entwicklung – deshalb verstehen sich solche Lerngemeinschaften als lernende Organisation.

Learnlife leistet hier Pionierarbeit. Die Akteure reflektieren nicht nur beständig die Organisation des Lernalltags und passen ihn den Bedarfen und Bedürfnissen aller Beteiligten systematisch an. Auch auf der Ebene der Theoriearbeit gibt es rege Wechselwirkungen: Leitbild und Programm werden zirkulär weiterentwickelt, unter Einbezug eines bunten Netzwerks von Expert*innen und Allianzen.

Beim Meeting gestern ging es um die gemeinsame Reflexion auf eines der zentralen Elemente von Learnlife: den und die selbstbestimmte*n Lerner*in („self determined“) – also um den Kern von Bildung: um die Kontexte und Bedingungen, die dieses Lernen braucht, und wie groß dabei die Rolle und Funktion des peer learning ist.

Meine „Take Aways“ aus dem Meeting

  • Haltungen sind so wichtig wie Skills. Zum Beispiel Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit, Resilienz, innere Unabhängigkeit. Traditionelle Schule bringt nach wie vor mehrheitlich (postmoderne) Untertanen hervor: Menschen, die an autoritäre Strukturen glauben und von ihnen abhängig sind – im Sinne einer Haltung. Deshalb sind Lernumgebungen wichtig, die uns ermöglichen, unser Verhältnis zum Thema „Autorität und autoritäre Strukturen“ zu reflektieren.
  • Ich verstehe immer besser den Unterschied zwischen wählen und entscheiden. Entscheiden bringt Unterschiede hervor, während (Aus-)wählen sich bloß an bereits gemachten Unterschieden orientiert. Das ist für mich ein wichtiges Kriterium, wenn es um kritisches, auch demokratisches Handeln geht: um echte Mitbestimmung statt simulierter.
  • Peer Groups sind nicht einfach „lebende Lern-Tools“, die mir beim selbstbestimmten Lernen helfen. Ich bin ein soziales Wesen und gemeinsames Lernen bedeutet zuerst: Gemeinschaft gestalten, die hoffentlich jene Gesellschaft immer besser vorwegnimmt, in der wir gerne leben möchten.

Wer an dieser Thematik dranbleiben will, kann Mitglied der Learnlife-Alliance werden. Ein empfehlenswertes, kostenloses Online-Buch zum Einlesen findest du hier:

Schule reformieren ist wie Sandburgen bauen zwischen den Gezeiten

Titelbild: tookapic auf Pixabay

Schulentwicklung und Schulreform werden bis heute zusammengedacht. Nicht selten verbunden mit der Überzeugung, dass beide „von oben“ kommen. Die Verkürzung der Gymnasialzeit um ein Jahr war so eine Reform. Zu Schulentwicklung hat sie nicht geführt. Eher zu mehr desselben in weniger Zeit.

Die Haltung „nach oben“ zu blicken, wenn es um Veränderung geht, findet und entwickelt sich vor allem in hierarchischen Kontexten. Genährt wird sie von der Erfahrung, in solchen Kontexten am Bestehenden zu leiden oder zu scheitern. Der Blick oder Ruf nach oben fördert dabei nicht einen Zuwachs an Handlungsmacht oder das Erleben von Wirksamkeit. Eher wird das Erleben von Hilflosigkeit und Abhängigkeit verstärkt.

Wie kommt die Überzeugung in mich, dass (meine) Entwicklung, deren Richtung, Tempo und Gestalt von Autoritäten abhängt? Von Erlaubnis und Verbot, von Zustimmung oder Ablehnung durch eine Autorität, der ich damit nicht nur zugestehe darüber zu entscheiden, was ich darf und was nicht, sondern auch wer ich werden darf und wer nicht?

Das hat mit der Beschaffenheit der Beziehungen meiner ersten Lebensjahre zu tun. Mit der Art, wie ich als ganz junger Mensch gelernt habe, mich zwischen Abhängigkeit und Autonomie selber zu finden – und mich zu bilden. Die Erinnerung an diese frühen Phasen ist oft bruchstückhaft und nachlässig, vor allem hinsichtlich der Emotionen. Wie immer, wenn zwischen Erlebtem und der Gegenwart Zeit vergangen ist.

Zitat: Cees Noteboom

Die Erfahrungen selbst hingegen inszenieren sich gerne von Neuem, wenn Situationen der Gegenwart eine Nähe zu dem aufweisen, was ich vor Jahren schon einmal erlebt habe, ohne mich jetzt konkret daran zu erinnern. Vielmehr korreliert dann mein aktuelles, inneres Erleben jenseits bewusster Steuerung mit Emotionen der Vergangenheit.

Ich reinszeniere also Beziehungen aus vergangener Zeit, ohne das im Moment selbst zu realisieren. Was dann in meinem Erleben zu kurz kommt, ist die aktuelle Situation, sind die involvierten Menschen und die Beziehung, die wir miteinander haben. Stattdessen messe ich unbewusst die Gegenwart, ihre Möglichkeiten und Grenzen, an einem Erleben aus vergangener Zeit (Literatur).

In pädagogischen Kontexten ereignen sich solche Reinszenierungen gerne im Zusammenhang mit Situationen, in denen es um die Überwindung von Abhängigkeit und um den Zuwachs an Autonomie und Selbststeuerung geht.

Wie (re-)agiere ich, wenn Menschen, in deren Beziehung mit mir Abhängigkeit eine tragende Rolle spielt, aktiv an einem Zuwachs ihrer Autonomie arbeiten? Welche Spiel- und Gestaltungsräume habe dann ich? Welche entstehen dadurch neu für mich? Wie stark wiederhole ich dann „nicht erledigte“ Muster meiner eigenen Vergangenheit?

Die Situation und die Beziehungen, um die es hier und jetzt geht, inklusive möglicher Lösungen und Entwicklungen, liegen in der Gegenwart. Wie angemessen ich diese Gegenwart als Angebot nutzen kann, hängt damit zusammen, wie ich meine Aufmerksamkeit, meine Energie und meine Emotionen zur freien Gestaltung dessen einsetzen kann, was hier und jetzt ist.

Dabei hilft die Reflexion auf Beziehungskulturen, die ich verinnerlicht habe, und auf solche in meinem aktuellen beruflichen Kontext. Das ist ein „Entwicklungsweg mit Zukunft“.

Qualifizierte Beziehungsarbeit als Gebot der Stunde

Beziehungskompetenz im Sinne einer Fähigkeit, Lebens-, Lern- und Arbeitsräume gemeinsam zu gestalten, wird heute in allen kulturellen Bereichen als zentral bewertet. Kritische und mich beeindruckende Pionierarbeit hat dazu Eva Illouz geleistet.

Die Bedeutung von Beziehungskompetenz als entscheidendes Moment in der Führung von Menschen ist ebenso unbestritten wie dort, wo es darum geht, in Gruppen und Teams Prozesse jeder Art erfolgreich zu gestalten: Organisieren, Wertschöpfen, Forschen. Auch in professionellen Beziehungen wie z.B. zwischen Angehörigen von Gesundheitsberufen und Patient*in genießt die Beziehungskompetenz mittlerweile einen hohen Stellenwert, weil wir wissen, wie viel von ihr abhängt für den Erfolg medizinischer und pflegerischer Intervention: Beziehungsqualität ist entscheidend für erfolgreiches, nachhaltiges Handeln, und zwar erst recht dort, wo es um den Abbau von Abhängigkeit und Hilflosigkeit geht und um die Stärkung von Autonomie und Selbstwirksamkeit – also um das, was sich auch Schule auf die Fahnen schreibt.

Umso mehr alarmiert mich eine Erfahrung, von der mir Menschen aus dem Umfeld von Schule heute erzählen – und die ich während meiner eigenen Zeit als Lernbegleiter ebenfalls gemacht habe: dass in schulischen Kontexten die Beziehungen der Beteiligten untereinander zu selten professionell reflektiert werden:

  • im Klassenverband oder im Kontext individueller Beziehungen zwischen Schüler*innen
  • zwischen einzelnen Schüler*innen, Klassen und Lehrpersonen
  • in der Zusammenarbeit von Lehrenden untereinander und mit Eltern
  • zwischen Schulleitenden und Lehrenden
  • zwischen sozialpädagogischen, therapeutischen und lehrenden Personen
  • und im Dreieck von Lehrer*in, Schüler*in und Familiensystem.

Beziehungskompetenz setzt Beziehungsarbeit im Sinne von Reflexionsarbeit voraus – auch die mit Beziehung verknüpften Kompetenzen: eine gewaltfreie und wertschätzende Gesprächskultur, das Verhandeln von Verantwortung auf Augenhöhe, das solidarische Einstehen für Mitmensch und Mitwelt.

Es ist bis heute ein Widerspruch im schulischen Handeln als Organisation, dass solche Kernanliegen von Bildungsarbeit einerseits in Leitbildern und Sonntagsreden gefordert werden und andererseits durch die Organisation konkreter Schule marginalisiert bleiben. Sei es in der Ausbildung von Lehrpersonen, sei es im Schulalltag, sei es in der Schulentwicklung.

Zu dieser Beziehungsarbeit gehört auch die Befreiung aus den oben skizzierten „pädagogischen Programmierungen“, die untrennbar mit der Reflexion auf frühe Formen von Abhängigkeit verbunden sind. Warum ist das wichtig?

Weil diese Programmierungen in ihrer unbearbeiteten Form das Erleben von Abhängigkeit und Hilflosigkeit in pädagogischen Kontexten der Gegenwart verstärken. Dieses Aufarbeiten ist eine Herkulesarbeit für Lehrende, Eltern und für Schüler*innen, und sie wird durch die aktuelle Organisation von (Lehrer*innen-)Bildung und Schulalltag nicht gefördert oder erleichtert.

Der Rumpelstilzchen-Effekt

Schulreformen konnten dieses Kernanliegen von Bildungsarbeit bis heute nicht nachhaltig ins Bewusstsein bringen und zu einem festen Bestandteil von Schulorganisation machen. Das liegt, wie Gerald Hüther im kurzen Videoausschnitt oben beschreibt, nicht daran, dass einfach noch nicht die richtige Reform stattgefunden hat, sondern dass Schulentwicklung keine Frage der Schulreform ist. Es geht vielmehr um die bewusste, reflektierte Gestaltung komplexer Beziehungen.

Deshalb würde ich es begrüßen, wenn Beziehungsarbeit im Sinne einer Beziehungskultur viel stärker als bisher zu einem Anliegen derer wird, die konkret in konkreten Schulen handeln. Das ist ein erster Schritt, um den Rumpelstilzchen-Effekt von Schule zu stoppen, dass mit zunehmender Systemleistung (noch mehr Stroh zu Gold spinnen) nicht Autonomie und Selbststeuerung zunehmen, sondern Abhängig- und Hilflosigkeit.

