Sämtliche Diskussionen, die derzeit über „Schule der Zukunft“ geführt werden, reden über Varianten des Bestehenden. Sie beabsichtigen im besten Fall, einen unerträglichen Zustand erträglich zu machen – nicht ihn abzulösen. Was wir jedoch angesichts unserer Gegenwart brauchen, ist eine radikale Alternative, die sich von fünf tragenden Säulen traditioneller Schule endgültig verabschiedet hat – hier mein aktuelles Video dazu
Wir brauchen keine alternativen Unterrichtskonzepte mehr, also nicht „anderen Unterricht“, sondern Alternativen für Unterricht: Lernen in lebensweltlichen Formationen, Strukturen, Prozessen, die nicht mehr in der Architektur und im Paradigma des Unterrichts und des Unterrichtens gedacht, geplant, vorbereitet, durchgeführt und reflektiert werden. Wir lassen das Konzept Unterricht hinter uns. Ein gelingendes Beispiel dafür im Kontext von „Numeracy“ findest du hier.
Zweitens: Keine Prüfungen und keine Noten mehr
Lernende und sich (weiter-)bildende Menschen brauchen keine neuen und alternativen Formen des Prüfens, Bewertens und Benotens. Die sind erwiesenermaßen nutzlos für die, die bewertet und benotet werden. Deshalb geht es jetzt um Alternativen für das Konzept des Prüfens, des Bewertens und Benotens, mit deren Hilfe lernende Menschen auf sich und ihre Entwicklung achten können und diese Prozesse reflektieren. Vorschläge für Alternativen aus einer Community, die das erfolgreich praktiziert, findest du hier.
Drittens: Keine Fächer mehr
Lernende brauchen keine neuen oder anderen Fächer, um die sich verändernde Welt zu begreifen – auch keine fächerübergreifenden Fächer.
Die Aufteilung der Welt, und damit die von Lernprozessen in Fächer, entspricht nicht mehr den Möglichkeiten, den Anforderungen und den Herausforderungen, wie Menschen heute Welt entdecken und verstehen. Das Denken in Fächern führt in verkürzte Weltbilder und verhindert die Entwicklung eines profunden Blicks für Zusammenhänge, die es zu entdecken gilt, nicht herzustellen, wie Prof. Dr. Wanner beschreibt. Deshalb entwickeln wir keine alternativen Fächer, sondern Alternativen für „Lernen in Fächern“:
Imagine what education would be like if every learning experience began with individuals finding and understanding their purpose or why; if every student was given agency to decide what they wanted to learn, how they wanted to learn it, and were guided by professionals who could mentor and coach them to inspire success.
Wir brauchen keine anderen Zusammensetzungen von Klassen und Jahrgängen. Keine grösseren oder kleineren Klassen, keine homogenen oder buntere, besser gemischte Klassen. Wir brauchen Alternativen für das Denken und Organisieren von Lernen in Klassen und Jahrgängen, damit lernende Menschen Lernpartner*innen jenseits dieser Vorgaben finden, und so ihre Interessen und Potenziale zur Vorgabe ihres Lernens machen (jüngst wurde hier das niederländische „Agora-Konzept“ beschrieben, das eine echte Alternative darstellt).
Fünftens: Schluss mit synchroner Präsenz
Und wir verabschieden uns endlich und endgültig vom Konzept der Synchronizität und der synchronen Präsenz, sei sie digital oder physisch: Alle zur selben Zeit am selben Ort, denselben Stoff auf dieselbe Art. Nichts steht dem Lernen und seinen individuellen Entwicklungspfaden mächtiger im Weg als diese Praxis der Gleichschaltung. Eine Schule, die das seit vielen Jahren radikal alternativ gestaltet, wurde hier untersucht.
Dass wir tatsächlich auf dem Weg eines neuen Paradigma des Lernens sind, erkennen wir daran, dass vor allem dieses Relikt verschwunden ist. Stattdessen sind lernende Menschen ganz selbstverständlich in ihrem eigenen Tempo, in ihren eigenen Rhythmen und mit den Themen unterwegs, die ihnen ganz entsprechen.
Der erste Schritt: Schüler*innen übernehmen die Führung, die Organisation und das Gestalten ihres Lernens:
Mehr Videos von diesem großartigen Bildungsgipfel von Schüler*innen für Schüler*innen findest du hier.
Schule als System ist zu Ende. Wir stehen an einem Punkt der Geschichte, wo das System Schule seine Funktionen als Stabilisator und Reproduzent von #Kultur verloren hat. Sie ist in jeder Hinsicht dysfunktional geworden. Schule reproduziert weder Gesellschaft noch Kultur, sondern nur noch sich selbst.
