In einem Gastbeitrag für die Wirtschaftswoche beschreibt Sebastian Dettmers das Mindset und die Fähigkeiten, mit denen junge Menschen zukunftsfähig werden. Er adressiert aus guten Gründen nicht das Bildungssystem, sondern direkt die jungen Leute. Ein genialer Schachzug. Wie wir junge Menschen dabei unterstützen? Wir machen Kräfte und Ressourcen frei, um endlich entsprechende Lern- und Erfahrungsräume zu vermehren: Colearing-Spaces und Learning Communities, die dicht vernetzt sind mit der Kultur des neuen Arbeitens rund um den Globus.
In einem Gastbeitrag für die Wirtschaftswoche beschreibt Sebastian Dettmers das Mindset und die Fähigkeiten, mit denen junge Menschen zukunftsfähig werden. Er adressiert aus guten Gründen nicht das Bildungssystem, sondern direkt die jungen Leute. Ein genialer Schachzug. Wie wir junge Menschen dabei unterstützen? Wir machen Kräfte und Ressourcen frei, um endlich entsprechende Lern- und Erfahrungsräume zu vermehren: Colearing-Spaces und Learning Communities, die dicht vernetzt sind mit der Kultur des neuen Arbeitens rund um den Globus.
Foto: Gerd Altmann • Freiburg/Deutschland via pixabay
Statt in den Refrain einzustimmen, wie sicherheitsbedürftig und schülerhaft die junge Generation doch sei, fordert Dettmers den jungen Menschen zu einem Shift seines/ihres Mindsets auf: Glaube nicht mehr jenen Leuten, die dir erzählen, dass du mit denselben Tugenden erfolgreich und glücklich durchs Leben kommst, wie anno dazumal. Dieser Einladung zum Kurswechsel kommt entgegen, was das WEF bereits klar umrissen hat: Der Bedarf an jenen Skills und Aufgaben, auf die wir Alten die nachfolgende Generation nach wie vor trimmen, nimmt konsequent ab:
Manuelle Geschicklichkeit, Ausdauer, Präzision.
Gedächtnis, verbale, visuelle, auditive und räumliche Fähigkeiten.
Lesen, Schreiben, Rechnen und aktives Zuhören.
Verwaltung der finanziellen und materiellen Ressourcen.
Installation und Wartung von Technologie.
Personalmanagement.
Qualitätskontrolle und Sicherheitsbewusstsein.
Koordination und Zeitmanagement.
Technologieeinsatz, -überwachung und -steuerung.
Leuten mit der alten Brille auf der Nase fällt dazu – neben einem gerüttelt Maß an Empörung über den Untergang des Abendlandes – wenig anderes ein als der Satz „Diese jungen Leute können ja heute nicht mal …“ – an dessen Ende sie dann jene Fähigkeiten aufzählen, für die sie in ihrer eigenen Ausbildung jahrelang gepiesackt wurden, respektive für die sie das alte System belohnt hat. Deshalb können sie gar nicht sehen, dass es heute und morgen um völlig andere Kompetenzen geht. Die bringt jetzt Dettmers ins Spiel.
Die neuen Skills und Haltungen
Lernt, Probleme zu lösen und mit Veränderungen umzugehen.
Bleibt offen für neue Wege, seid kreativ und kommunikationsstark.
Beweist im Rahmen einer durchaus fundierten Ausbildung, dass ihr euch in spezielle Themen einarbeiten könnt. Fixiert euch aber nicht darauf.
Investiert fortlaufend – auch nach Lehre oder Studium – in euch selbst, vor allem in eure Persönlichkeit.
Viel wichtiger als das Fachgebiet an sich ist: Neugier für Verbesserungspotenziale zu zeigen und diese auch beizubehalten.
Die Arbeit und ihren Nutzen für das Unternehmen aus der Vogelperspektive analysieren.
Den Mut aufbringen, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen.