Szenen aus dem Teufelskreis von Nichtwissen und Belohnung (Foto: Papageno Musiktheater)

Schule kann die Autonomie von Menschen weder wollen noch fördern, solange sie ihre Rechtfertigung aus dem Fortdauern von Abhängig- und Hilflosigkeit der Lernenden bezieht – auch aus der ihrer Mitarbeiter*innen. Das ändern wir nachhaltig durch andere Beziehungskulturen.

Die unbändige Lust am Bauen und Basteln von Reformen sollten wir woanders ausagieren. Wie beim Bauen von Sandburgen und den Gezeiten dürfen wir heute damit rechnen, dass die Umwelten von Schule vor allem in einer Hinsicht zuverlässig vorhersehbar sind: sie verändern sich pausenlos und machen jede noch so ausgefeilte Struktur mitsamt ihren Routinen „über Nacht“ zu Ruinen.

Einen in jedem Fall wunderwirkenden Ansatzpunkt sehe ich darin, eine Kultur und Praxis der Beziehungsarbeit zu entwickeln, unterstützt durch professionelle Begleitung und Beratung, um die Beziehungsstrukturen und -routinen einer konkreten Schule konsequent zu reflektieren. Ziele einer solchen Arbeit, die konkrete Bildungsarbeit ist:

  • Eine andere, offene und vertrauensvolle Kultur der Kommunikation
  • Eine neue Form der Zusammenarbeit aller Beteiligten am „Projekt Bildung“
  • Der Zuwachs an Autonomie und Handlungsmacht bei allen Beteiligten

Aus entwicklungspsychologischer Perspektive lockt hier sogar die Erfahrung, dass – biblisch gesprochen – die Austreibung der Dämonen nicht in die Katastrophe führt, sondern unmittelbar in die eigene, autonome Handlungsmacht – als Mensch und als Organisation von Menschen.

Wie Schulentwicklung unter solchen Prämissen gelingen kann – bitte hier entlang:

Was ist da los beim Lernen?

Was ist da los beim Lernen? So fragen Jan Schönfeld und Thomas Tillmann in ihrem neuen Buch Lernhacks, das mich von der ersten bis zur letzten Seite daran erinnert, dass der Wandel der Arbeitswelt nach ganz anderen Formen des Lernens ruft als die, mit denen wir groß geworden sind. Diese neuen Formen, zu denen auch die Lernhacks gehören, zeichnen sich vor allem durch eine Abnahme an Formalisierung aus: Vorgegebenes, Vorgefertigtes, Vorgekautes verlieren rasant an Relevanz, weil die Arbeitsumgebungen sich entsprechend verändern bzw. längst verändert haben.

Dies ist keine Rezension 🙂

Leider kommen unsere milliardenschweren, offiziellen Lernumgebungen da nicht hinterher. Vielmehr halten die meisten – beginnend mit der Schule – an fixen Settings und Routinen fest. Doch dort, wo sich gesellschaftliche und ökonomische Realitäten widerspiegeln, verlieren hierarchisch konstruierte und vorstrukturierte Lern-Settings ihre Plausibilität und ihren Nutzen. Sie entsprechen nicht mehr den Lebenswirklichkeiten in ihrer krassen Vielfalt, und sie helfen mir definitiv nicht mehr in diesen Realitäten zu lernen, wie ich in ihnen gestaltungsfähig bin: wie ich beruflich erfolgreich werde, wie ich mich als Bürger*in in sozialen Kontexten und Netzwerken erfolgreich bewege. Gegen solche Kopfbilder treten Lernhacks an:

Selbst wenn Hochschulen Stellen ausschreiben, in denen es darum geht, institutionell organisiertes Lernen weiterzuentwickeln, greifen sie auf solche Bilder – in unseren Köpfen – zurück. (Quelle temporär)

Die einen sagen deshalb: Wir müssen das selbstorganisierte und selbstgesteuerte Lernen „aufbauen“ – und starten ein Didaktik-Festival nach dem anderen: Sie erfinden neue Tools, mit deren Hilfe sich Lernende selbstständig Stoff aneignen können, sie deponieren diesen Stoff in digitalen Osternestern und gamifizieren das „Lernen“, bis der Arzt kommt. Sie machen also, was sie immer schon tun: Sie formalisieren das Lernen.

Andere sagen, so auch ich: Es geht nicht mehr darum, den nächsten pädagogischen Turnaround zu wuppen. Es geht nicht um den Aufbau neuer Lernumgebungen.

Es geht um den Abbau der Ideologie, Menschen bräuchten, um erfolgreich und nachhaltig und sinnvoll zu lernen, vorstrukturierte Umgebungen, Inhalte, Prozesse. Das ist der Grundirrtum des Bildungssystems.

Stattdessen geht es darum, Lernen als einen durch und durch individuellen, konstruktivistischen Prozess so zu begleiten, dass Menschen, die sich anschicken zu lernen, ihre eigene Umgebung dafür bauen – und das war’s dann.

Die Pädagogik des Stützrades

Keine noch so ausgefuchste und individualisierte Pädagogik, Didaktik und Methodik wird es schaffen (sie haben es auch noch nie geschafft), Lernen durch seine Institutionalisierung in eine Qualität zu bringen, wie sie Menschen hinkriegen, wenn sie ihr Lernen selbst organisieren – wobei immer mitgedacht ist, dass dabei auch die Organisation dieses Lernens (also die „Organisation von Selbstorganisation“) ganz selbstverständlich gelernt wird und eben nicht durch institutionelle Angebote angeleitet, rhythmisiert und gesteuert werden muss, „bis das Individuum das selber kann“.

Letzteres ist eine pädagogische Kernideologie, die jeder empirischen Grundlage entbehrt, und die ja nur dann „gilt“, wenn bereits (z.B. durch Lehrpläne) entschieden ist, wer was auf welche Weise bis wann wohin gelernt zu haben hat – wenn also „Lernen“ völlig instrumentralisiert, verzweckt und durchreguliert ist. Dann brauchen Menschen pädagogische Stützräder. In allen anderen Fällen setzen sie sich auf ein Rad und fahren (hier im Sinne einer Metapher).

Bis heute tragen wir in pädagogischen Kontexten zu keinem Zeitpunkt die reale Verantwortung für unsere eigenen Lernprozesse. Die zentralen Referenzpunkte für unser Lernen sind immer schon vorgeben: Zeiten, Rhythmen, Inhalte, Formate, Ergebnisse. Deshalb entwickeln und erfahren wir das zentrale Element und den existenziellen Nutzen des Lernens nicht: Selbstorganisation – denn das machen immer andere (pädagogische Profis), die immer auch für die Bewertung dieses Lernens (als Prozess und als Ergebnis) verantwortlich zeichnen. Soweit das elende Konstrukt, das uns in Tat und Wahrheit von dem abhält, was den Namen „Lernen“ verdienen würde.

Besonders bizarr sind für mich dabei jene „Formen selbstorganisierten Lernens“, bei denen Kinder und Jugendliche zeitweise unüberwacht in „Lernbüros“ Vorgegebenes, Vorgefertigtes und Vorgekautes abarbeiten, also ein „Lernpensum“ abspulen.

Derart programmiert betreten wir anschließend die Arbeitswelt. Auch dieses Nacheinander gehört zum traditionellen, mittlerweile dysfunktionalen Setting, nämlich: Zuerst Lernen, dann Arbeiten, dann wieder Lernen, und dann wieder Arbeiten. Nun verlangt diese Arbeitswelt von uns heute, was die folgende Grafik aus dem Buch „Lernhacks“ abbildet:

Lernhacks, Seite 21

Als Arbeitnehmer*in oder Freiberufler*in stehe ich also vor der Aufgabe, ein tief verinnerlichtes Lern- und vor allem Lehrparadigma wieder zu verlernen, das mir während meiner gesamten Schul- und Ausbildungszeit als Vorbild für Lernen gedient hat.

Dass „hinter“ diesem Verlernen wiederum nichts anderes zum Vorschein kommt als das, was Lernen in der belebten Natur immer ist, nämlich Selbstorganisation und Selbststeuerung lebender Systeme, ist im ersten Moment ein schwacher Trost, weil ich es ja anders gelernt habe, und das bedeutet eben auch: mit anderen Emotionen besetzt.

Hier liegt ein wesentlicher Grund dafür, warum uns das Ver- und Entlernen formalisierter Rituale und Überzeugungen so schwer fällt – allen voran Angehörigen pädagogischer und lehrender Berufe: Wir haben dieses Paradigma mit der Schulmilch aufgesaugt, die ja bis heute das Hauptnahrungsmittel von Pädagog*innen ist (im Sinne einer Metapher) – und wer sich anschickt, tief verinnerlichte Bilder, Erfahrungen (Belohnung und Bestrafung, Konkurrenz und Kompetition), Beziehungsmuster, Überzeugungen und Routinen traditionellen Lernens ans Licht zu holen, hat eine emotionale Achterbahnfahrt vor sich. John Erpenbeck und Rolf Arnold sprechen von „Labilisierung“: vom Aushalten der garantiert eintretenden, existenziellen Verunsicherung, ob ich denn jetzt das Richtige richtig lerne, wenn es mir nicht vorgegeben, vorgefertigt und vorgekaut wird – und von einem oder einer Expert*in entsprechend beurteilt.

Der im Verlauf der Pandemie intensiver werdende Ruf nach Präsenz- und Frontalunterricht erfüllt hier vor allem die Funktion einer psychischen Sicherheit oder zumindest Absicherung, auf dem richtigen, weil vorgegebenen und angeleiteten Pfad zu sein – sowohl was die Lerninhalte, die Lernpfade als auch die Lernziele betrifft. So interpretiere ich zum Beispiel die Aussagen von Lernenden der Sekundarstufe 1 vom Juli 2021:

Quelle

Es ist also nicht das Lernen als solches, das uns verunsichert, denn Lernen ist sogar eine Dopaminquelle, sondern das „drohende“ Verlassen jener Pfade, auf denen wir in den prägenden Phasen unseres Lernlebens immer und immer wieder geführt wurden. Wir brauchen keine pädagogischen, didaktischen und methodischen Stützräder beim Lernen. Wir brauchen heute als (Hoch-)Schulabsolvent*innen allenfalls Unterstützung beim Verlernen dieser Muster, Pfade und Routinen.

Je früher im Leben ein Mensch sein und ihr Lernen frei und selbstbestimmt praktizieren kann, umso höher die Wahrscheinlichkeit, eine resiliente Persönlichkeit zu entwickeln, die dann zu einem „Lernvorbild“ taugt, das Jan und Thomas in Lernhacks hatnäckig und sehr zu Recht anmahnen.

Ich behaupte: Je mehr sich nicht erst in der Arbeitswelt, sondern viel früher im Schulsystem ein*e Lehrer*in ganz konsequent als Lernvorbild versteht und zeigt, umso schneller lernen Menschen, die mit diesen Vorbildern unterwegs sind, ihren eigenen Pfaden zu vertrauen. Und dann treffen die genialen Lernhacks auf fruchtbaren Boden, was ich ihnen von ganzem Herzen weiterhin wünsche.