Titelfoto aus dem Video School @ Home – digitale Betreuungs- und Lerneinheit mit Herrn Böhmermann | ZDF Magazin Royale
Aktualisiert am 20.1.2022
Der Aktivist Rosa von Praunheim hat 1971 für das öffentliche Fernsehen in Deutschland einen Film produziert mit dem Titel: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“. Dieser Filmtitel bringt ein fundamentales Merkmal von Kultur zum Ausdruck: dass Normalität eine Frage des Kontextes ist, innerhalb dessen sie beansprucht wird; dass alles, was Kultur ist, auch anders interpretiert werden kann und hin und wieder sogar muss.
Normalität und das gesellschaftlich Normative sind also nicht vom Himmel gefallen. Sie sind kulturelle Konzepte. So ist das auch mit der Schule. Auch die ist ein Konzept, das einmal erfunden wurde. Aus Gründen. Heute ist sie eines der wenigen, das uns noch geblieben ist aus den letzten hundertfünfzig Jahren. Normativ hoch aufgeladen und sakrosankt wie einst die großen christlichen Kirchen, die ihre Funktion als moralische Flüstertüte des Kapitalismus verloren haben – so staatstragend sie einmal waren. Die meisten anderen Systeme (z.B. Politik oder Gesundheit) sind, was ihre Funktionsweise betrifft, ökonomisiert.
Derzeit scheint alle gesellschaftliche Hoffnung am Phänomen Schule zu hängen. Sie muss in jedem Fall und für alle verpflichtend „offen“ bleiben, damit Kinder nicht den Anschluss verlieren. Woran? An die Schule natürlich. An den Stoff, die nächste Prüfung, den Abschluss. Sie muss offen bleiben, damit Eltern zur Arbeit können oder ihre Kinder nicht quälen. Manchmal sogar, damit sie was zu essen haben. Medien verbreiten die Hiobsbotschaft: „Schulausfall kostet zukünftige Generationen bis zu 3,3 Billionen Euro“.
Schule erscheint als letztes Refugium eines von Bildungsexpert*innen gerne und häufig zitierten Humanismus, der bis heute für eher fragwürdige Ausformungen von Humanität steht, wie dieses Diagnose-Feuerwerk zu beschreiben weiß:
Diejenigen Merkmale, die in der Zeitum 1900 nur eine schmale Oberschicht kennzeichneten, charakterisieren heute grosse Bevölkerungsanteile Europas (und Deutschlands ganz besonders …): Mangel an Tatkraft, geringer Glaube an sich selbst, Reflexionsüberhang, Entscheidungsschwäche, Zukunftsangst, Orientierungsverlust, Vergnügungssucht, Überempfindlichkeit, Weichlichkeit bei latenter Grausamkeit, Narzissmus, Haltlosigkeit, Depressivität und Handlungslähmung, Identitätsschwäche, Rollenspiel, Egozentrik, Mangel an Gemeinsinn, Sexualisierung, Psychologisierung, Nervosität, Hypochondrie, Alkoholismus, Fress- und Magersucht, Historismus, Entpolitisierung und Ästhetizismus, Stilpluralismus, Manierismus, Zitatverliebtheit an Stelle von Eigenschöpfung, Schein statt Sein, Dezisionismus bei gleichzeitig schwacher, gelegentlich aber theatralisch auftrumpfender Willenskraft. (Hermann Kurzke: Elend, Glanz und Komik der Dekadenz, Tagesanzeiger 6.8.2005, S. 37).
Auf mich macht Schule den Eindruck einer ultimativen kulturellen Projektionsleinwand. Der alte Tanker mutiert zum „Rettungsboot für alle“. Das verleiht dem Schulsystem in den hitzigen und über weite Strecken vorhersehbaren Debatten über Bildung den Nimbus einer Institution, die eigentlich nicht zur Diskussion stehen darf. An Schule herumkritteln: klar. Sie Reformen unterziehen: bitteschön. Sie digitalisieren: wenn es sein muss. Aber sie selbst darf nicht zur Disposition stehen.
Schule ist vorbei
37 Sekunden Ausschnitt aus dem Trailer zum Film „School Circles“
Doch diese Situation ist eingetreten. Schule als System ist zu Ende. Ähnlich wie andere kulturelle Trägersysteme, die erfunden wurden, um über Jahrhunderte hinweg gesellschaftliche und ökonomische Stabilität zu garantieren, und die dann unter mehr oder weniger großem Lärm abgewickelt wurden. Wir stehen an einem Punkt der Geschichte, wo das System Schule seine Funktionen als Stabilisator und Reproduzent von Kultur verloren hat und in wirklich jeder Hinsicht dysfunktional geworden ist.