Immer mehr Konzerne, Berufsverbände und Unternehmen sehen sich vor die Aufgabe gestellt, durch interne Angebote bei ihren Arbeitskräften diese Fähigkeiten zu wecken, weil Schulen und Hochschulen das nicht tun. Etliche Unternehmer sagen mir ganz ungeschminkt: Nicht die jungen Leute sind das Problem, sondern die Schulen, die mit veralteten Ausbildungsstandards unterwegs sind. Mit Menschenbildern und Vorstellungen von Lernen, die indiskutabel sind. Deshalb suchen immer mehr ökonomische Player händeringend nach Alternativen, denn es geht um ihr wirtschaftliches Überleben. Was wir im Moment noch nicht realisieren, ist dies:
Die „New Work“, von der jetzt alle sprechen, und die ja bereits überall Einzug hält, setzt „New Learning“ voraus. Das ist die Erkenntnis der Stunde.
Deshalb brauchen wir jetzt Investor’innen, die die Zeichen der Zeit erkennen und mutig Ressourcen investieren in das Design neuartiger Lernräume. In die Entwicklung von Ateliers, Colearning-Spaces, Academies. Dabei vertrauen wir nicht länger auf das Mindset des alten Bildungssystems und seiner politischen Dinosaurier – das funktioniert ja schon in der unseligen Klimadebatte nicht, sondern wir identifizieren und fördern mit aller Kraft das neue Mindset und vernetzen es, was das Zeug hält. Dieser spannenden Aufgabe haben sich Bildungsdesigner, wie ich einer bin, verschrieben.
Thomas Tillmann hat mit seinem Team eine Toolbox für selbstorganisiertes Lernen entwickelt: die Lernhacks – auch als Buch. Ihr Prinzip funktioniert in praktisch jedem Lebensalter und in jedem Lern- und Arbeitskontext. Erst recht unter den Bedingungen der Digitalen Transformation, die ja bekanntlich das Beste am menschlichen Lernen wieder in den Vordergrund rückt: Selbstvertrauen, Selbstorganisation und Selbststeuerung.
Wie so oft, wenn neue Konzepte alte Konzepte herausfordern, stehen sich in der Diskussion relativ schnell die Mindsets der jeweils anderen Seite gegenüber. Im Bereich Schule und Bildung sind das intrinsisch vs. extrinsisch, Lehren vs. Lernen, Selbst- vs. Fremdsteuerung, Ordnung vs. Chaos, Disziplin vs. Strukturlosigkeit und Beliebigkeit. Exemplarisch hierfür steht meines Erachtens dieser Tweet:
Reflexartig ertönt bei jedem Landeanflug von „Selbstorganisation“ bis heute der Warnruf: Aber bitte diszipliniert! Warum das? Entgegen landläufiger Annahmen ist Disziplin weder eine Tugend noch eine Fähigkeit. Sie ist eher ein Konzept. Wie Hefeteig. Ohne Hefe geht der Kuchen nicht auf. Ohne Disziplin die Selbststeuerung des Lernens nicht. Man nehme eine ordentliche Portion Disziplin, dann ist der Krieg schon halb gewonnen. Auch der gegen sich selbst.
Disziplin: Ein deutsches Erfolgsmodell
Als Konzept hat Disziplin und das Beharren auf ihr etwas sehr Deutsches. Mir fällt dazu ein Ausspruch von Kurt Tucholsky ein: „Der französische Soldat ist ein verkleideter Zivilist, der deutsche Zivilist ist ein verkleideter Soldat.“ Dieses Zitat stammt aus einer Zeit (Weimarer Republik), in der das aktuelle Schulsystem und seine Grundüberzeugungen von Ordnung, Diziplin und Standardisierung bis heute wurzelt.
Disziplin: Jemanden oder sich zu etwas zwingen. Vermeidungsziele verfolgen. Gegenkräfte aktivieren. Für die gute Sache: Durchhalten. Üben, üben, üben. Erfolg will verdient sein. „Lernen muss auch mal weh tun!“ Der Treibstoff für Disziplin ist das pädagogische Konzept von „Belohnung und Strafe“ – auch und gerade dort, wo „ich mir selber mal was versage und gönne“. Zehn Vokabelkärtchen – ein Gummibärchen. Was für ein Leben 😳
Disziplin als Gleichschaltung und Standardisierung
Als Konzept findet sich Disziplin(ierung) vor allem in jenen Systemen wieder, die Michel Foucault mit „Überwachen und Strafen“ attribuiert: Fabriken, Schulen, Gefängnisse gehören zu den besonders wirksamen Orten. Disziplin hat eine Überwachungsfunktion. Sie wird als wirksamer Ordnungsgenerator eingesetzt, und sie wird umso wirksamer, als sie mit Überwachung verbunden ist: „Discipline is commonly applied to regulating human and animal behavior to its society or environment it belongs“ (wikipedia). Disziplin kommt zum Einsatz, um Individuen und Individuelles gleichzuschalten mit dem Zweck, die Ausübung von Macht zu organisieren. Disziplin ist ein Konzept, das erfunden wurde um Prozesse und Menschen zu standardisieren. Auch Schule wurde erfunden, um zu standardisieren.