Sechs Aspekte für Schule der Zukunft

Wir stecken in einem Paradigmenwechsel, der alle kulturellen Dimensionen neu definiert: Gesellschaft, Ökonomie, Arbeit, Wissenschaft und Forschung – womit wir Geld verdienen, wie wir arbeiten, kommunizieren, zusammenleben – das alles verändert sich gerade fundamental. Mit unseren geltenden Vorstellungen von Schule, Bildung und Lernen lässt sich das weder erfassen noch begreifen noch gestalten.

Titelbild: Irgendwo in Wien | Christoph Schmitt

Erster Aspekt: Es geht nicht um Werkzeuge sondern um Kultur

Im Interview mit Tamedia (2.10.2021) sagt die Lernforscherin Prof. Dr. Elsbeth Stern von der ETH Zürich (!): „Ich habe so langsam ein Problem mit dem Begriff digitales Zeitalter. Was heisst das denn eigentlich? Es wird immer so getan, als sei das jetzt eine Zeitenwende.

Frau Stern artikuliert in diesem Interview (durchgehend) die Vorstellung, dass es sich bei „Digitalem“ ausschliesslich um Werkzeug handelt: „Es gibt wunderbare Möglichkeiten, zum Beispiel für das Üben von Vokabeln oder Mathe-Aufgaben. Da kann der Computer adaptive, an den individuellen Lernstand angepasste Aufgaben stellen und gute Rückmeldungen geben.“

Diese Mängel sind in der Tat ein großes Problem in Deutschland. Doch selbst wenn wir diesbezüglich paradiesische Zustände hätten, würde Schule nach wie vor das tun, was sie immer tut, weil der kulturelle Rahmen immer stärker ist.

Diese Überzeugung ist in Bildungskontexten „State of the Art“: Da gibt es ein paar digitale Endgeräte, ein Internet und (hier und da) WLAN, der Rest der Welt ist hingegen „wie immer“.

Wenn Frau Stern dann noch zu Protokoll gibt: „Ein jedes Werkzeug ist ein Tand in eines tumben Toren Hand“, dann redet sie damit zwar nicht wenigen Pädagog*innen das Wort. Doch sie unterschlägt (oder ignoriert), dass gerade der versierte Einsatz eines Werkzeugs, jederzeit die Absicht seines/ihrer Nutzer*in spiegelt. Das gilt nicht nur für Sprache, Schusswaffen oder Narkotika.

Die für den pädagogischen Kontext exemplarischen Positionen von Frau Stern machen deutlich: Die Herausforderung der Stunde für Schulalltag und Lernforschung besteht darin, Digitalität als ein Kulturphänomen zu begreifen, nicht als Tool oder als technisches Upgrade klassischer Be-Schulung: „The Digital Condition is not about transporting content but transforming societies and people“ (Quelle) – und genau das ist heute Bildungsarbeit. Die digitale Technologie selber ist längst Normalität – außer in Pädagogistan, wo sie als eine Art „neue Unterrichtstechnik“ interpretiert wird.

Was meint „Kultur der Digitalität als Handlungsrahmen“?

Dazu lasse ich einen ausgewiesenen Experten sprechen:

  1. Immer mehr Menschen sehen sich selber als jemanden, der/die sprechen kann, der/die in irgendeiner Weise berufen ist, eine Meinung zu haben und diese auch zu vertreten.
  2. Zum anderen erfahren wir eine umfassende gesellschaftliche Liberalisierung, die es Gruppen, die bisher nicht ’sprechfähig‘ waren, erlaubt, mit ihren Wertesystemen, mit ihrem kulturellen Horizont an die (digitale) Öffentlichkeit zu treten und mitzugestalten.
  3. Daraus folgt: Kulturelle Fragen stellen sich auf immer mehr Feldern, es gibt vermehrte Handlungsoptionen, mehr Möglichkeiten des Handelns, die miteinander konkurrieren und in irgendeiner Weise verhandelt werden müssen.
  4. Diese Verhandlungen sind eingebettet in immer komplexere Technologien. Um überhaupt angesichts diese Menge an Kommunikation, die in diesen Verhandlungen produziert wird, handeln zu können, um nicht in kommunikationsreduzierende Organisationsformen gezwungen zu sein und sich durch strikte Hierarchien zu organisieren, um nicht an der inneren Komplexität zu zerbrechen, braucht es immer mehr komplexe Technologien – und also die Fähigkeit, sie entsprechend strategisch einsetzen zu können.

Zusammenfassend: Kultur als Aushandlung von Bedeutung wird heute von mehr Menschen auf mehr Feldern mit mehr Technologie als je zuvor gemacht.“

… aus einem Referat von Felix Stalder zum Thema „Kultur der Digitalität“

Zweiter Aspekt: Wir stecken also in einem Paradigmenwechsel, der alle (!) kulturellen Dimensionen neu definiert: Ökonomie, Arbeit, Wissenschaft und Forschung, das soziale Gewebe; womit wir Geld verdienen, wie wir arbeiten, kommunizieren, zusammenleben – das alles verändert sich gerade fundamental. Mit Lehr- und Bildungsplänen, Unterricht in Klassenzimmern, Jahrgangs-Kohorten und Fächerstrukturen lässt sich das weder erfassen noch begreifen noch gestalten. Auf diesem Hintergrund ist es fatal, dass ausgerechnet im Bildungssystem Vorstellungen von Digitalität üblich sind, die völlig an unserer Lebenswelt vorbeigehen. Stichwort: Digital Citizenship.

The Centre for Digital Citizenship investigates the social and political consequences of current developments in digital media technologies – smartphones, social media, algorithms, data, and beyond – and asks how these technologies shape individuals, citizens, collectives, and publics. While digital technologies offer progress in terms of political mobilization and public conversation, they also hold the potential to enhance old inequalities and divides, countering trust in society. The Centre for Digital Citizenship seeks interdisciplinary explanations to these complex digital developments and their societal effects.

Quelle

Dritter Aspekt: Bildung bedeutet heute „Alphabetisierung 2.0“, sprich:

  • Eine eigene Position in der Ursuppe des Informations-Kosmos zu entwickeln, darin orientierungsfähig werden und kritisch
  • Entscheidungsfähig werden statt nur zwischen vorgegebenen Optionen zu wählen
  • Offen auf wenig planbare Situationen zuzugehen, statt „Malen nach Zahlen“
  • Szenarien für das Unvorhersehbare zu entwickeln, statt unter künstlichen Rahmenbedingungen intellektuell zu verhungern
  • In Prototypen zu denken und zu handeln, statt Perfektion anzustreben
  • In allen relevanten kulturellen Bereichen zu partizipieren, also von Anfang an aktiv mitzugestalten: teilnehmen und teilgeben zu können

Vierter Aspekt: Dazu brauchen wir eine mit allen anderen kulturellen Playern eng vernetzte („verwickelte“) Schule, mit der Menschen folgendes lernen:

  • Wissens- und Informationsmanagement im digitalen Kosmos
  • Kollaboration
  • Unsicherheitstoleranz
  • Risikoaffinität
  • Lösungsorientierung
  • Ownership
  • sich in neuen Arbeitsmärkten & Beschäftigungsverhältnissen aktiv & selbstbewusst zu bewegen
  • Die durch nichts zu zerstörende Überzeugung, dass der eigene Anteil an der Gestaltung von Gesellschaft und Kultur unverzichtbar wichtig ist und sinnvoll.

Die aktuell größte Gefahr für junge Menschen auf ihrem Entwicklungsweg ist die Überzeugung, dass irgendjemand andere*r als sie selber für das Besorgen, Beurteilen, Verknüpfen und Verwerten von Information zuständig sei. Hier liegt im Moment die größte uneingelöste Aufgabe von Bildung.

Fünfter Aspekt: Wir brauchen eine Schule, in der Menschen sich – nicht andere – lustvoll auf verrückte, unsichere und unvorhersehbare Zukünfte vorbereiten.

Sechster Aspekt: Das beginnt mit einer neuen Lehr-Lern-Kultur, die auf Kinder, Jugendliche, ihre Eltern und auf Lehrer*innen gleichermaßen anziehend wirkt.

We ask the big question first of what are the functional skills an adult needs … to operate successfully in society and not be taken advantage of by others. That is our baseline, and forms the core skills in each programme, from explorer to creator to changemaker.

Quelle

(Aktualisiert am 3.10.2021)

Bildung und Digitalität: Drei Schritte in Richtung Zukunft

Drei Schritte, ein Ziel: Was Schulen tun können, um an Digitalität anschlussfähig zu werden.

Haben wir uns tatsächlich damit abgefunden, dass Bildung und Digitalität nicht zusammenkommen? In der Phantasie der allermeisten Menschen bringt es digitale Technologie heute nicht viel weiter als bis zum Status eines methodisch-didaktischen Spielzeugs in weiterhin geschlossenen Settings. Wenig Bereitschaft zeigen Schule und Hochschule hingegen, sich zu den neuen Bedingungen kundig zu machen, unter denen sie ihre Arbeit zu machen haben. Dabei ließe sich Bildung auch unter Bedingungen der Digitalität durchaus gestalten.

Dann jedoch ist „Weiter so!“ die falsche Devise. Sascha Lobo hat jüngst mit seiner Eröffnungsrede auf der re:publica deutlich gemacht: Die aktuelle Pandemie zeigt, dass Deutschland auf dem letzten Loch pfeift, was seine Zukunftsfähigkeit betrifft. Das ist natürlich viel auf einmal, und löst eher Depression aus als es sie zu überwinden hilft.

Ich halte in diesen stürmischen Zeiten an meiner Überzeugung fest: Wandel ist gestaltbar. In jedem Moment. Das Gerede von den Bedingungen, die wir erst zu schaffen hätten, damit sich Menschen auf den Wandel einlassen können, ignoriert, dass es diese Bedingungen nicht geben wird, außer wir schaffen sie gemeinsam – und DAS ist dann der Wandel.

Wir sollten begreifen, dass „Sicherheit“ keine Voraussetzung für Veränderung ist. Sie entsteht erst in diesem Prozess. Wir erarbeiten sie uns, in diesem Prozess. Dass Menschen Sicherheit bräuchten, um überhaupt mit dem Lernen anfangen zu können, stimmt nicht. Lernen hebt erst in jenen Situationen an, in denen Sicherheit nicht gegeben ist oder verloren zu gehen droht.

Wir Menschen verändern uns und die Welt, wir lernen, damit wir dadurch Sicherheit gewinnen, nicht weil wir sie schon haben.

Das Fehlen oder (antizipierte) Abnehmen von Sicherheit ist der Auslöser von Lernen, mit dem Ziel, Resilienz zu entwickeln. Niemand verlässt freiwillig die eigene Komfortzone, egal mit welchen methodisch-didaktischen Tricks operiert wird. Der einzige Grund sie zu verlassen, ist, wenn ich aus ihr vertrieben werde. In allen anderen Fällen erweitere ich sie bloß – und das ist die allgegenwärtige Tendenz in unserem Bildungssystem: Zurück in die gute Schulstube.

