Warum wir Schule überwinden müssen, um zukunftsfähig zu werden

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Ich habe neulich einen Artikel mit der folgenden Überschrift gelesen: „We must teach kids AI now! The why, the what and the how“. Gefunden haben ich diesen Artikel über den wunderbaren Newsletter Dalith & Andy | SwissCognitive. Der Autor beschreibt wie wichtig es für uns als Individuen und als Gesellschaft ist, das wir Künstliche Intelligenz begreifen: was sie kann und was ihre Chancen und Risiken sind. Seine Ausführungen über die Auswirkungen von KI sind hervorragend, professionell und für mich sehr gut verständlich. Bis zu dem Punkt, wo er auf Schule zurückgreift, um diese Herausforderung anzupacken. Warum das nicht funktioniert, sondern das Überleben des Problems sichert, ist das Thema dieses Beitrags.

Der Autor des erwähnten Artikels beschreibt die Geschwindigkeit und Exponentialität des Wandels in Gesellschaft, Technologie und Wirtschaft. Diese realen Veränderungen und Entwicklungen finden nicht nur außerhalb von Schule statt, sondern genau genommen ohne sie. Der Wandel, in dem wir stecken, ist komplex, während Schule ein Hort der Komplexitätsreduktion ist. Der Wandel ist vieldeutig und von enormen Wechselwirkungen geprägt, während Schule (unter anderem) mit ihrem Fächer- und Benotungswesen Eindeutigkeit simuliert und Kausalität zelebriert. Wer an Schule scheitert, scheitert nicht an ihrer Komplexität sondern an ihrer Kompliziertheit. Wer mit ihr klarkommt, hat letztere durchschaut.

Wenn technologischer oder sonstiger Wandel von Schule abhängig wäre, säßen wir heute irgendwo im Nirgendwo. Das sollte uns zu denken geben: Wozu brauchen wir das Konzept und das System Schule noch – außer um Kinder an einem Ort zu versammeln, damit Eltern ihrer Arbeit nachgehen können? Wenn sie denn einen Job haben …

Warum halten wir so hartnäckig an dem Glauben fest, dass die Schule jungen Menschen eines Tages wirklich helfen wird, ihren Weg in diese neuen Welten zu finden, die sich bis heute nicht aufgrund der Leistungsfähigkeit von Schule entwickelt, sondern jenseits ihrer Reichweite? Wir liegen falsch, wenn wir glauben, dass heute geforderte Kompetenzen tatsächlich durch Schule auf den Weg kommen.

Wofür Schule gemacht ist

Denn Schule ist nicht für den Wandel gemacht. Sie wurde nicht erfunden, um ihn zu ermöglichen. Weder einen Wandel in Gesellschaft und Wirtschaft, noch ihren eigenen. Schule wurde erfunden, um Stabilität zu garantieren und um zu vereinheitlichen, nicht um Vielfalt zu stärken.

Unsere Auswertung weist darauf hin, dass die Schule in ihrer konventionellen Form ihrem Auftrag als großer Gleichmacher doch ganz gut gerecht wird.

Quelle

Ihre Aufgabe ist es, kulturelle Überzeugungen zu reproduzieren, nicht neue zu fördern. Auch waren oder sind Innovation und innovative Menschen keine Folge von Schule und Schulkarrieren. Es gab und gibt sie bis heute trotz Schule. Sie ist nicht dafür gemacht, Veränderung(en) zu unterstützen oder zu Veränderung zu befähigen. Das macht sie als System und als Konzept ungeeignet, um Menschen beim Entwickeln jener Fähigkeiten zu helfen, mit denen sie den Wandel gestalten, in dem wir uns befinden.

Schule wird immer nur in der Lage sein, bestehende Konzepte zu reproduzieren, nicht neue hervorzubringen. Vielleicht versuchen ja deshalb immer mehr Menschen fast schon krampfhaft, innovative Konzepte in die Schule zu implementieren. Doch das wird weder Schule verändern noch ihren Auftrag. Das tut und beweist sie, seit es sie gibt.

Auch das Versprechen von Wohlstand und Aufstieg durch Schule ist eine Lüge – die übrigens kein Kind der aktuellen Pandemie ist, sondern viel älter. Die Pandemie beschleunigt dieses Drama lediglich, unter anderem dadurch, dass Schule nicht in der Lage ist, Bildung unter Bedingungen der Digitalität zu organisieren. Auch deshalb hängen jetzt noch mehr Kinder und Jugendliche ab als je zuvor. Das entlarvt einmal mehr die Mär vom Abbau sozialer Ungleichheit durch Schule – mitsamt dem Narrativ von der Durchlässigkeit des Bildungssystems, die aufgrund seiner Ungerechtigkeit gar nicht greift.