… und das sind nur die Digitaljobs
Schule garantiert nicht (mehr) „gesellschaftlichen Fortbestand“ und ermöglicht nicht mehr „kulturelle Teilhabe“, weil sie sich in ihren Strukturen und Prozessen auf eine Kultur und auf eine Gesellschaft bezieht, die nicht mehr existieren. Auch auf die fundamentalen ökonomischen Herausforderungen (Plattform- und Gig-Economy, neue Berufe und Berufsbilder) bereitet sie in keiner Weise vor, u.a. weil sie von den neuen ökonomischen Parametern völlig überfordert ist. Initiativen, die hier gesellschafliche Grundlagenarbeit leisten, werden weder unterstützt noch beforscht.
Ein Vater, der ein Unternehmen für Software-Entwicklung leitet, erzählt im Rahmen einer Studie, warum er das alternative Konzept von Schule für seine Kinder bevorzugt.
Dennoch halten sich ganz viele Akteure (Lehrende, Eltern, Bildungspolitiker:innen und auch Lernende) an der Idee fest, dass all die Probleme, die traditionelle Schule hat und hervorbringt, in den Griff zu bekommen seien. Sie sind nach wie vor davon überzeugt, dass wir das hinkriegen mit genügend Geld und so viel Reform, wie es halt (zum x-ten Mal) braucht. Lehrende hoffen auf andere Schüler und Eltern, Eltern und Lernende auf andere Lehrer, und natürlich: digitale Infrastruktur muss her. Doch da liegt ein fundamentaler Irrtum.
Wenn sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben sie einen scheiß digitalen Prozess.
Die aktuelle Pandemie wirkt wie ein Kontrastmittel. Wir beklagen zwar vor allem und zu Recht fehlende digitale Infrastruktur und Kompetenz. Tiefer liegt jedoch ein anderes Problem: Autoritäre Strukturen und Menschenbilder; ein großes Misstrauen gegenüber Schüler*innen und ihren nicht-schulischen Lebenswelten, dem eine uralte Inkompetenz-Vermutung zugrunde liegt, die mit Adultismus mittlerweile auf den Begriff gebracht ist. Partizipation bleibt ein Lippenbekenntnis. Die Machtstrukturen der Erwachsenen im Schulsystem dringen wie üblich voll durch.
Eine im Obrigkeitsdenken und im autoritären Menschenbild verwurzelte Überzeugung, dass der lernende Mensch nur lernt, wenn er/sie direkt und ununterbrochen didaktisch befeuert bzw. kontrolliert wird und vor allem: wenn er und sie sich lückenlos einpasst in das System: „Sozialisationsprozesse sind dann erfolgreich, wenn die Individuen am Ende genau das tun wollen, was das System benötigt, um sich zu reproduzieren.“ (Zygmunt Baumann, Leben in der Flüchtigen Moderne, S. 150) Ein Gegenentwurf hierzu wird in dieser Online-Publikation vorgestellt und reflektiert.
Sam Lardner und Christopher Pommerening von Learnlife über Unschooling
Nur ist es heute nicht mehr die Gesellschaft oder die Kultur, die sich mit Hilfe von Schule reproduziert. Schule reproduziert nur noch sich selbst.
Ein Beispiel: Der Einsatz flankierender Berufe wie z.B. Heil- und Sozialpädagogik und der Ruf nach ihnen nimmt stetig zu. Entsprechende Studiengänge & Stellen werden immer wichtiger. Vordergründig geht es dabei um die Unterstützung von Kindern mit Problemen. Tatsächlich geht es aber um eine Illusion von „Reibungslosigkeit“ nach dem Vorbild industrieller Produktionsabläufe: Wer sich nicht von sich aus in das Belehrungssystem einpassen kann, wird hineinunterstützt. Das Inklusionsversprechen ist angetrieben von einem ehrenwerten Anliegen. In der Praxis geht es allerdings um ganz andere Ziele, wie auch eine aktuelle Untersuchung bestätigt: „Eine Studie zeigt, dass es bei der Schulverteilung wohl nicht nur um den Bedarf der Jugendlichen geht.“ Maike Plath von ACT Berlin spricht metaphorisch von der Untertanenproduktionsmaschine, und auch Andreas Schleicher stellt fest, dass das industrielle Arbeitsmodell nach wie vor großen Einfluss auf die Schulkultur hat. Heilpädagogik, Logopädie, Schulsozialarbeit, Ritalin und Nachhilfe werden als Überlebensstrategien des Schulsystems eingesetzt.