Doch selbst unter solchen Bedingungen können wir mitgestalten.

Wenn eine Schule oder Hochschule oder ein Anbieter der beruflichen oder betrieblichen Aus- und Weiterbildung sich und sein Angebot angesichts einer „Kultur der Digitalität“ weiterentwickeln möchte, dann empfehle ich als Einstieg drei Aktivitäten. Die folgende Aufzählung ist dabei weder hierarchisch noch bedeutet sie eine zeitliche Abfolge. Jede kann den ersten Schritt bilden, eine Organisation kann die drei Schritte auch gleichzeitig machen (oder andere 🙂) – wie es passt.

Hier also mein Vorschlag für die ersten Schritte:

Sich informieren, was abgeht

Organisation und Mitarbeiter*innen informieren sich umfassend und entwerfen für sich, ihren Beruf, ihre Organisation und für ihr Angebot als Bildungseinrichtung ein Bild dessen, was „Kultur der Digitalität“ für sie konkret bedeutet: für den eigenen Handlungsraum. Anschließend fragen sie sich: Was ist für uns jetzt zu tun angesichts des Wissens, das wir uns erarbeitet haben? Erstes Ziel ist also:

Aufholen des teilweise erschreckend großen Rückstands nur schon hinsichtlich Information darüber, was „Kultur der Digitalität“ beinhaltet und bedeutet.

Den eigenen, digitalen Reifegrad ermitteln

Die Führung einer Schule, einer Hochschule oder einer privaten Anbieterin von Bildung fokussiert den digitalen Reifegrad ihrer Organisation und ihrer Mitarbeitenden in technischer, organisatorischer, kultureller und strategischer Hinsicht, um entsprechende Entwicklungsmaßnahmen ergreifen zu können. Hierfür gibt es bereits brauchbare „Lese- und Arbeitsinstrumente“.

Meine Zielgruppe verstehen

Ökonomisch formuliert geht es dabei um Marktfähigkeit – nicht von Menschen, sondern von Bildungsangeboten. Zwar halten öffentliche Bildungseinrichtungen hartnäckig daran fest, dass sie diesseits von Ökonomie agieren würden und Bildung nicht ökonomisiert werden dürfe. Aus dem Blick gerät bei diesem ideologischen Gerangel jedoch, dass es bei Bildung jederzeit auch darum geht, wie lernende Menschen anschlussfähig werden an Arbeitsmärkte , die sich im Rahmen der Digitalität völlig verändern – und damit verändern sich ja auch die Lebenswelten.

Dabei geht es nicht darum, dass Schule die Arbeitsmärkte mit Personal versorgt. Diese Verkürzung ist zynisch. Es geht um die Frage, welche Kompetenzen Menschen brauchen, damit sie in Zukunft (u. a.) ökonomische Realitäten aktiv mitgestalten können. Deshalb stellen wir uns als Bildungsorganisation analytische Fragen zu unseren Zielgruppen. Sie helfen uns dabei, uns entsprechend aufzustellen.

Was sind auf diesem Hintergrund die Herausforderungen unserer aktuellen oder zukünftigen Zielgruppen? Wie müssen die lernen? Was müssen die lernen, wissen, können?

Um das zu eruieren, muss ich nicht nur meine Zielgruppe und deren Bedarfe analysieren, sondern auch zukünftige Lebens- und Arbeitsbedingungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, weil sie sich bereits heute andeuten:

  • Wie werden Menschen, für die wir Bildung anbieten, in Zukunft arbeiten und wo?
  • Welche Optionen entwickeln sich hinsichtlich Arbeitsverhältnissen? Welche verschwinden?
  • In welchen Berufen werden Menschen in wenigen Jahren vor allem tätig sein? Wie sehen diese Berufe aus?
  • Welche Märkte und Branchen entstehen neu?
  • Wie verändert sich dabei das soziale Gefüge, wie das Verhältnis von Arbeits- und Privatleben, kurz:

Wie sehen die Lebens- und Arbeitswelten meiner Zielgruppen unter den Bedingungen der Digitalität aus?

Das Ziel: Die neuen Lebens- und Arbeitswelten lesen und verstehen lernen

Diese Phänomene muss ich als Bildungsanbieterin lesen und deuten können. In einem nächsten Schritt entwerfen wir dann Szenarien, wie sich die diagnostizierten Entwicklungen auf Bildungswirklichkeiten und Bildungswelten auswirken.

Aus solchen Analysen wird ersichtlich, was unsere Zielgruppen lernen und sich aneignen, was sie wissen und können, wenn sie uns in Anspruch nehmen.

Bei der Weiterentwicklung bzw. Neupositionierung von Bildungsorganisationen geht es also darum

  • wie in Zukunft Bildungs- und Lernprozesse überhaupt aussehen,
  • wie Menschen diese Prozesse organisieren: Prozesse, in denen sie lernen, was sie können und wissen müssen und wie sie es wissen und können müssen.
  • Was in diesen Prozessen die Funktionen und Aufgaben von Bildungsanbieterinnen sind – queer durch die Biografien von Menschen hindurch.

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Schule und Corona: Warum „Wissenslücken füllen“ der falsche Ansatz ist

Eine neue Art von Informationsmanagement und Wissensarbeit nach dem Vorbild innovativer Learning-Communities („colearning spaces“) wäre ein idealer Approach, um Schule als konkreten, kritischen und effektiven Gestaltungsraum von Kultur und Gesellschaft zu initiieren, nicht als das Auf- und Abarbeiten von Informationsmyriaden zum Zwecke ihres Abprüfens und Benotens.

Beitragsbild: Noupload auf Pixabay

Allerorten kreischen die Sirenen: Es seien jetzt dringend Wissenslücken aufzufüllen bei Schüler*innen. Stoff muss nachgepaukt werden, zur Not in den Ferien: um aufzuholen. Der Alarmismus entlarvt ein Verständnis von Wissen, das im Bildungssystem nicht erst seit Corona sein Unwesen treibt – und lernende Menschen zur Verzweiflung.

Dabei steht Schule vor allem für eine bestimmte Art der Darreichung von Information. Wissen entsteht erst im praktischen Umgang damit. „Wissen“ ist angewandte Information. Wissen ist wissen, was zu tun ist, wenn etwas der Fall ist. Wissen ist das, was ich, am besten mit anderen zusammen, aus Informationen mache, um eine Herausforderung nach der anderen anzupacken.

Wissen ist Information im Kontext

Ein oder jedes Schulfach repräsentiert also, wenn es das tut, was Schule Wissens- und Stoffvermittlung nennt, nicht Wissen aus (s)einer Disziplin, sondern Informationen. Diese Informationen werden zwecks ihrer Darreichung an Schüler*innen didaktisch-methodisch aufbereitet: weichgekocht, in Häppchen geschnitten, repetitionsfähig portioniert, visualisiert, manchmal auch geschickt versteckt (Osterhasenpädagogik).

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Wissen entsteht aus diesen Informationen dadurch, dass Menschen, denen diese Informationen dargereicht werden, in unserem Fall Schüler*innen und Studierende, Entscheidungen treffen, was sie mit diesen Informationen tun: wozu sie sie gebrauchen und einsetzen. Die „Metamorphose“ von Information zu Wissen findet statt, wenn Menschen eine Brauchbarkeit konstruieren in realen, lebensweltlichen Situationen: Was bringt mir die Information? Wobei nützt sie mir? In dieser notwendigen Konstruktionsleistung – notwendig, weil die Antworten auf Nützlichkeitsfragen in den dargereichten Informationen nicht enthalten sind – generiert ein Individuum Wissen.

Hier liegt also 1 Grund, warum es äusserst sinnvoll ist, zwischen Wissen und Informationen zu unterscheiden, also einen Unterschied zu bilden zwischen diesen beiden Phänomenen. Diese Unterscheidung erlaubt mir nämlich, den genuin kreativen, produktiven und konstruierenden Anteil des Menschen herauszustellen und sichtbar zu machen. Das ist übrigens auch ein wesentlicher Unterschied zwischen dem, was Maschinen mit Informationen tun (empfangen, speichern, vergleichen) und Menschen (Sinn entwerfen).

Wie komme ich zu einer guten Note?

In der Schule ist dieser Vorgang der Wissenskonstruktion jederzeit eingebettet in folgenden Kontext: Alles, was ich als Schüler*in mit den mir dargereichten Informationen anstelle und was nicht, endet in einer Note. Das gilt auch für meinen Umgang mit Informationen, die nicht als explizit prüfungsrelevant eingeführt werden, denn: je mehr Zeit ich mit denen verbringe, umso weniger Zeit bleibt mir zur Organisation jener Informationen, die prüfungsrelevant sind.

In der Schule ist jede Information prüfungsrelevant. Bis hin zu den Vorlieben der prüfenden und korrigierenden Person.

Die Grundfrage, die sich zu Beginn eines jeden Umgangs mit allen in der Schule dargereichten Informationen stellt, lautet also: Was muss ich mit diesen Informationen tun, damit die nächste Note eine ist, die mindestens mein „Bestehen“ nicht gefährdet? Völlig wurscht, in welcher (traditionellen oder innovativen) Form die Prüfung am Ende daherkommt und die Note zustande: Das ist das Ziel von „Informations- und Wissensmanagement“ in schulischen Kontexten.

Wenn ich weiß (!), wie ich mit den Informationen, die mir im Unterricht dargereicht werden, notenkonform umgehe, bestehe ich Prüfungen, die mir im Kontext dieser Informationen gestellt werden.

Diesen Prozess (aus der dargereichten Informationsfülle derart Wissen konstruieren, dass ich damit Prüfungen und langfristig die Schule bestehe) kann Schule nun auf vielfältige Art gestalten: frontal, gesprenkelt mit Gruppenarbeit, angelegt als Projektarbeit, eng geführt oder maximal selbstorganisiert, analog oder digital, synchron oder asynchron, mit „flipped classroom“, Tutorials – you name it.

Das wichtigste Wissen ist immer das Schulbewältigungswissen

Die konkrete Organisationsform der Informationsverarbeitung ändert, entgegen anderslautender Meinungen, nichts am Paradigma, denn unabhängig davon, wie Schule diese Prozesse methodisch-didaktisch organisiert, bleibt der Fokus für Schüler*innen jeweils derselbe: er ist gerichtet auf die Konstruktion von strategischem Wissen, wie sie dargereichte Informationen so organisieren, dass sie eine Prüfung bestehen, in der es darum geht, die dargereichten Information wiederzugeben.

Abiturprüfung im Mai 2020 in einer Sporthalle in Ravensburg Foto: Felix Kästle / picture alliance / dpa (Quelle)

So prüfen z.B. Prüfungen im Fach „Französisch“ die Fähigkeit und das Wissen, Prüfungen im Fach „Französisch“ zu absolvieren, sprich: Wie ich die im Französischunterricht dargereichten Informationen so einsetze, damit ich die damit verbundene Prüfung bei dieser (und nicht bei einer anderen) Lehrkraft bestehe: „What a person learns in a classroom is how to be a person in a classroom“ (Clark Aldrich). Das gilt für alle Fächer und für alle Formen des Prüfens, auf die die Auseinandersetzung mit „Stoff“ angelegt und ausgerichtet ist – unter der Voraussetzung, dass ich als Schüler*in diese Prüfung bestehen will, was ich womöglich muss.