Quelle: spiegel.de
Disziplin ersetzt Organisation durch Kontrolle
Wer sagt, dass die Selbststeuerung von Lernen Disziplin erfordere, überträgt das extrinsische Konzept der Disziplin(ierung) auf die intrinsische(n) Dimension(en) des Lernens. In Kontexten von Erziehung, Pädagogik, Sozialisation und Ausbildung ist dann bald einmal die Rede von Selbstdisziplin – und vom notwendigen, didaktisch „gesteuerten“ Prozess der Aneignung und Verinnerlichung. So entsteht im lernenden Menschen eine Art Hierarchie, in der der Ansatz der Diziplinierung mit zunehmender Lernbiografie nach oben rückt. Neugier, Leidenschaft, Feuer und Eifer, die ich für eine Sache entwickeln kann, und die in mir eine kreative Hartnäckigkeit des Lernens entstehen lassen, werden auf die hinteren Plätze verwiesen – oder sie mit Disziplin gleichgesetzt. Da gibt’s übrigens auch ein spannendes Buch dazu:
Selbstverständlich entwickle ich im Laufe meines Lebens Strategien der Selbst- und Affektkontrolle, und das fällt mir umso leichter, als sich meine Lebenswelt dabei als unterstützend erweist. Doch auch hier gilt: Es ist nicht das Lernen, das diese Selbstkontrolle „braucht“. Das Lernen ermöglicht sie.
Denn Lernen ist zuerst und grundsätzlich selbstgesteuert. Fremdsteuerung als Teil der Rahmenbedingungen (etwa durch Pädagogik und Didaktik) richtet sich nicht an das Lernen als Funktion unseres Daseins, sondern an seine schulische Organisation:
Mein Lernen kann gut oder schlecht organisiert sein – es ist jederzeit selbstgesteuert. Das muss mir nicht immer gleich stark bewusst sein als lernender Mensch, doch dieses Beweusstsein kann ich entwickeln. Dann steigt die Qualität von Lernen mit meinem Bewusstsein davon, dass ich es eigentlich jederzeit selbst steuere, und wie gut ich es deshalb selber organisieren kann – auf Ziele hin, die mir erstrebenswert erscheinen. Hier kommt Disziplin erst einmal gar nicht vor.
Tritt jetzt „Disziplin“ in den Vordergrund, wird die Selbststeuerung des Lernens zwar nicht völlig verdrängt. Was hingegen passiert: Disziplin ersetzt die Kräfte der Selbstorganisation durch das Prinzip der (Selbst-)Kontrolle. Wer dafür plädiert, dass selbstgesteuertes Lernen der Disziplin bedarf, ist im Mindset der Außen- und Fremdsteuerung unterwegs und macht sie zu einem Prinzip des Lernens.
Die Formulierung „Selbststeuerung von Lernen“ im Tweet weiter oben im Text insinuiert, dass es auch Formen des Lernens gibt, die nicht selbstgesteuert sind – und dass diese aus pädagogischer Sicht den Normalfall bilden. Wenn in diesem Mindset klassischer Ordnungskonzepte externe Steuerungsimpulse zugunsten einer Selbststeuerung des Lernens ersetzt werden, kann das – in diesem Mindset – nur gelingen, wenn zugleich auch das Moment der Disziplinierung an die Lernenden übergeben wird inklusive der „Verantwortung für sein eigenes Lernen“, die der Lernende gemäß Tweet nun ebenfalls zu übernehmen hätte. Selbststeuerung und Verantwortung werden hier an jemanden „übertragen“, der sie vorher nicht hatte. In Wirklichkeit können jedoch beide gar nicht übertragen werden.