Wir brauchen ein völlig anderes, ein komplett neues Lernsystem, das mit dem Konzept von Schule und Unterricht, wie wir es heute kennen, nichts zu tun hat – und wir brauchen es so schnell wie möglich. Das dürfte aber umso schwieriger werden, je mehr Menschen an der Überzeugung festhalten, dass das wieder irgendwie und weiterhin irgendeine Form von Schule sein muss. Auf der Grundlage von Pädagogik und Didaktik statt unter Rahmenbedingungen, die auf der Höhe der Zeit sind.

Das ist der gordische Knoten unserer Gegenwart. Das ist in meinen Augen das größte Problem, unter dem wir heute leiden: Dass der Glaube an die soziale und ökonomische Erlöserfunktion von Schule ungebrochen ist. Mit diesem Glauben müssen wir jetzt aufräumen.

Warum wir Schule überwinden müssen

Das Konzept Schule überwinden und die Hoffnung würdig bestatten, dass irgendeine veritable Lösung für die Bildung der Zukunft aus dem Schulsystem kommt, oder dass sie der Ort einer solchen Bildung sein wird. Das sind die nächsten Schritte. Auch hat Schule keinen Zusammenhang mit der Lösung unserer gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen. Sie hat schlicht keine Schnittstellen. Sie steht diesen Lösungen im Weg, und gleichzeitig füllt sie den Rucksack unserer Kids mit Unmengen von Ballast, der ihnen den Weg in ihre Zukunft unnötig erschwert.

Weder Bildungs- noch Schulpolitik und -verwaltung sind bereit oder in der Lage, das zu begeifen und sich mit bereits existierenden Alternativen zu befassen bzw. sie nach Kräften zu unterstützen und zu beforschen. Der traditionelle Rahmen bleibt sakrosankt. Auch die Aus- und Weiterbildung von Lehrer*innen, also das akademisch-pädagogische Umfeld von Schule ist mutlos, bürokratisiert und hat keine Visionskraft.

Doch der gesellschaftliche Auftrag ist klar: Ein von Grund auf neues System des Lernens und der Kompetenzentwicklung auf den Weg bringen, das die überkommenen Strukturen und Konzepte und Vorstellungen von Schule, Unterricht und Erziehung obsolet macht und ersetzt.

Der Unterschied zwischen der alten Kultur, aus der die Schule stammt und der neuen, in der wir längst angekommen sind, lässt sich nur im Tun und Erleben begreifen. Nur das ermöglicht die Einsicht und das Eingestehen, dass es diesen radikalen Kulturwechsel tatsächlich gibt, der im Bildungssystem noch aussteht, weil sie dort den Knall noch nicht gehört haben. Womöglich werden ja deshalb lediglich neue Werkzeuge in die alte Werkstatt gehängt. Das ist wie beim Anerkennen bzw. Leugnen des Klimawandels, wo jetzt halt Elektromotoren in ein eigentlich zu überwindendes Mobilitätskonzept eingebaut werden: Die Krisenbewältigung ist die Krankheit, für deren Therapie sie sich hält, wie Martin Burckhardt schreibt.

Die neue Kultur kann nicht mit den Routinen der alten begriffen, bewältigt und mitgestaltet werden. Sie hat längst ihre eigenen.

Bildungsgerechtigkeit durch Präsenzunterricht? Eine Anzweiflung

Titelbild: Irgendein Gymnasium (Quelle: Autor)

Alle müssen zur Schule. Nur so sei Bildungsgerechtigkeit gewährleistet. Nur so würden junge Menschen auf eine erfolgreiche Zukunft vorbereitet – so tönt es aus den Kanälen der Bildungspolitik. Doch das Abregnen von Stoff führt nicht zu Gerechtigkeit – und vermittelt wird durch die Hintertür etwas anderes.

Nicht erst seit wir in einer Pandemie stecken, wird allerorten die Bedeutung von Schule als Ort zuverlässiger Wissensvermittlung betont. Endlich geht es wieder um Inhalte! Doch die sind in jeder Hinsicht zweitrangig. Der Unterrichtsstoff ist vielmehr ein Transportmittel. Mit seiner Hilfe vollzieht Schule ihren eigentlichen Auftrag, der nicht in der Wissensvermittlung liegt, sondern in der Reproduktion von Kultur. Der Stoff ist eine Lokomotive.