Solange Schule prüft, bewertet und benotet, ist sie für Schüler*innen ein Ort der Prüfungsvorbereitung. Schulische Satelliten eingeschlossen, denn Schüler*innen „lernen“ ja auch zuhause oder sonst wo. Der Fokus, sprich das „erkenntnistheoretische Interesse“ Studierender wird immer darauf liegen, wie sie eine Prüfung bestehen, wobei gilt: Nach der Prüfung ist vor der Prüfung.

Den Zirkel erkennen und durchbrechen

Diesen Teufelskreis kann Schule aufbrechen, wenn sie versteht,

  • dass sie nicht Wissen vermittelt sondern Information darreicht, wie das auch Rezo, Böhmermann, Welke, von Wagner, Uthoff und Konsorten tun;
  • dass sie Wissen gar nicht vermitteln kann, weil Wissen in und aus einem individuellen bzw. gemeinschaftlichen Konstruktionsprozess derer hervorgeht, die dargereichte Information organisieren: in konkreten Situationen, in denen Menschen alleine oder gemeinsam Probleme lösen – mit Hilfe von Information, die sie sich idealerweise selbst beschaffen (statt sie von der Schule dargereicht zu bekommen), um sich in diesem Beschaffungsprozess Grundsätzliches über Wissens- und Informationsmanagement beizubringen, was Unterricht aufgrund seiner Parameter ja gar nicht leisten kann;
  • dass das an die schulischen Darreichungsformen von Information jederzeit geknüpfte Prüfungs- und Benotungsparadigma den erkenntnistheoretischen und -praktischen Rahmen schulischer Wissensarbeit bildet, und damit zum leitenden Paradigma schulischen Handelns von Lernenden (Schüler*innen) wird, die dadurch lernen, Wissensarbeit als defensive Strategie zu begreifen und einzusetzen, mit der sie Sanktionen abwehren.

Stattdessen kann sich Schule zu einem Raum der kreativen Wissenskonstruktion entwickeln, die sich der Lösung realer Menschheitsprobleme zuwendet, wenn sie sämtliche damit verbundenen Prozesse prüfungs-, bewertungs- und benotungsfrei macht und stattdessen lernenden Menschen anbietet, ihre eigenen Qualitätskriterien zu entwickeln, die nicht nach Parametern schulischer Bewertungsraster funktionieren, sondern z.B. nach Kriterien, die wir aus Forschung, Produktentwicklung, aus Scrum und Design Thinking kennen, oder auch aus den Beratungswissenschaften (z.B. „Creative Knowledge Feedback“ nach Radatz mit entsprechender Anpassung).

Selbstbestimmt studieren

In diesen neuen Zugängen zur Konstruktion und Produktion von Wissen steckt sehr viel Potenzial für das Anpacken der Herausforderungen, in denen wir in unseren globalisierten Welt-Dörfern stehen: Klimawandel, Pandemien, soziale Ungleichheit, Kriege, Ernährungskollaps, Populismus, Diskriminierung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, von BIPoC, von Migrant*innen, Geflüchteten, armen Menschen, Working Poors, von Menschen mit Behinderung, von Sinti und Roma, Religionsgruppen, HIV-Positiven, chronisch Kranken, zunehmendem Rassismus, den Folgen von Heteronormativität, Heterosexismus, Misogynie, Bodyism, sprich von körperbezogener Diskriminierung.

Diese Themen würden dann nicht mehr als fächerspezifisch aufbereitete Informationen dargereicht, um mit ihrer Hilfe prüfungsrelevantes Wissen zu generieren, sondern um sie als reale Problemkonstellationen anzugehen.

Eine neue Art von Informationsmanagement und Wissensarbeit nach dem Vorbild innovativer Learning-Communities („colearning spaces“) wäre deshalb ein idealer Approach, um Schule als konkreten, kritischen und effektiven Gestaltungsraum von Kultur und Gesellschaft zu initiieren, nicht als das Auf- und Abarbeiten von Informationsmyriaden zum Zweck ihres Abprüfens und Benotens.

Auf diesem Hintergrund finde ich es sehr bedauerlich, dass im Kontext von Digitalität und Corona derzeit große Chancen verschenkt werden, wenn in den Bildungsdebatten mit voller Überzeugung gefordert wird, es müssten jetzt schulische Wissenslücken gefüllt und Stoff nachgeholt werden.

Auch kristallisiert sich heraus, dass digitale Technologien in großem Umfang zur Anwendung kommen sollen, um diesen Vermittlungs- und Darreichungszirkus von Stoff zu perfektionieren. Der Diskurs hat sich also offenbar dafür entschieden, eine weitere Variante zu kreieren von „Prüfungen im Fach Französisch prüfen die Fähigkeit und das Wissen, Prüfungen im Fach Französisch zu absolvieren.“

Damit bleibt wohl auch der Diskurs um „alternative Schule“ auf die Frage reduziert, wer am Ende das Rennen um die bessere Prüfungsvorbereitung macht: Der analoge, mehrheitlich synchrone Präsenzunterricht, gespickt mit digitalen Flöckchen und Gruppenarbeiten, oder das mehrheitlich asynchrone, digitale Darreichen von Information und das (via Learning Analytics?) organisierte Einüben ihrer korrekten Anwendung auf die nächste Prüfung.

Julia M Cameron on pexels

Und dass es „am Ende wohl eine gute Mischung aus beidem “ sein könnte, ist ebenfalls keine gute Nachricht für junge Menschen.

Paradigmenwechsel statt Methodenwechsel. Fünf Mal Abschied von Schule

Beitragsbild: Dim Hou auf Pixabay

Sämtliche Diskussionen, die derzeit über „Schule der Zukunft“ geführt werden, reden über Varianten des Bestehenden. Sie beabsichtigen im besten Fall, einen unerträglichen Zustand erträglich zu machen – nicht ihn abzulösen. Was wir jedoch angesichts unserer Gegenwart brauchen, ist eine radikale Alternative, die sich von fünf tragenden Säulen traditioneller Schule endgültig verabschiedet hathier mein aktuelles Video dazu

Erstens: Kein Unterricht mehr
Bildquelle

Wir brauchen keine alternativen Unterrichtskonzepte mehr, also nicht „anderen Unterricht“, sondern Alternativen für Unterricht: Lernen in lebensweltlichen Formationen, Strukturen, Prozessen, die nicht mehr in der Architektur und im Paradigma des Unterrichts und des Unterrichtens gedacht, geplant, vorbereitet, durchgeführt und reflektiert werden. Wir lassen das Konzept Unterricht hinter uns. Ein gelingendes Beispiel dafür im Kontext von „Numeracy“ findest du hier.

Zweitens: Keine Prüfungen und keine Noten mehr

Lernende und sich (weiter-)bildende Menschen brauchen keine neuen und alternativen Formen des Prüfens, Bewertens und Benotens. Die sind erwiesenermaßen nutzlos für die, die bewertet und benotet werden. Deshalb geht es jetzt um Alternativen für das Konzept des Prüfens, des Bewertens und Benotens, mit deren Hilfe lernende Menschen auf sich und ihre Entwicklung achten können und diese Prozesse reflektieren. Vorschläge für Alternativen aus einer Community, die das erfolgreich praktiziert, findest du hier.

Drittens: Keine Fächer mehr

Lernende brauchen keine neuen oder anderen Fächer, um die sich verändernde Welt zu begreifen – auch keine fächerübergreifenden Fächer.

Quelle

Die Aufteilung der Welt, und damit die von Lernprozessen in Fächer, entspricht nicht mehr den Möglichkeiten, den Anforderungen und den Herausforderungen, wie Menschen heute Welt entdecken und verstehen. Das Denken in Fächern führt in verkürzte Weltbilder und verhindert die Entwicklung eines profunden Blicks für Zusammenhänge, die es zu entdecken gilt, nicht herzustellen, wie Prof. Dr. Wanner beschreibt. Deshalb entwickeln wir keine alternativen Fächer, sondern Alternativen für „Lernen in Fächern“:

Imagine what education would be like if every learning experience began with individuals finding and understanding their purpose or why; if every student was given agency to decide what they wanted to learn, how they wanted to learn it, and were guided by professionals who could mentor and coach them to inspire success.

Quelle
Viertens: Keine Klassen mehr

Wir brauchen keine anderen Zusammensetzungen von Klassen und Jahrgängen. Keine grösseren oder kleineren Klassen, keine homogenen oder buntere, besser gemischte Klassen. Wir brauchen Alternativen für das Denken und Organisieren von Lernen in Klassen und Jahrgängen, damit lernende Menschen Lernpartner*innen jenseits dieser Vorgaben finden, und so ihre Interessen und Potenziale zur Vorgabe ihres Lernens machen (jüngst wurde hier das niederländische „Agora-Konzept“ beschrieben, das eine echte Alternative darstellt).

Fünftens: Schluss mit synchroner Präsenz

Und wir verabschieden uns endlich und endgültig vom Konzept der Synchronizität und der synchronen Präsenz, sei sie digital oder physisch: Alle zur selben Zeit am selben Ort, denselben Stoff auf dieselbe Art. Nichts steht dem Lernen und seinen individuellen Entwicklungspfaden mächtiger im Weg als diese Praxis der Gleichschaltung. Eine Schule, die das seit vielen Jahren radikal alternativ gestaltet, wurde hier untersucht.

Dass wir tatsächlich auf dem Weg eines neuen Paradigma des Lernens sind, erkennen wir daran, dass vor allem dieses Relikt verschwunden ist. Stattdessen sind lernende Menschen ganz selbstverständlich in ihrem eigenen Tempo, in ihren eigenen Rhythmen und mit den Themen unterwegs, die ihnen ganz entsprechen.

Der erste Schritt: Schüler*innen übernehmen die Führung, die Organisation und das Gestalten ihres Lernens:

Mehr Videos von diesem großartigen Bildungsgipfel von Schüler*innen für Schüler*innen findest du hier.

Die Schule ist aus – und vorbei

Schule als System ist zu Ende. Wir stehen an einem Punkt der Geschichte, wo das System Schule seine Funktionen als Stabilisator und Reproduzent von #Kultur verloren hat. Sie ist in jeder Hinsicht dysfunktional geworden. Schule reproduziert weder Gesellschaft noch Kultur, sondern nur noch sich selbst.