Verantwortung wahrnehmen
Nicht nur Lernen ist immer selbstgesteuert. Selbst wenn ich es an die Wand fahre. Auch mit der Verantwortung verhält es sich aus ethischer Perspektive so, dass jeder Mensch sie a priori hat: für das, was er und sie tut und unterlässt, für das, was er und sie denkt und spricht. „Wir“ können also einem Menschen seine oder ihre Verantwortung für das, was er und sie denkt, tut, sagt und verschweigt, nicht übergeben, weil er und sie die immer schon haben. Sie sind Owner. Es reicht völlig, wenn das Bildungssystem den Lernenden diese Verantwortung nicht wegnimmt – um sie ihnen dann wieder grosszügig zu übergeben.
Wir lernen also nicht Verantwortung zu übernehmen. Im besten Fall realisieren wir, dass wir sie immer haben, wenn wir so oder so handeln, dieses tun und jenes nicht. Wir werden uns also unserer Verantwortung bewusst. Wenn jemand verantwortungsvoll handelt, dann nicht, weil er oder sie gelernt hat, sie zu übernehmen, sondern weil er oder sie realisiert hat: Ups, ich habe die ja jederzeit. Verantwortung ist aus ethischer Perspektive nicht etwas, das ich übernehmen und deshalb auch zurückweisen könnte. Ich kann sie lediglich wahrnehmen oder ignorieren.
Womöglich ist dem Menschen (dir und mir) ja aus eben diesem Grund viel mehr zuzutrauen an Verantwortung, an Empathie und Einflussnahme, als Schule insinuiert. Dann geht es jetzt um die Frage, wie sich der einzelne Mensch überhaupt seiner und ihrer Verantwortung bewusst werden kann. Und zwar lustvoll und nicht über das diesbezüglich deplatzierte Instrument der Diziplin(ierung). Mit dieser nicht ganz unwichtigen Frage nach dem Wesen der Verantwortung in Zeiten kollektiver Ausreden habe ich mich in meinem Buch „Die Moral ist tot. Es lebe die Ethik“ auseinandergesetzt (S. 90-123). Auch mit entsprechenden Vorschlägen aus der Literatur (u.a. Zygmunt Baumann, Susan Reiman, Hans Jonas, Kurt Homann, Julian Nida-Rümelin). Die Kernthesen finden sich hier im Autorengespräch mit Gunnar Sohn.
Das Lernen freilassen
Meine These lautet: Dass wir nur noch schwach an die Kraft und die Möglichkeiten glauben, die in uns Menschen schlummern, ist ein Effekt unserer Bildungs- und Erziehungspraxis, die diese Regel zur Ausnahme erklärt hat, um dadurch das Konzept der Disziplin zu begründen.
Wenn wir wollen,
dass mehr Menschen als bisher die Verantwortung für das, was sie denken, sagen und tun, wahrnehmen,
und dass sie sich in dieser Haltung zusammenfinden und mehr und mehr in Prozesse gestaltend und visionär eingreifen,
wenn wir zusammen dafür sorgen wollen, dass sich die Spiralen des Wahnsinns abflachen, verlangsamen und sich in andere, humane und nachhaltige Richtungen entwickeln,
dann sollten wir aufhören mit der Infantilisierung des Menschen durch lehrende und erziehende Systeme. Dann sprechen wir uns am besten jene Verantwortung zu, die uns von Alters her von großen Denkerinnen und Denkern unterstellt wird. Von Sophokles‘ Antigone über Kant bis in den modernen systemischen Konstruktivismus hinein geht es ja immer um die Kraft des Menschen, seiner und ihrer eigenen Verantwortung nachzukommen.
Dass es wirklichganz anders werden kann, zeigt eines von vielen gelingenden und erfolgreichen Konzepten, das mir neulich im Netz begegnet ist: Die School Circles, die Demokratische Schulen in den Niederlanden praktizieren – nach dem Prinzip Sociocracy. Es gibt eine Video-Dokumentation, die eindrücklich die Unterschiede zum klassischen Schulsystem zeigt, und wie diese Unterschiede praktisch werden. Ich kann diese Doku wärmstens empfehlen, weil sie ein anderes Konzept zeigt, das funktioniert – jenseits aller Vorurteile und Ausreden.