Es geht um die Rettung einer anachronistischen Vorstellung von Normalität. Das System Schule bringt die vielschichtige Problematik mitsamt den Kindern, die „Probleme machen“, also womöglich erst hervor.
Darauf verweisen z.B. die Langzeitstudien von Remo Largo. Auch erleben mehr und mehr Kinder und ihre Eltern seit Jahren auf ganz nicht-wissenschaftliche Weise, dass Schule eher krank macht als klug, wie die Lerntherapeutin und Ex-Lehrerin Corinna Milinski exemplarisch beschreibt und auffängt.
Im Interview (März 2023) konstatiert die Bildungsforscherin Katharina Maag Merki, dass die Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems nur auf dem Blatt existiert, indem sie all jene Faktoren aufzählt, durch die Schule sich der Entfaltung individueller Bildungsbiografien in den Weg stellt.
Wir sind an einem Punkt angekommen, wo – wenn überhaupt – nurmehr die Kinder und Jugendlichen „unauffällig“ (!) bleiben, die ein gefestigtes soziales und am besten auch materiell gepolstertes Lebensumfeld haben, denn Nachhilfe wird, im Unterschied zu Ritalin & Co, nicht von der Krankenkasse bezahlt.
Wir nehmen nicht wirkmächtige Zusammenhänge in den Blick, sondern operieren an den Folgen herum. Wichtig ist, dass die Verantwortlichen in ihre Sessel zurückfallen können mit dem ruhigen Gewissen, dass sie nun wirklich alles mögliche getan haben, was Wirt- und Wählerschaft zuzumuten ist. Das Vorgehen ist auf perfide Weise hermetisch: Das Schulsystem erweckt den Eindruck, dass es „etwas für die Kinder tut“ und erwartet diesbezüglich vor allem Dankbarkeit und Zustimmung. Dass es selbst Mitverursacher und Verstärker eines Problems ist (z.B. in dem es „lernschwache Schüler“ hervorbringt), zu dessen Lösung es dann großzügig antritt (indem es dann lernschwache Schüler entsprechend beschult), diese erfahrungs- und reflexionsgesättigte Erkenntnis, die wird ausgeblendet. Aus Gründen.
Nicht das Kind ist krank, sondern die Schule, in der es steckt
In Deutschland braucht es sechs Generationen, um von einem niedrigen zu einem mittleren Einkommen zu gelangen. Grafik aus Minouche Shafik: Was wir einander schulden. Ein Gesellschaftsvertrag für das 21. Jahrhundert
Schule bringt aber nicht nur Probleme hervor, die sie dann zu lösen vorgibt. Vielmehr vermittelt sie unzähligen Kindern und Jugendlichen ja ein Selbstbild als problematische, zurückgebliebene, als nicht oder nur schwer integrierbare Menschen und (re-)produziert mit dem Benotungs- und Bewertungsunsinn den Leistungsdruck auf junge Menschen. Schule ist entweder selbst eine Quelle der Diskriminierung: „In der Hälfte aller gemeldeten Fälle von Diskriminierungen gegen SchülerInnen [an Berliner Schulen] (im Schuljahr 2019/20: 272) waren Lehrkräfte diejenigen, die diskriminierten. Das Gros waren Rassismen wegen Sprache, Herkunft oder Religion.“ (Quelle) – oder Schule reicht Diskrimierung durch bzw. verstärkt bestehende Formen.
Dabei ist völlig aus dem Blick geraten, dass wir Menschen niemals sind: lernschwach oder bildungsfern etwa. Wir verhalten uns: so oder anders. Auch und gerade Schüler:innen. Die Situation, in die Schule junge Menschen steckt, hat immer einen fundamentalen Anteil daran, wie sich diese Kinder und Jugendliche dazu verhalten. Selbst Probleme wie das Mobbing, das ja reflexartig an den Kindern und an ihrem kulturellen bzw. familiären Hintergrund festgemacht wird, an den Medien und den Eltern, gedeihen ja vor allem in bestimmten schulischen Kontexten.