Titelfoto aus dem Video School @ Home – digitale Betreuungs- und Lerneinheit mit Herrn Böhmermann | ZDF Magazin Royale

Aktualisiert am 20.1.2022

Der Aktivist Rosa von Praunheim hat 1971 für das öffentliche Fernsehen in Deutschland einen Film produziert mit dem Titel: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“. Dieser Filmtitel bringt ein fundamentales Merkmal von Kultur zum Ausdruck: dass Normalität eine Frage des Kontextes ist, innerhalb dessen sie beansprucht wird; dass alles, was Kultur ist, auch anders interpretiert werden kann und hin und wieder sogar muss.

Normalität und das gesellschaftlich Normative sind also nicht vom Himmel gefallen. Sie sind kulturelle Konzepte. So ist das auch mit der Schule. Auch die ist ein Konzept, das einmal erfunden wurde. Aus Gründen. Heute ist sie eines der wenigen, das uns noch geblieben ist aus den letzten hundertfünfzig Jahren. Normativ hoch aufgeladen und sakrosankt wie einst die großen christlichen Kirchen, die ihre Funktion als moralische Flüstertüte des Kapitalismus verloren haben – so staatstragend sie einmal waren. Die meisten anderen Systeme (z.B. Politik oder Gesundheit) sind, was ihre Funktionsweise betrifft, ökonomisiert.

Derzeit scheint alle gesellschaftliche Hoffnung am Phänomen Schule zu hängen. Sie muss in jedem Fall und für alle verpflichtend „offen“ bleiben, damit Kinder nicht den Anschluss verlieren. Woran? An die Schule natürlich. An den Stoff, die nächste Prüfung, den Abschluss. Sie muss offen bleiben, damit Eltern zur Arbeit können oder ihre Kinder nicht quälen. Manchmal sogar, damit sie was zu essen haben. Medien verbreiten die Hiobsbotschaft: „Schulausfall kostet zukünftige Generationen bis zu 3,3 Billionen Euro“.

Schule erscheint als letztes Refugium eines von Bildungsexpert*innen gerne und häufig zitierten Humanismus, der bis heute für eher fragwürdige Ausformungen von Humanität steht, wie dieses Diagnose-Feuerwerk zu beschreiben weiß:

Diejenigen Merkmale, die in der Zeitum 1900 nur eine schmale Oberschicht kennzeichneten, charakterisieren heute grosse Bevölkerungsanteile Europas (und Deutschlands ganz besonders …): Mangel an Tatkraft, geringer Glaube an sich selbst, Reflexionsüberhang, Entscheidungsschwäche, Zukunftsangst, Orientierungsverlust, Vergnügungssucht, Überempfindlichkeit, Weichlichkeit bei latenter Grausamkeit, Narzissmus, Haltlosigkeit, Depressivität und Handlungslähmung, Identitätsschwäche, Rollenspiel, Egozentrik, Mangel an Gemeinsinn, Sexualisierung, Psychologisierung, Nervosität, Hypochondrie, Alkoholismus, Fress- und Magersucht, Historismus, Entpolitisierung und Ästhetizismus, Stilpluralismus, Manierismus, Zitatverliebtheit an Stelle von Eigenschöpfung, Schein statt Sein, Dezisionismus bei gleichzeitig schwacher, gelegentlich aber theatralisch auftrumpfender Willenskraft. (Hermann Kurzke: Elend, Glanz und Komik der Dekadenz, Tagesanzeiger 6.8.2005, S. 37).

Auf mich macht Schule den Eindruck einer ultimativen kulturellen Projektionsleinwand. Der alte Tanker mutiert zum „Rettungsboot für alle“. Das verleiht dem Schulsystem in den hitzigen und über weite Strecken vorhersehbaren Debatten über Bildung den Nimbus einer Institution, die eigentlich nicht zur Diskussion stehen darf. An Schule herumkritteln: klar. Sie Reformen unterziehen: bitteschön. Sie digitalisieren: wenn es sein muss. Aber sie selbst darf nicht zur Disposition stehen.

Schule ist vorbei

37 Sekunden Ausschnitt aus dem Trailer zum Film „School Circles“

Doch diese Situation ist eingetreten. Schule als System ist zu Ende. Ähnlich wie andere kulturelle Trägersysteme, die erfunden wurden, um über Jahrhunderte hinweg gesellschaftliche und ökonomische Stabilität zu garantieren, und die dann unter mehr oder weniger großem Lärm abgewickelt wurden. Wir stehen an einem Punkt der Geschichte, wo das System Schule seine Funktionen als Stabilisator und Reproduzent von Kultur verloren hat und in wirklich jeder Hinsicht dysfunktional geworden ist.

… und das sind nur die Digital-Jobs

Schule garantiert nicht (mehr) „gesellschaftlichen Fortbestand“ und ermöglicht nicht mehr „kulturelle Teilhabe“, weil sie sich in ihren Strukturen und Prozessen auf eine Kultur und auf eine Gesellschaft bezieht, die nicht mehr existieren. Auch auf die fundamentalen ökonomischen Herausforderungen (Plattform- und Gig-Economy, neue Berufe und Berufsbilder) bereitet sie in keiner Weise vor, u.a. weil sie von den neuen ökonomischen Parametern völlig überfordert ist. Initiativen, die hier gesellschafliche Grundlagenarbeit leisten, werden weder unterstützt noch beforscht.

Ein Vater, der ein Unternehmen für Software-Entwicklung leitet, erzählt im Rahmen einer Studie, warum er das alternative Konzept von Schule für seine Kinder bevorzugt.

Dennoch halten sich ganz viele Akteure (Lehrende, Eltern, Bildungspolitiker:innen und auch Lernende) an der Idee fest, dass all die Probleme, die traditionelle Schule hat und hervorbringt, in den Griff zu bekommen seien. Sie sind nach wie vor davon überzeugt, dass wir das hinkriegen mit genügend Geld und so viel Reform, wie es halt (zum x-ten Mal) braucht. Lehrende hoffen auf andere Schüler und Eltern, Eltern und Lernende auf andere Lehrer, und natürlich: digitale Infrastruktur muss her. Doch da liegt ein fundamentaler Irrtum.

Wenn sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben sie einen scheiß digitalen Prozess.

Thorsten Dirks (Quelle)

Die aktuelle Pandemie wirkt wie ein Kontrastmittel. Wir beklagen zwar vor allem und zu Recht fehlende digitale Infrastruktur und Kompetenz. Tiefer liegt jedoch ein anderes Problem: Autoritäre Strukturen und Menschenbilder; ein großes Misstrauen gegenüber Schüler*innen und ihren nicht-schulischen Lebenswelten, dem eine uralte Inkompetenz-Vermutung zugrunde liegt, die mit Adultismus mittlerweile auf den Begriff gebracht ist. Partizipation bleibt ein Lippenbekenntnis („Die Machtstrukturen der Erwachsenen im Schulsystem dringen wie üblich voll durch.“ Quelle). Eine im Obrigkeitsdenken und im autoritären Menschenbild verwurzelte Überzeugung, dass der lernende Mensch nur lernt, wenn er/sie direkt und ununterbrochen didaktisch befeuert bzw. kontrolliert wird und vor allem: wenn er und sie sich lückenlos einpasst in das System: „Sozialisationsprozesse sind dann erfolgreich, wenn die Individuen am Ende genau das tun wollen, was das System benötigt, um sich zu reproduzieren.“ (Zygmunt Baumann, Leben in der Flüchtigen Moderne, S. 150) Ein Gegenentwurf hierzu wird in dieser Online-Publikation vorgestellt und reflektiert.

Sam Lardner und Christopher Pommerening von Learnlife über Unschooling

Nur ist es heute nicht mehr die Gesellschaft oder die Kultur, die sich mit Hilfe von Schule reproduziert. Schule reproduziert nur noch sich selbst.

Ein Beispiel: Der Einsatz flankierender Berufe wie z.B. Heil- und Sozialpädagogik und der Ruf nach ihnen nimmt stetig zu. Entsprechende Studiengänge & Stellen werden immer wichtiger. Vordergründig geht es dabei um die Unterstützung von Kindern mit Problemen. Tatsächlich geht es aber um eine Illusion von „Reibungslosigkeit“ nach dem Vorbild industrieller Produktionsabläufe: Wer sich nicht von sich aus in das Belehrungssystem einpassen kann, wird hineinunterstützt. Das Inklusionsversprechen ist angetrieben von einem ehrenwerten Anliegen. In der Praxis geht es allerdings um ganz andere Ziele, wie auch eine aktuelle Untersuchung bestätigt: „Eine Studie zeigt, dass es bei der Schulverteilung wohl nicht nur um den Bedarf der Jugendlichen geht.“ Maike Plath von ACT Berlin spricht metaphorisch von der Untertanenproduktionsmaschine, und auch Andreas Schleicher stellt fest, dass das industrielle Arbeitsmodell nach wie vor großen Einfluss auf die Schulkultur hat. Heilpädagogik, Logopädie, Schulsozialarbeit, Ritalin und Nachhilfe werden als Überlebensstrategien des Schulsystems eingesetzt.

Es geht um die Rettung einer anachronistischen Vorstellung von Normalität. Das System Schule bringt die vielschichtige Problematik mitsamt den Kindern, die „Probleme machen“, also womöglich erst hervor.

Zum Originalvideo geht’s hier

Darauf verweisen z.B. die Langzeitstudien von Remo Largo. Auch erleben mehr und mehr Kinder und ihre Eltern seit Jahren auf ganz nicht-wissenschaftliche Weise, dass Schule eher krank macht als klug, wie die Lerntherapeutin und Ex-Lehrerin Corinna Milinski exemplarisch beschreibt und auffängt.

Wir sind an einem Punkt angekommen, wo – wenn überhaupt – nurmehr die Kinder und Jugendlichen „unauffällig“ (!) bleiben, die ein gefestigtes soziales und am besten auch materiell gepolstertes Lebensumfeld haben, denn Nachhilfe wird, im Unterschied zu Ritalin & Co, nicht von der Krankenkasse bezahlt.

Wir nehmen nicht wirkmächtige Zusammenhänge in den Blick, sondern operieren an den Folgen herum. Wichtig ist, dass die Verantwortlichen in ihre Sessel zurückfallen können mit dem ruhigen Gewissen, dass sie nun wirklich alles mögliche getan haben, was Wirt- und Wählerschaft zuzumuten ist. Das Vorgehen ist auf perfide Weise hermetisch: Das Schulsystem erweckt den Eindruck, dass es „etwas für die Kinder tut“ und erwartet diesbezüglich vor allem Dankbarkeit und Zustimmung. Dass es selbst Mitverursacher und Verstärker eines Problems ist (z.B. in dem es „lernschwache Schüler“ hervorbringt), zu dessen Lösung es dann großzügig antritt (indem es dann lernschwache Schüler entsprechend beschult), diese erfahrungs- und reflexionsgesättigte Erkenntnis, die wird ausgeblendet. Aus Gründen.