In neun Schuljahren lernten die Kinder Lesen zum Entziffern der Werbeanzeigen. Schreiben, zum Bestellen von Waren, Rechnen zum Kalkulieren der Ratenzahlungen. Lesen, Schreiben, Rechnen. Für andere Dinge war keine Zeit.

Wolfgang Bittner (Quelle)

Bereits dort, wo Schule einigermaßen „funktioniert“, reproduziert sie eine Kultur. Das ist ihr Job. Nicht Wissen, sondern die Kultur, deren Schule sie ist: Hierarchien, Menschenbilder, Werte und Normen, Verhaltenskodices, Überzeugungen von Gesellschaft und Zusammenleben, Sinn und Lebensziele, ästhetische Urteile, Vorstellungen von Geschlecht und Beziehung. Was und wie ein Mensch sei und wie nicht, wie er und sie lebt, was richtig und falsch ist, gut und böse.

Problematisch wird dieses Reproduzieren dann, wenn Schule den Kontakt zu der sie umgebenden Kultur mehr und mehr aus den Augen verliert. Dann, und an diesem Punkt stehen wir heute, rekurriert Schule auf eine Kultur, die entweder schon der Vergangenheit angehört, oder auf eine, die wir dringend hinter uns lassen müssen um Platz zu machen für neue Formen von Kultur, die über unsere Zukunft mitentscheiden: Inklusion statt Selektion, Soldiarität statt Wettbewerb, Kollaboration statt Konkurrenz, Zirkularität statt Wachstum u.v.m.

Lesen, Schreiben, Rechnen: ein geschicktes Ablenkungsmanöver

„Sozialisationsprozesse sind dann erfolgreich, wenn die Individuen am Ende genau das tun wollen, was das System benötigt, um sich zu reproduzieren.“

Zygmunt Baumann, Leben in der Flüchtigen Moderne, S. 150

Schule reproduziert also nicht Kulturtechnik, sondern Kultur, die sie mit Hilfe von Kulturtechnik reproduziert: Kinder müssen „in die Schule“, weil nur so ihre Eltern das tun können, worauf Schule zuvor sie vorbereitet hat. Und nur wenn Kinder zur Schule gehen, kann Schule sie auf das vorbereiten, worauf sie bereits deren Eltern vorbereitet hat – und das ist nicht Lesen, Schreiben, Rechnen, sondern die Internalisierung einer Kultur.

Der Fokus auf Stoff und Wissen, der Ruf nach Bildungsgerechtigkeit durch Präsenzunterricht, also: alle denselben Stoff zur selben Zeit am selben Ort in der selben Form, im selben Tempo – das ist bloß ein Ablenkungsmanöver. Kultur lässt sich einfach leichter reproduzieren, solange alle daran glauben, es würde um Wissen, Stoff und Kulturtechnik gehen.

Auf dem Weg zum Erfolg: Informationen von A nach B tragen.
Aus einem Werbevideo eines privaten Gymnasiums (Quelle: youtube. Release: 19.11.2020)

Ein Beispiel

Ich kann Unterrichtsstoff wie „Menschenrechte“ oder „Menschenwürde“ so durchnehmen (aka „unterrichten“), dass ich dadurch gegen beide verstosse, indem ich z.B. Unterricht misogyn, rassistisch, homophob, autoritär organisiere – also durch die Art, wie ich Unterricht strukturiere, und wie ich ihn durchführe – also durch die Art(en) der Interaktion. Was ich dabei reproduziere, ist eine Kultur, sind Menschenbilder:

„Wer nämlich mit ‚h‘ schreibt, ist dämlich.“

Umgekehrt: Wenn mir wichtig ist, dass wir Menschenrecht und Menschenwürde verwirklichen, brauchen wir dafür keine Schule und keinen Unterricht, sondern eine bestimmte Art des sozialen Miteinanders, das wir überall gestalten können – selbstverständlich auch in einem Schulgebäude.

Und es ist auch keine Kleinigkeit, dass dort, wo Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen sollen, sie dies unter besonderer Berücksichtigung ihrer Rechte tun können und ihrer Bedürfnisse und ihrer Persönlichkeit. Wenig schadet einem Kind mehr, als wenn es in der Entwicklung grundlegender Kompetenzen unter Zeit- und Erfolgsdruck gesetzt wird, denn beim Lernen gibt es keine Gleichzeitigkeit. Lernen ist seinem Wesen nach „ungleichzeitig“ – auch in einem Schulgebäude.

Diese Tatsache ignoriert traditionelle Schulkultur auf der ganzen Linie.