Wer (Cyber-)Mobbing verstehen möchte, sollte nicht bloß auf die Menschen schauen, die es praktizieren, sondern auch auf die Schule als ein Kontext, in dem das passiert. Die Tatsache, dass sich Mobbing an innovativen und alternativen Schulen nicht durchsetzt (hier eine aktuelle Untersuchung einer Schule, an der Mobbing keine Chance hat), hat nicht damit zu tun, dass dort „halt spezielle Kinder sind“, die sich eine Schule quasi wie Rosinen herauspickt. Es hat damit zu tun, dass das Phänomen an solchen Schulen keine Chance hat, weil Kinder und Jugendliche, die auch dort aus jedem erdenklichen persönlichen Background kommen, eine andere Kultur des Lernens und der Gemeinschaft erfahren, und weil sie dort ganz anders lernen, mit Macht umzugehen.
Ganz zu schweigen davon, dass auch Kinder und Jugendliche, die einigermaßen unauffällig durchkommen (aka „erfolgreich“), sich in der Schule schon lange nicht mehr auf das vorbereiten, was die Gegenwart an Haltungen, Fähigkeiten und Einstellungen erfordert. Hier lautet die Begründung von Seiten der Schule immer wieder: „Wir können unsere Arbeit deshalb nur noch schwer machen, weil wir immer mehr problematische Kinder haben.“ Dass ein Kind ganz einfach überfordert ist, wenn es in einen Rahmen gespannt wird, der die Individualität von Lernen und Persönlichkeitsentwicklung systematisch ignoriert und unterdrückt, gerät nicht in den Fokus der Überlegung. Vielmehr ist genau dann zu hören, Kinder müssten als erstes lernen, sich ein- und anzupassen, sich unterzuordnen. Und wer das nicht kann, brauche halt Unterstützung – oder eine andere Schule.
Tatsächlich kann Schule als System die kulturelle Vielfalt und Heterogenität einfach nicht bewältigen, die sich in unseren Lebens- und Arbeitswelten heute abbildet. Dafür wurde sie nicht erfunden. Deshalb erfinden sich im Moment ja auch vielerorts ganz neue Konzepte von Lernen und Bildung.
Wir brauchen keine „andere Schule“ sondern eine Alternative
Ein neues Lern-Paradigma in 1 Minute. Mehr über Devin und seine Lerngeschichte findest du hier
Wir brauchen einen Zusammenschluss all jener Kräfte in unseren Gesellschaften, die Bildung und Lernen auf viele kulturelle Schultern nehmen; nicht verteilen sondern in Angriff nehmen, selber in die Hand nehmen; die die Anliegen von Bildung und Lernen gemeinsam und grundsätzlich neu praktizieren. Nicht nur vereinzelte Eltern und Elterngruppen, die ihre Kinder aus der Schule nehmen, weil es nicht mehr anders geht – wie es zunehmend in Ländern geschieht, die keine Schulpflicht kennen. Das kann nur ein Anfang sein. Ein wichtiger und wertvoller Anfang, weil er alarmiert. Aber es geht um viel mehr. Es geht darum, dass wir mit Kindern und Jugendlichen zusammen völlig andere Räume und Formen des Lernens entwickeln, bauen und umsetzen – und das passiert ja bereits, gegen den hartnäckigen Widerstand der staatlichen Bildungsmonopolist*innen.
Die traditionellen Institutionen zu adressieren oder auf sie zu warten, ist deshalb sinnlos, wie im Kontext der Pandemie gerade deutlich wird, denn die sind weder bereit noch fähig, sich auf innovative Initiativen einzulassen und von ihnen zu lernen. Die Safaris und Wallfahrten, die Bildungspolitiker*innen imme wieder zu innovativen Learning Communities unternehmen, enden so, wie die Ausflüge von Politikern und Unternehmern ins Silicon Valley: Sie kehren erschreckt und fasziniert in die eigene Welt zurück mit der Erkenntnis, „dass das so bei uns natürlich nicht funktionieren kann“ – aus Gründen.
Die Fragen, die wir uns jetzt zu stellen haben, sind: Was spricht dafür, im großen und ganzen so weiterzumachen wie bisher, mit all diesen Ausreden und Begründungsreflexen, weil wir das bestehende Schulsystem weiterhin für das beste aller möglichen halten, an dem wir hier und da rumschrauben und reformieren, digitale Tools importieren und eine Schulsoftware, die Frontalunterricht, Leistungsnachweise und Lehrermangel optimal digitalisiert? Und was spricht dafür, dass die traditionelle Schule zu Ende gegangen ist: konzeptionell, methodisch und in Bezug auf ihr Menschenbild? Erkennbar daran, dass sie die meisten jener Probleme, die sie hat, selber hervorbringt, indem sie pausenlos mehr desselben tut in einer Situation, in der ein radikaler Neuanfang die Lösung ist.