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Fotos aus dem Video „Ninnoc“ von Niki Padidar

Nicht das Kind ist krank, sondern die Schule, in der es steckt

In Deutschland braucht es sechs Generationen, um von einem niedrigen zu einem mittleren Einkommen zu gelangen. Grafik aus Minouche Shafik: Was wir einander schulden. Ein Gesellschaftsvertrag für das 21. Jahrhundert (Quelle)

Schule bringt aber nicht nur Probleme hervor, die sie dann zu lösen vorgibt. Vielmehr vermittelt sie unzähligen Kindern und Jugendlichen ja ein Selbstbild als problematische, zurückgebliebene, als nicht oder nur schwer integrierbare Menschen und (re-)produziert mit dem Benotungs- und Bewertungsunsinn den Leistungsdruck auf junge Menschen. Schule ist entweder selbst eine Quelle der Diskriminierung: „In der Hälfte aller gemeldeten Fälle von Diskriminierungen gegen SchülerInnen [an Berliner Schulen] (im Schuljahr 2019/20: 272) waren Lehrkräfte diejenigen, die diskriminierten. Das Gros waren Rassismen wegen Sprache, Herkunft oder Religion.“ (Quelle) – oder Schule reicht Diskrimierung durch bzw. verstärkt bestehende Formen.

Dabei ist völlig aus dem Blick geraten, dass wir Menschen niemals sind: lernschwach oder bildungsfern etwa. Wir verhalten uns: so oder anders. Auch und gerade Schüler:innen. Die Situation, in die Schule junge Menschen steckt, hat immer einen fundamentalen Anteil daran, wie sich diese Kinder und Jugendliche dazu verhalten. Selbst Probleme wie das Mobbing, das ja reflexartig an den Kindern und an ihrem kulturellen bzw. familiären Hintergrund festgemacht wird, an den Medien und den Eltern, gedeihen ja vor allem in bestimmten schulischen Kontexten.

Wer (Cyber-)Mobbing verstehen möchte, sollte nicht bloß auf die Menschen schauen, die es praktizieren, sondern auch auf die Schule als ein Kontext, in dem das passiert. Die Tatsache, dass sich Mobbing an innovativen und alternativen Schulen nicht durchsetzt (hier eine aktuelle Untersuchung einer Schule, an der Mobbing keine Chance hat), hat nicht damit zu tun, dass dort „halt spezielle Kinder sind“, die sich eine Schule quasi wie Rosinen herauspickt. Es hat damit zu tun, dass das Phänomen an solchen Schulen keine Chance hat, weil Kinder und Jugendliche, die auch dort aus jedem erdenklichen persönlichen Background kommen, eine andere Kultur des Lernens und der Gemeinschaft erfahren, und weil sie dort ganz anders lernen, mit Macht umzugehen.

Ganz zu schweigen davon, dass auch Kinder und Jugendliche, die einigermaßen unauffällig durchkommen (aka „erfolgreich“), sich in der Schule schon lange nicht mehr auf das vorbereiten, was die Gegenwart an Haltungen, Fähigkeiten und Einstellungen erfordert. Hier lautet die Begründung von Seiten der Schule immer wieder: „Wir können unsere Arbeit deshalb nur noch schwer machen, weil wir immer mehr problematische Kinder haben.“ Dass ein Kind ganz einfach überfordert ist, wenn es in einen Rahmen gespannt wird, der die Individualität von Lernen und Persönlichkeitsentwicklung systematisch ignoriert und unterdrückt, gerät nicht in den Fokus der Überlegung. Vielmehr ist genau dann zu hören, Kinder müssten als erstes lernen, sich ein- und anzupassen, sich unterzuordnen. Und wer das nicht kann, brauche halt Unterstützung – oder eine andere Schule.

Tatsächlich kann Schule als System die kulturelle Vielfalt und Heterogenität einfach nicht bewältigen, die sich in unseren Lebens- und Arbeitswelten heute abbildet. Dafür wurde sie nicht erfunden. Deshalb erfinden sich im Moment ja auch vielerorts ganz neue Konzepte von Lernen und Bildung.

Wir brauchen keine „andere Schule“ sondern eine Alternative

Ein neues Lern-Paradigma in 1 Minute. Mehr über Devin und seine Lerngeschichte findest du hier

Wir brauchen einen Zusammenschluss all jener Kräfte in unseren Gesellschaften, die Bildung und Lernen auf viele kulturelle Schultern nehmen; nicht verteilen sondern in Angriff nehmen, selber in die Hand nehmen; die die Anliegen von Bildung und Lernen gemeinsam und grundsätzlich neu praktizieren. Nicht nur vereinzelte Eltern und Elterngruppen, die ihre Kinder aus der Schule nehmen, weil es nicht mehr anders geht – wie es zunehmend in Ländern geschieht, die keine Schulpflicht kennen. Das kann nur ein Anfang sein. Ein wichtiger und wertvoller Anfang, weil er alarmiert. Aber es geht um viel mehr. Es geht darum, dass wir mit Kindern und Jugendlichen zusammen völlig andere Räume und Formen des Lernens entwickeln, bauen und umsetzen – und das passiert ja bereits, gegen den hartnäckigen Widerstand der staatlichen Bildungsmonopolist*innen.

Die traditionellen Institutionen zu adressieren oder auf sie zu warten, ist deshalb sinnlos, wie im Kontext der Pandemie gerade deutlich wird, denn die sind weder bereit noch fähig, sich auf innovative Initiativen einzulassen und von ihnen zu lernen. Die Safaris und Wallfahrten, die Bildungspolitiker*innen imme wieder zu innovativen Learning Communities unternehmen, enden so, wie die Ausflüge von Politikern und Unternehmern ins Silicon Valley: Sie kehren erschreckt und fasziniert in die eigene Welt zurück mit der Erkenntnis, „dass das so bei uns natürlich nicht funktionieren kann“ – aus Gründen.

Die Fragen, die wir uns jetzt zu stellen haben, sind: Was spricht dafür, im großen und ganzen so weiterzumachen wie bisher, mit all diesen Ausreden und Begründungsreflexen, weil wir das bestehende Schulsystem weiterhin für das beste aller möglichen halten, an dem wir hier und da rumschrauben und reformieren, digitale Tools importieren und eine Schulsoftware, die Frontalunterricht, Leistungsnachweise und Lehrermangel optimal digitalisiert? Und was spricht dafür, dass die traditionelle Schule zu Ende gegangen ist: konzeptionell, methodisch und in Bezug auf ihr Menschenbild? Erkennbar daran, dass sie die meisten jener Probleme, die sie hat, selber hervorbringt, indem sie pausenlos mehr desselben tut in einer Situation, in der ein radikaler Neuanfang die Lösung ist.

Die großen Institutionen, die dem Umfang nach immer noch das ganze Bühnenbild und den Szenenaufbau dessen beherrschen, was wir unsere Gesellschaft zu nennen fortfahren, obwohl sie mehr und mehr in einer Inszenierung aufgeht, die mit jedem Tag an Plausibilität verliert, nachdem sie sich sogar der Mühe enthoben glaubt, das aufgeführte Schauspiel zu erneuern, und ein ganzes gescheites Volk durch ihre Mediokrität hinabzieht – die großen Institutionen also gleichen jenen Sternen, deren Licht uns erreicht, während sie, wie die Astrophysik uns lehrt, seit langem schon erloschen sind.

Michel Serres, Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, S. 62 – ein unglaublich kluges und analytisches Buch.

Das neue Lernen ist in den Nischen

“Wir geben uns unser Lernen zurück.” Gründung des Vereins http://www.colearning.org im http://www.effinger.ch im April 2023.

Aufgrund meiner Beobachtungen, Beratungen, Expeditionen, Gespräche und Recherchen vermute ich, dass vor allem jene Initiativen stark an gesellschaftlichem Einfluss zunehmen, die nicht innerhalb des bestehenden Schulsystems innovativ werden, sondern im freiem Feld: initiiert von Menschen, die verstanden haben, was es braucht; die das Geld und auch die Aufmerksamkeit zusammenkratzen, um ihre wertvollen Konzepte weiterzuentwickeln und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das ist im Moment noch mit hohen Risiken verbunden – vor allem im alten Europa, wo Staaten wie Deutschland ihre Bürger*innen mit einer rigorosen Schulpflicht drangsalieren und ausschließlich traditionelle Systeme alimentieren – sei es mit Geld, sei es mit Gültigkeit. Fatal ist, dass wir alle im Moment noch am staatlichen Bildungsmonopolismus hängen, der jedoch zum Glück nicht verhindern kann, dass sich in Nischen wunderbare Initiativen entwickeln und verbreiten – und damit meine ich nicht jene Privatschulen nach Schweizer Vorbild, die jährlich Zigtausende von Euro dafür kassieren, um junge Leute durchs Abitur zu bringen, die also am Ende doch wieder im Takt des traditionellen Systems tanzen.

Ich denke an jene Initiativen, die ums finanzielle Überleben kämpfen, gerade weil sie mit einem völlig anderen Konzept arbeiten als staatliche Schule. An dieser Stelle seien einige genannt, in denen ich die Zukunft des Lernens sehe: Das mittlerweile über 50-jährige Konzept der Sudbury Valley School in seiner ganzen Radikalität, aufgegriffen und weiterentwickelt in den Demokratischen Schulen, die School Circles in den Niederlanden bzw. ganz aktuell dort die Agora-Schulen, die Grundi in der Schweiz, und die Learnlife-Comunity.

Das neue Lernen, das wir so dringend brauchen, wird sich weder im alten Schulsystem entfalten, noch aus ihm heraus. Vergleichbar mit vielen Entwicklungen, die wir momentan im Kontext der Digitalisierung erleben, und die sich allesamt an anderen Orten auf dieser Welt abspielen. Beobachtungen, die in diese Richtung verweisen, habe ich hier zusammengetragen.

Das alte Europa, und darin ganz besonders Deutschland, ist kraft- und mutlos geworden. Zelebriert wird das Alte, wird die Wiederholung. Der patriarchale Traditionalismus mit seinen Symbolen und Artefakten, mit seinen Hierarchien und Seilschaften durchwirkt noch immer alles, damit das radikal Neue nicht Fuss fassen kann: nachhaltige Formen des Wirtschaftens und des Zusammenlebens, ökologische Neuanfänge auf breiter Ebene, Überwindung nationalistischer Narrative, Erfindung neuer Erzählungen über lebenswertes Leben, eine Ahnung davon, wie unsere Zukunft aussehen könnte, statt des ritualhaften Abhakens all jener Vorschläge, die nicht genehm sind. Aus Gründen. Überall Vermeidungsängste statt Zukunftshoffnungen. Und dazwischen das gute alte „panem et circenses“ (Brot und Spiele) im neuen Gewand.

Der erste Schritt, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist ein Unterbrechen der Versorgung unseres Schulsystems mit „menschlichem Nachschub“. Entweder wir gehen dieses Risiko ein und praktizieren Bildung und Lernen jetzt neu – die Alternativen sind ja weltweit bereits vorhanden, oder wir gehen vor die Hunde. Ob wir das wahrhaben wollen oder nicht.