Bildung sieht ihre Aufgabe und ihr Kerngeschäft bis heute darin, Wissen und allenfalls Kompetenzen zu vermitteln. Egal, in welcher Schul- und Unterrichtsform ein Mensch unterkommt: der komplette Apparat ist darauf ausgerichtet, ihm und ihr etwas zu vermitteln. Bis heute hängen wir stärker als der Gläubige an seinem Gott an der irrigen Vorstellung, in der Bildung tatsächlich Wissen zu vermitteln. Und so sieht denn auch die Bildungspraxis aus – vom Kindergarten bis ins Doktorandenseminar: Menschen inszenieren mehr oder weniger lust- und glanzvoll „ihr Wissen“ vor Publikum.
(Wenn Sie übrigens keine Lust haben, diesen elend langen Blog Post zu lesen: Wir veranstalten zu exakt dieser Thematik ein barcamp am 7.6. im Tram-Museum in Zürich. Hier gibt’s mehr darüber.)
Und das, obwohl wir nicht erst seit gestern sehr ausführlich, präzise und empirisch abgesichert darüber informiert sind, dass Mann und Frau Wissen weder vermitteln noch teilen (noch lehren!) können. Auch Kompetenzen und Fähigkeiten können nicht vermittelt werden. Gleichwohl hält das gesamte Bildungssystem in seiner Praxis und Zertifizierungskultur unbeirrt daran fest. Die Forschungslage zu dieser komplexen Thematik findet sich übrigens in ihrer ganzen Breite und Tiefe hervorragend aufgearbeitet und interpretiert in den Publikationen von Rolf Arnold.
Die Überzeugung von der Wissensvermittlung wird also in sämtlichen gesellschaftlichen Diskursen über Bildung weiterhin verwendet. Gegen alle Empirie. Über das eigentliche Kernproblem einer angesichts der kulturellen, wirtschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen täglich scheiternden und gescheiterten Bildung denken wir also gar nicht nach. Stattdessen doktern wir an vielfältigen, zumeist technischen Symptomen herum, schrauben an Lehrplänen und verkürzen und verlängern und verkürzen die Schulzeit. Und dann verlängern wir sie wieder. Wir diskutieren uns die Köpfe wund, wie viel digitale Technologie es nun wirklich braucht oder nicht – und das alles mit dem unveränderten Ziel, „auch in Zukunft eine professionelle Vermittlung von Wissen und Kompetenzen zu garantieren“. Dabei geht es, nach allem, was die Faktenlage zeigt, nicht darum, Vermittlungsprozesse zu modernisieren, sie klientenorientiert zu gestalten, sie zu digitalisieren und zu modularisieren. Es geht darum, sie abzuschaffen.
good old Banksy…
Nicht einmal teilen kann ich mein Wissen
Weder deins noch meins, noch irgendeins. Wissen kann nur konstruiert werden, dekonstruiert und rekonstruiert. „Teilen“ und „mitteilen“ sind Begriffe, die insinuieren, dass ein empirischer, materiell greifbarer Gegenstand, ein „Inhalt“ (Content) portioniert und verteilt wird. Wie bei Gummibärchen: Ich habe eine Packung, und die teile ich jetzt mehr oder weniger fair mit dir und mit dir. Was da hin und hergeht, verändert dadurch nicht seine Qualität. Und genau das ist, wenn es um Wissen geht, die grandiose Täuschung. Wissen ist niemals „faktisch“, niemals „empirisch“, nie objektiv oder unveränderlich. Es steht zu keinem Zeitpunkt „fest“, und es kann nicht transportiert werden. Transportiert, also höchstens übermittelt werden Daten oder Informationen. Die unterscheiden sich aber so grundsätzlich von Wissen wie der Teig vom Kuchen.
Dass Wasser bei soundsoviel Grad Celsius zu kochen beginnt oder zu Schnee wird, oder dass Flugzeuge ab einem bestimmten Steigungswinkel vom Himmel fallen wie ein Stein, dass wilde Tiere gefährlich sind, und manche Schlangen giftig, das alles ist kein Wissen. Wissen ist die Fähigkeit, solche – je nach Anwendungskontext wertvollen – Informationen nutzbar zu machen. Wissen zeichnet sich dadurch aus, dass es immer nur in einem konkreten Kontext konstruiert wird, in dem Menschen absichtsvoll und zielgerichtet kommunizieren und interagieren, in dem sie Probleme erfassen und lösen. Zu zweit, zu zehnt oder alleine. Im Netz, am Lagerfeuer, in der Geschäftsleitung, im Cockpit. Dabei ist „konstruiert“ nicht das Gegenteil von „real“, sondern die Voraussetzung für Tragfähigkeit. Nicht nur bei Brücken.