Die großen Institutionen, die dem Umfang nach immer noch das ganze Bühnenbild und den Szenenaufbau dessen beherrschen, was wir unsere Gesellschaft zu nennen fortfahren, obwohl sie mehr und mehr in einer Inszenierung aufgeht, die mit jedem Tag an Plausibilität verliert, nachdem sie sich sogar der Mühe enthoben glaubt, das aufgeführte Schauspiel zu erneuern, und ein ganzes gescheites Volk durch ihre Mediokrität hinabzieht – die großen Institutionen also gleichen jenen Sternen, deren Licht uns erreicht, während sie, wie die Astrophysik uns lehrt, seit langem schon erloschen sind.
Michel Serres, Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, S. 62 – ein unglaublich kluges und analytisches Buch.
Das neue Lernen ist in den Nischen
“Wir geben uns unser Lernen zurück.” Gründung des Vereins Colearning.org im Effinger in Bern im April 2023.
Aufgrund meiner Beobachtungen, Beratungen, Expeditionen, Gespräche und Recherchen vermute ich, dass vor allem jene Initiativen stark an gesellschaftlichem Einfluss zunehmen, die nicht innerhalb des bestehenden Schulsystems innovativ werden, sondern im freiem Feld: initiiert von Menschen, die verstanden haben, was es braucht; die das Geld und auch die Aufmerksamkeit zusammenkratzen, um ihre wertvollen Konzepte weiterzuentwickeln und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das ist im Moment noch mit hohen Risiken verbunden – vor allem im alten Europa, wo Staaten wie Deutschland ihre Bürger*innen mit einer rigorosen Schulpflicht drangsalieren und ausschließlich traditionelle Systeme alimentieren – sei es mit Geld, sei es mit Gültigkeit. Fatal ist, dass wir alle im Moment noch am staatlichen Bildungsmonopolismus hängen, der jedoch zum Glück nicht verhindern kann, dass sich in Nischen wunderbare Initiativen entwickeln und verbreiten – und damit meine ich nicht jene Privatschulen nach Schweizer Vorbild, die jährlich Zigtausende von Euro dafür kassieren, um junge Leute durchs Abitur zu bringen, die also am Ende doch wieder im Takt des traditionellen Systems tanzen.
Ich denke an jene Initiativen, die ums finanzielle Überleben kämpfen, gerade weil sie mit einem völlig anderen Konzept arbeiten als staatliche Schule. An dieser Stelle seien einige genannt, in denen ich die Zukunft des Lernens sehe: Das mittlerweile über 50-jährige Konzept der Sudbury Valley School in seiner ganzen Radikalität, aufgegriffen und weiterentwickelt in den Demokratischen Schulen, die School Circles in den Niederlanden bzw. ganz aktuell dort die Agora-Schulen, die Villa Monte, das Lernhaus SOLE oder Die Wirkstadt-Schule in der Schweiz, und die Learnlife-Comunity.
Das neue Lernen, das wir so dringend brauchen, wird sich weder im alten Schulsystem entfalten, noch aus ihm heraus. Vergleichbar mit vielen Entwicklungen, die wir momentan im Kontext der Digitalisierung erleben, und die sich allesamt an anderen Orten auf dieser Welt abspielen.
Wenn du an einer Entschulung des Lernens mitdenken und mitgestalten möchtest, dann findest du hier Inspiration, Impulse und eine Möglichkeit zum Mitmachen:
Das alte Europa, und darin ganz besonders Deutschland, ist kraft- und mutlos geworden. Zelebriert wird das Alte, wird die Wiederholung. Der patriarchale Traditionalismus mit seinen Symbolen und Artefakten, mit seinen Hierarchien und Seilschaften durchwirkt noch immer alles, damit das radikal Neue nicht Fuss fassen kann: nachhaltige Formen des Wirtschaftens und des Zusammenlebens, ökologische Neuanfänge auf breiter Ebene, Überwindung nationalistischer Narrative, Erfindung neuer Erzählungen über lebenswertes Leben, eine Ahnung davon, wie unsere Zukunft aussehen könnte, statt des ritualhaften Abhakens all jener Vorschläge, die nicht genehm sind. Aus Gründen. Überall Vermeidungsängste statt Zukunftshoffnungen. Und dazwischen das gute alte „panem et circenses“ (Brot und Spiele) im neuen Gewand.
Der erste Schritt, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist ein Unterbrechen der Versorgung unseres Schulsystems mit „menschlichem Nachschub“. Entweder wir gehen dieses Risiko ein und praktizieren Bildung und Lernen jetzt neu – die Alternativen sind ja weltweit bereits vorhanden, oder wir gehen vor die Hunde. Ob wir das wahrhaben wollen oder nicht.