Die Herausforderung, die es für die nächsten Generationen bedeutet, aus dem heruntergewirtschafteten Ort, den wir ihnen hinterlassen, wieder einen Lebensraum zu machen, sind riesig – nicht nur ökologisch, sondern auch was das Zusammenleben angeht. Und es ist unsere Aufgabe, jungen Menschen erstens alles aus dem Weg zu räumen, was es ihnen erschwert, diese Zukunft zu gestalten und ihnen zweitens alle Unterstützung zu geben, die sie fordern, um das zu leisten.

Ein erster Schritt in diese Richtung ist der, Kinder und Jugendliche gleichwürdig und auf Augenhöhe als Gesprächspartner*innen zu erkennen und wertzuschätzen, nicht nur, aber vor allem dann, wenn es um Bildung und Lernen geht. Dann kommen zum Beispiel solche Initiativen zu Stande:

Mehr zu diesem Bildungsgipfel erfährst du in den Videos hier. (Quelle Artikel: Suttgarter Zeitung)

Bildungsgerechtigkeit durch Präsenzunterricht? Eine Anzweiflung

Titelbild: Irgendein Gymnasium (Quelle: Autor)

Alle müssen zur Schule. Nur so sei Bildungsgerechtigkeit gewährleistet. Nur so würden junge Menschen auf eine erfolgreiche Zukunft vorbereitet – so tönt es aus den Kanälen der Bildungspolitik. Doch das Abregnen von Stoff führt nicht zu Gerechtigkeit – und vermittelt wird durch die Hintertür etwas anderes.

Nicht erst seit wir in einer Pandemie stecken, wird allerorten die Bedeutung von Schule als Ort zuverlässiger Wissensvermittlung betont. Endlich geht es wieder um Inhalte! Doch die sind in jeder Hinsicht zweitrangig. Der Unterrichtsstoff ist vielmehr ein Transportmittel. Mit seiner Hilfe vollzieht Schule ihren eigentlichen Auftrag, der nicht in der Wissensvermittlung liegt, sondern in der Reproduktion von Kultur. Der Stoff ist eine Lokomotive.

In neun Schuljahren lernten die Kinder Lesen zum Entziffern der Werbeanzeigen. Schreiben, zum Bestellen von Waren, Rechnen zum Kalkulieren der Ratenzahlungen. Lesen, Schreiben, Rechnen. Für andere Dinge war keine Zeit.

Wolfgang Bittner (Quelle)

Bereits dort, wo Schule einigermaßen „funktioniert“, reproduziert sie eine Kultur. Das ist ihr Job. Nicht Wissen, sondern die Kultur, deren Schule sie ist: Hierarchien, Menschenbilder, Werte und Normen, Verhaltenskodices, Überzeugungen von Gesellschaft und Zusammenleben, Sinn und Lebensziele, ästhetische Urteile, Vorstellungen von Geschlecht und Beziehung. Was und wie ein Mensch sei und wie nicht, wie er und sie lebt, was richtig und falsch ist, gut und böse.

Problematisch wird dieses Reproduzieren dann, wenn Schule den Kontakt zu der sie umgebenden Kultur mehr und mehr aus den Augen verliert. Dann, und an diesem Punkt stehen wir heute, rekurriert Schule auf eine Kultur, die entweder schon der Vergangenheit angehört, oder auf eine, die wir dringend hinter uns lassen müssen um Platz zu machen für neue Formen von Kultur, die über unsere Zukunft mitentscheiden: Inklusion statt Selektion, Soldiarität statt Wettbewerb, Kollaboration statt Konkurrenz, Zirkularität statt Wachstum u.v.m.

Lesen, Schreiben, Rechnen: ein geschicktes Ablenkungsmanöver

„Sozialisationsprozesse sind dann erfolgreich, wenn die Individuen am Ende genau das tun wollen, was das System benötigt, um sich zu reproduzieren.“

Zygmunt Baumann, Leben in der Flüchtigen Moderne, S. 150

Schule reproduziert also nicht Kulturtechnik, sondern Kultur, die sie mit Hilfe von Kulturtechnik reproduziert: Kinder müssen „in die Schule“, weil nur so ihre Eltern das tun können, worauf Schule zuvor sie vorbereitet hat. Und nur wenn Kinder zur Schule gehen, kann Schule sie auf das vorbereiten, worauf sie bereits deren Eltern vorbereitet hat – und das ist nicht Lesen, Schreiben, Rechnen, sondern die Internalisierung einer Kultur.

Der Fokus auf Stoff und Wissen, der Ruf nach Bildungsgerechtigkeit durch Präsenzunterricht, also: alle denselben Stoff zur selben Zeit am selben Ort in der selben Form, im selben Tempo – das ist bloß ein Ablenkungsmanöver. Kultur lässt sich einfach leichter reproduzieren, solange alle daran glauben, es würde um Wissen, Stoff und Kulturtechnik gehen.

Auf dem Weg zum Erfolg: Informationen von A nach B tragen.
Aus einem Werbevideo eines privaten Gymnasiums (Quelle: youtube. Release: 19.11.2020)

Ein Beispiel

Ich kann Unterrichtsstoff wie „Menschenrechte“ oder „Menschenwürde“ so durchnehmen (aka „unterrichten“), dass ich dadurch gegen beide verstosse, indem ich z.B. Unterricht misogyn, rassistisch, homophob, autoritär organisiere – also durch die Art, wie ich Unterricht strukturiere, und wie ich ihn durchführe – also durch die Art(en) der Interaktion. Was ich dabei reproduziere, ist eine Kultur, sind Menschenbilder:

„Wer nämlich mit ‚h‘ schreibt, ist dämlich.“

Umgekehrt: Wenn mir wichtig ist, dass wir Menschenrecht und Menschenwürde verwirklichen, brauchen wir dafür keine Schule und keinen Unterricht, sondern eine bestimmte Art des sozialen Miteinanders, das wir überall gestalten können – selbstverständlich auch in einem Schulgebäude.

Und es ist auch keine Kleinigkeit, dass dort, wo Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen sollen, sie dies unter besonderer Berücksichtigung ihrer Rechte tun können und ihrer Bedürfnisse und ihrer Persönlichkeit. Wenig schadet einem Kind mehr, als wenn es in der Entwicklung grundlegender Kompetenzen unter Zeit- und Erfolgsdruck gesetzt wird, denn beim Lernen gibt es keine Gleichzeitigkeit. Lernen ist seinem Wesen nach „ungleichzeitig“ – auch in einem Schulgebäude.

Diese Tatsache ignoriert traditionelle Schulkultur auf der ganzen Linie.

Immer wieder höre und lese ich, dass alles Wissen dieser Welt heute jederzeit und überall bei Fuß steht, und Schule sich deshalb fragen lassen muss, wozu es sie dann eigentlich noch braucht. Die Antwort auf diese Frage finden wir aber nicht über den Stoff, den sie ankarrt, nicht über Formeln, Texte und Landkarten, sondern über die Kultur, in der sie es tut. Die bestimmt darüber, was Menschen in der Schule tatsächlich lernen während sie lernen.

Was ich in der Schule lerne

  • Wer vorne steht, hat das Sagen – egal, was er oder sie sagt.
  • Autoritäre Autoritäten bestimmen über meinen Alltag: wie ich ihn gestalte, wo ich mich wann aufhalte, was ich wann mache und nicht, mit wem und was ich mich beschäftige und nicht, wofür ich Zeit einsetze, die niemals meine ist, weil andere sie mir zuteilen und sie portionieren, sie mir geben und nehmen.
  • Individuelle Bedürfnisse sind mindestens zweitrangig. Es ist besser, sich nicht so intensiv mit ihnen zu beschäftigen bzw. sie gar zu einem Bestandteil meines Lernens und meiner Bildungsprozesse zu machen.
Martin Walser (1982), Heimatlob, S. 34, 37. Insel Verlag.
  • Die Bewertung durch andere ist jederzeit Ausgangs- und Zielpunkt meiner Selbsteinschätzung. Im Zweifelsfall gilt, wie andere mich einschätzen.
  • Es entscheiden immer andere über richtig und falsch. Ich lerne, diese Perspektive zu übernehmen. Ich lerne nicht zu entscheiden, was richtig und was falsch ist. Ich lerne, dass andere darüber entscheiden. Das lerne ich als richtig. Ich verinnerliche das.
  • Andere entscheiden über mich.
  • Protest führt zu Sanktion und Verlust von Chancen.
  • Ich habe keinen Einfluss auf die äußeren Bedingungen meines Lernens. Auch nicht auf die Gestaltung der Rahmenbedingungen. Sie sind immer von anderen gesetzt.
  • Wer es mit Autoritäten gut kann, wird Erfolg haben.

Es geht in der Schule darum, eine Kultur zu reproduzieren. Eine Kultur der Kontrolle. Eine Kultur der Reiblungslosigkeit. Eine Kultur des sich Ein- und Unterordnens. Eine Kultur der Milieus und der Schichten, des Oben und des Unten. Eine Kultur, in der im Wesentlichen immer andere über dein Leben, dessen Spielräume und seine Gestaltung entscheiden. Eine Kultur, deren Basis die Selektion bildet.

Darauf bereitet Schule vor, indem sie es tut. Unerbittlich:

Warum also Präsenzunterricht?

Schule braucht den direkten, umfassenden, physischen Zugriff auf Kinder und Jugendliche. Nur so kann sie ihren Reproduktionsauftrag erfüllen. Je weniger Zugriff sie auf die Lernenden hat, je weniger die ihrer Kontrolle unterstehen, je freier und diverser die ihr Lernen gestalten, zusammen mit unzähligen Akteuren der Zivilgesellschaft, umso mehr schrumpfen die Möglichkeiten zur Kontrolle, umso schwieriger wird es für Schule „zu reproduzieren“. Darum geht’s bei Präsenzunterricht.

Zwar wird gerade in Zeiten einer Pandemie gerne folgendes Argument aus dem Ärmel gezogen:

Doch aus diesen real existierenden Problemen und Benachteiligungen müsste folgen

  • niederschwellig qualifizierte Betreuung anzubieten für alle Menschen, die das brauchen,
  • die eklatante soziale Benachteiligung in unserer Gesellschaft abzubauen (die ein kulturelles Phänomen ist)
  • und den Arbeitsmarkt sozial verträglich zu gestalten,

statt ein völlig überfordertes und in mancher Hinsicht dysfunktionales Schulsystem zum Sozial-Lazarett zu stilisieren. Präsenzunterricht gehört in all seinen re-reformierten Ablegern in eine andere Zeit. Weder ist es heute aus organisatorischen Gründen nötig, Kinder und Jugendliche zu Bildungszwecken nach Jahrgängen getrennt in Schulzimmer zu pferchen, um allen auf dieselbe Weise Stoff zu vermitteln, noch entsprechen die anderen traditionellen Säulen von Schule (z.B. Fächerstrukturen, Benotungssysteme) den Bedarfen und Bedürfnissen lernender Menschen, noch befähigen sich junge Leute in solchen Settings auf ein Leben und Arbeiten in einer Kultur der Digitalität.

Es ist Zeit, sich das einzugestehen.