Immer wieder höre und lese ich, dass alles Wissen dieser Welt heute jederzeit und überall bei Fuß steht, und Schule sich deshalb fragen lassen muss, wozu es sie dann eigentlich noch braucht. Die Antwort auf diese Frage finden wir aber nicht über den Stoff, den sie ankarrt, nicht über Formeln, Texte und Landkarten, sondern über die Kultur, in der sie es tut. Die bestimmt darüber, was Menschen in der Schule tatsächlich lernen während sie lernen.

Was ich in der Schule lerne

  • Wer vorne steht, hat das Sagen – egal, was er oder sie sagt.
  • Autoritäre Autoritäten bestimmen über meinen Alltag: wie ich ihn gestalte, wo ich mich wann aufhalte, was ich wann mache und nicht, mit wem und was ich mich beschäftige und nicht, wofür ich Zeit einsetze, die niemals meine ist, weil andere sie mir zuteilen und sie portionieren, sie mir geben und nehmen.
  • Individuelle Bedürfnisse sind mindestens zweitrangig. Es ist besser, sich nicht so intensiv mit ihnen zu beschäftigen bzw. sie gar zu einem Bestandteil meines Lernens und meiner Bildungsprozesse zu machen.
Martin Walser (1982), Heimatlob, S. 34, 37. Insel Verlag.
  • Die Bewertung durch andere ist jederzeit Ausgangs- und Zielpunkt meiner Selbsteinschätzung. Im Zweifelsfall gilt, wie andere mich einschätzen.
  • Es entscheiden immer andere über richtig und falsch. Ich lerne, diese Perspektive zu übernehmen. Ich lerne nicht zu entscheiden, was richtig und was falsch ist. Ich lerne, dass andere darüber entscheiden. Das lerne ich als richtig. Ich verinnerliche das.
  • Andere entscheiden über mich.
  • Protest führt zu Sanktion und Verlust von Chancen.
  • Ich habe keinen Einfluss auf die äußeren Bedingungen meines Lernens. Auch nicht auf die Gestaltung der Rahmenbedingungen. Sie sind immer von anderen gesetzt.
  • Wer es mit Autoritäten gut kann, wird Erfolg haben.

Es geht in der Schule darum, eine Kultur zu reproduzieren. Eine Kultur der Kontrolle. Eine Kultur der Reiblungslosigkeit. Eine Kultur des sich Ein- und Unterordnens. Eine Kultur der Milieus und der Schichten, des Oben und des Unten. Eine Kultur, in der im Wesentlichen immer andere über dein Leben, dessen Spielräume und seine Gestaltung entscheiden. Eine Kultur, deren Basis die Selektion bildet.

Darauf bereitet Schule vor, indem sie es tut. Unerbittlich:

Warum also Präsenzunterricht?

Schule braucht den direkten, umfassenden, physischen Zugriff auf Kinder und Jugendliche. Nur so kann sie ihren Reproduktionsauftrag erfüllen. Je weniger Zugriff sie auf die Lernenden hat, je weniger die ihrer Kontrolle unterstehen, je freier und diverser die ihr Lernen gestalten, zusammen mit unzähligen Akteuren der Zivilgesellschaft, umso mehr schrumpfen die Möglichkeiten zur Kontrolle, umso schwieriger wird es für Schule „zu reproduzieren“. Darum geht’s bei Präsenzunterricht.

Zwar wird gerade in Zeiten einer Pandemie gerne folgendes Argument aus dem Ärmel gezogen:

Doch aus diesen real existierenden Problemen und Benachteiligungen müsste folgen

  • niederschwellig qualifizierte Betreuung anzubieten für alle Menschen, die das brauchen,
  • die eklatante soziale Benachteiligung in unserer Gesellschaft abzubauen (die ein kulturelles Phänomen ist)
  • und den Arbeitsmarkt sozial verträglich zu gestalten,

statt ein völlig überfordertes und in mancher Hinsicht dysfunktionales Schulsystem zum Sozial-Lazarett zu stilisieren. Präsenzunterricht gehört in all seinen re-reformierten Ablegern in eine andere Zeit. Weder ist es heute aus organisatorischen Gründen nötig, Kinder und Jugendliche zu Bildungszwecken nach Jahrgängen getrennt in Schulzimmer zu pferchen, um allen auf dieselbe Weise Stoff zu vermitteln, noch entsprechen die anderen traditionellen Säulen von Schule (z.B. Fächerstrukturen, Benotungssysteme) den Bedarfen und Bedürfnissen lernender Menschen, noch befähigen sich junge Leute in solchen Settings auf ein Leben und Arbeiten in einer Kultur der Digitalität.

Es ist Zeit, sich das einzugestehen.