Die Herausforderung, die es für die nächsten Generationen bedeutet, aus dem heruntergewirtschafteten Ort, den wir ihnen hinterlassen, wieder einen Lebensraum zu machen, sind riesig – nicht nur ökologisch, sondern auch was das Zusammenleben angeht. Und es ist unsere Aufgabe, jungen Menschen erstens alles aus dem Weg zu räumen, was es ihnen erschwert, diese Zukunft zu gestalten und ihnen zweitens alle Unterstützung zu geben, die sie fordern, um das zu leisten.
Ein erster Schritt in diese Richtung ist der, Kinder und Jugendliche gleichwürdig und auf Augenhöhe als Gesprächspartner*innen zu erkennen und wertzuschätzen, nicht nur, aber vor allem dann, wenn es um Bildung und Lernen geht. Dann kommen zum Beispiel solche Initiativen zu Stande:
Mehr zu diesem Bildungsgipfel erfährst du in den Videos hier. (Quelle Artikel: Suttgarter Zeitung)
Alle müssen zur Schule. Nur so sei Bildungsgerechtigkeit gewährleistet. Nur so würden junge Menschen auf eine erfolgreiche Zukunft vorbereitet – so tönt es aus den Kanälen der Bildungspolitik. Doch das Abregnen von Stoff führt nicht zu Gerechtigkeit – und vermittelt wird durch die Hintertür etwas anderes.
Nicht erst seit wir in einer Pandemie stecken, wird allerorten die Bedeutung von Schule als Ort zuverlässiger Wissensvermittlung betont. Endlich geht es wieder um Inhalte! Doch die sind in jeder Hinsicht zweitrangig. Der Unterrichtsstoff ist vielmehr ein Transportmittel. Mit seiner Hilfe vollzieht Schule ihren eigentlichen Auftrag, der nicht in der Wissensvermittlung liegt, sondern in der Reproduktion von Kultur. Der Stoff ist eine Lokomotive.
In neun Schuljahren lernten die Kinder Lesen zum Entziffern der Werbeanzeigen. Schreiben, zum Bestellen von Waren, Rechnen zum Kalkulieren der Ratenzahlungen. Lesen, Schreiben, Rechnen. Für andere Dinge war keine Zeit.
Bereits dort, wo Schule einigermaßen „funktioniert“, reproduziert sie eine Kultur. Das ist ihr Job. Nicht Wissen, sondern die Kultur, deren Schule sie ist: Hierarchien, Menschenbilder, Werte und Normen, Verhaltenskodices, Überzeugungen von Gesellschaft und Zusammenleben, Sinn und Lebensziele, ästhetische Urteile, Vorstellungen von Geschlecht und Beziehung. Was und wie ein Mensch sei und wie nicht, wie er und sie lebt, was richtig und falsch ist, gut und böse.
Problematisch wird dieses Reproduzieren dann, wenn Schule den Kontakt zu der sie umgebenden Kultur mehr und mehr aus den Augen verliert. Dann, und an diesem Punkt stehen wir heute, rekurriert Schule auf eine Kultur, die entweder schon der Vergangenheit angehört, oder auf eine, die wir dringend hinter uns lassen müssen um Platz zu machen für neue Formen von Kultur, die über unsere Zukunft mitentscheiden: Inklusion statt Selektion, Soldiarität statt Wettbewerb, Kollaboration statt Konkurrenz, Zirkularität statt Wachstum u.v.m.
Lesen, Schreiben, Rechnen: ein geschicktes Ablenkungsmanöver
„Sozialisationsprozesse sind dann erfolgreich, wenn die Individuen am Ende genau das tun wollen, was das System benötigt, um sich zu reproduzieren.“
Zygmunt Baumann, Leben in der Flüchtigen Moderne, S. 150
Schule reproduziert also nicht Kulturtechnik, sondern Kultur, die sie mit Hilfe von Kulturtechnik reproduziert: Kinder müssen „in die Schule“, weil nur so ihre Eltern das tun können, worauf Schule zuvor sie vorbereitet hat. Und nur wenn Kinder zur Schule gehen, kann Schule sie auf das vorbereiten, worauf sie bereits deren Eltern vorbereitet hat – und das ist nicht Lesen, Schreiben, Rechnen, sondern die Internalisierung einer Kultur.
Der Fokus auf Stoff und Wissen, der Ruf nach Bildungsgerechtigkeit durch Präsenzunterricht, also: alle denselben Stoff zur selben Zeit am selben Ort in der selben Form, im selben Tempo – das ist bloß ein Ablenkungsmanöver. Kultur lässt sich einfach leichter reproduzieren, solange alle daran glauben, es würde um Wissen, Stoff und Kulturtechnik gehen.