Kein Wissen ist objektiv oder ewig, weil jeder Kontext zu jeder Zeit unwiederholbar ist. Kein Wissen ist in seinen Kontexten a priori „richtiger“ oder weniger richtig als anderes. Genau aus diesem Grund ist Wissen jederzeit auf qualifizierte Informationen angewiesen. Wer den Zugriff darauf nicht hat, sitzt deshalb womöglich einem „falschen Wissen“ auf, weil ihm wichtige Informationen fehlen (was er oder sie aber nicht merkt, da er oder sie „felsenfest glaubt zu wissen“). So ergeht es zum Beispiel im Moment dem Bildungssystem selbst. Ständig konstruiert es falsches Wissen über das Wesen und das Zustandekommen von Wissen, weil es als System nicht in der Lage ist, wertvolle Informationen zu kontextualisieren. Wer Wissen mit Informationen gleichsetzt, wird den Möglichkeiten und dem Wert des Phänomens „Wissen“ also in keiner Weise gerecht.
Was nützt, weiterhilft, zur Lösung beiträgt, entscheidet sich immer im Kontext und dadurch, wie die Beteiligten diesen Kontext nutzen und gestalten. Ist das, was ich hier schreibe, also ein Wissen? Nein, es ist meine persönliche Erfahrung, und es ist für Sie als LesendeN eine Information, die Sie, in dem Moment, in dem Sie sie lesen, interpretieren, verneinen, bejahen, verwerfen, kontextualisieren, ignorieren, der Sie heftig widersprechen oder etliches mehr. Indem Sie und alle anderen Menschen jederzeit so vorgehen, ganz von alleine, machen Sie aus Informationen kontextbezogenes Wissen. Deshalb können wir Wissen nicht vermitteln. Wir können es nur – mehr oder weniger erfolgreich miteinander konstruieren. Von Fall zu Fall.
Der hierarchische Vermittlungszirkus verhindert kompetente Wissensbildung
Eine nächste, sehr große Herausforderung für unsere Bildungskultur liegt hier: In Kontexten der Wissensarbeit sind wir nach wie vor einem Konzept von Hierarchie verhaftet, das die Bedeutung von Wissen an die Strahlkraft einer entsprechend dekorierten Person oder Institution heftet. Vortrag, Vorlesung, Referat, Buch, Artikel und Beststeller, Key-Note Speech und Podiumsdiskussion sind die Formate, in denen sich diese Kultur niederschlägt.
In solchen Inszenierungen wird jedoch auch kein Wissen geteilt, mitgeteilt oder vermittelt. Auch wenn der Chef, der Vorgesetzte, der Lehrmeister, der Korrespondent oder Innenminister in einem Meeting seine schwergewichtige Meinung kundtut, teilt er oder sie nicht Wissen mit, sondern mehr oder weniger relevante Informationen innerhalb eines bestimmten Kontextes. Hier werden (wie in diesem Artikel, den Sie gerade lesen) ausnahmslos Informationen in den Raum und den Anwesenden zur Verfügung gestellt. Verbal, über Bilder, Töne, Gesten, durch soziale Rollen und Hierarchien – eben durch Kontext. Obwohl wir bis heute ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass das, was von so genannten Autoritäten (Lehrern, Hochschulen, Forschungsinstituten) produziert wird, hoch qualifiziertes Wissen ist, handelt es sich dabei allenfalls um wertvolle Informationen. Ob und in wie weit diese Informationen etwas zur Lösung einer Aufgabe beitragen oder ob sie ein Projekt weiterbringen, das hängt von der Fähigkeit des Lieferanten ab, seine Informations-Ware anschlussfähig zu machen, sprich: einen ko-kreativen und und kollaborativen Beitrag zur Wissenskonstruktion zu leisten.
Gleichzeitig gilt: Was Sie und alle anderen, die diese und alle Informationen „empfangen“, daraus in welchem Kontext und in welcher Absicht auch immer machen, wie Sie es einsetzen, umformen, vernetzen, ins Gegenteil kehren oder einfach wieder vergessen – das entscheiden allein Sie.
Wissen ist nicht das Ergebnis von Konstruktion. Es ist Konstruktion.
Wissen wird also in keinem Fall vermittelt oder geteilt. Es wird immer mehr oder weniger erfolgreich konstruiert – aus einem Meer an Informationen, die uns mehr oder weniger attraktiv zur Verfügung gestellt werden. Diese Fähigkeit, diese zentrale Kompetenz im Zeitalter der Digitalisierung, wird in unseren Bildungseinrichtungen nicht gelernt.
Genau hier müssten wir in der Bildung ansetzen. Denn in den äußerst agilen Prozessen der Auseinandersetzung mit Informationen aus allen Ecken und von allen Enden der Welt, konstruieren wir uns unser ganz persönliches, in unserem individuellen Kontext (Leben, Lieben, Arbeiten …) bedeutsames Wissen. Das Subjekt dieser Prozesse sind allein wir. Sie und ich, wir sind unsere eigenen Wissensproduzenten. Außerhalb der Grenzen unserer ganz persönlichen Lebens-, Arbeits-, Lern- und Ideenwelt gibt es kein Wissen. Es gibt nur Informationen und Daten.
Auch wenn Menschen zusammen in Projekten engagiert sind (Regieren, Bauen, Verkaufen, Planen), ist das nicht anders, nur komplexer. Dann muss aus mehreren solcher Wissenswelten eine gemeinsame Basis konstruiert werden, die Kooperation und Kollaboration ermöglicht. Wissen ist dann ein für dieses konkrete Projekt entwickeltes, „kollektives Konstrukt“, an dessen Konstruktion alle Beteiligten beteiligt sind. Eine Zusammenarbeit, die sich dieser Unterschiede zwischen Wissen und Information bewusst ist, und die die irrige Meinung hinter sich lässt, dass es irgendwo auf der Welt oder im Netz objektives Wissen gibt, das nur gefunden und angewendet werden müsste, eine solche Kooperation hat viel mehr Chancen auf Gelingen als eine Gruppe von Menschen, die diesem Irrtum erliegt
Das Vermittlungsmärchen
Vermittler vermitteln Wohnungen, Versicherungen, Partner. Aber niemals Wissen. So wenig wie Erfolg, oder Liebe, oder Sinn vermittelt werden können. Es gibt ein paar Phänomene auf diesem Planeten, die sind nicht vermittelbar. Ich kann Ihnen keinen Sinn vermitteln. Nur Sie können sich den Sinn für Ihr Leben selbst erarbeiten. Und der gilt dann auch nur für Sie. Und wenn sie das mit Ihrem Partner zusammen angehen, dann gilt dieser „Sinn ihrer Partnerschaft“ für Sie beide – für niemanden sonst. So ist das auch mit Phänomenen wie Erfolg, Glück, Liebe und Wissen. Wissen gehört in die Reihe jener Phänomene, die einerseits für unsere Orientierung, für unser Handeln und für unser Gestalten von Welt völlig unverzichtbar sind, die aber andererseits nicht vermittelbar sind. Wir müssen es selber „machen“. Und selbstverständlich gehören da auch eine Menge Informationen dazu, die wir uns von überall herholen – sowie auch die unschätzbar wertvolle Dimension der Erfahrung.
Vermittler stehen deshalb immer dazwischen. So auch wenn sie pädagogisch tätig sind, oder didaktisch und lehrend. Ihnen ist klar, dass sie weder Stoff noch Wissen vermitteln, ja nicht einmal Informationen. Sie vermitteln zwischen dem, was es alles zu sehen, zu entdecken, zu finden, zu prüfen und zu verknüpfen gibt und denen, die sich auf diesen Weg machen. Vermittler vermitteln nicht „etwas“ sondern „zwischen etwas und jemand“.
Sie sind Realitätenkellner, Ressourcenklempner, Coaches. Sie sind Neo-Generalisten, um mit Kenneth Mikkelsen zu sprechen. Das sind relativ neue und sehr interessante Jobs, die gerade erst im Entstehen sind – und die dummerweise weder gelehrt noch vermittelt werden können.