Auf dem Weg zum Erfolg: Informationen von A nach B tragen. Aus einem Werbevideo eines privaten Gymnasiums (Quelle: youtube. Release: 19.11.2020)
Ein Beispiel
Ich kann Unterrichtsstoff wie „Menschenrechte“ oder „Menschenwürde“ so durchnehmen (aka „unterrichten“), dass ich dadurch gegen beide verstosse, indem ich z.B. Unterricht misogyn, rassistisch, homophob, autoritär organisiere – also durch die Art, wie ich Unterricht strukturiere, und wie ich ihn durchführe – also durch die Art(en) der Interaktion. Was ich dabei reproduziere, ist eine Kultur, sind Menschenbilder:
„Wer nämlich mit ‚h‘ schreibt, ist dämlich.“
Umgekehrt: Wenn mir wichtig ist, dass wir Menschenrecht und Menschenwürde verwirklichen, brauchen wir dafür keine Schule und keinen Unterricht, sondern eine bestimmte Art des sozialen Miteinanders, das wir überall gestalten können – selbstverständlich auch in einem Schulgebäude.
Und es ist auch keine Kleinigkeit, dass dort, wo Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen sollen, sie dies unter besonderer Berücksichtigung ihrer Rechte tun können und ihrer Bedürfnisse und ihrer Persönlichkeit. Wenig schadet einem Kind mehr, als wenn es in der Entwicklung grundlegender Kompetenzen unter Zeit- und Erfolgsdruck gesetzt wird, denn beim Lernen gibt es keine Gleichzeitigkeit. Lernen ist seinem Wesen nach „ungleichzeitig“ – auch in einem Schulgebäude.
Diese Tatsache ignoriert traditionelle Schulkultur auf der ganzen Linie.
Immer wieder höre und lese ich, dass alles Wissen dieser Welt heute jederzeit und überall bei Fuß steht, und Schule sich deshalb fragen lassen muss, wozu es sie dann eigentlich noch braucht. Die Antwort auf diese Frage finden wir aber nicht über den Stoff, den sie ankarrt, nicht über Formeln, Texte und Landkarten, sondern über die Kultur, in der sie es tut. Die bestimmt darüber, was Menschen in der Schule tatsächlich lernen während sie lernen.
Was ich in der Schule lerne
Wer vorne steht, hat das Sagen – egal, was er oder sie sagt.
Autoritäre Autoritäten bestimmen über meinen Alltag: wie ich ihn gestalte, wo ich mich wann aufhalte, was ich wann mache und nicht, mit wem und was ich mich beschäftige und nicht, wofür ich Zeit einsetze, die niemals meine ist, weil andere sie mir zuteilen und sie portionieren, sie mir geben und nehmen.
Individuelle Bedürfnisse sind mindestens zweitrangig. Es ist besser, sich nicht so intensiv mit ihnen zu beschäftigen bzw. sie gar zu einem Bestandteil meines Lernens und meiner Bildungsprozesse zu machen.
Martin Walser (1982), Heimatlob, S. 34, 37. Insel Verlag.
Die Bewertung durch andere ist jederzeit Ausgangs- und Zielpunkt meiner Selbsteinschätzung. Im Zweifelsfall gilt, wie andere mich einschätzen.
Es entscheiden immer andere über richtig und falsch. Ich lerne, diese Perspektive zu übernehmen. Ich lerne nicht zu entscheiden, was richtig und was falsch ist. Ich lerne, dass andere darüber entscheiden. Das lerne ich als richtig. Ich verinnerliche das.
Andere entscheiden über mich.
Protest führt zu Sanktion und Verlust von Chancen.
Ich habe keinen Einfluss auf die äußeren Bedingungen meines Lernens. Auch nicht auf die Gestaltung der Rahmenbedingungen. Sie sind immer von anderen gesetzt.
Wer es mit Autoritäten gut kann, wird Erfolg haben.
Es geht in der Schule darum, eine Kultur zu reproduzieren. Eine Kultur der Kontrolle. Eine Kultur der Reiblungslosigkeit. Eine Kultur des sich Ein- und Unterordnens. Eine Kultur der Milieus und der Schichten, des Oben und des Unten. Eine Kultur, in der im Wesentlichen immer andere über dein Leben, dessen Spielräume und seine Gestaltung entscheiden. Eine Kultur, deren Basis die Selektion bildet.
Darauf bereitet Schule vor, indem sie es tut. Unerbittlich:
Schule braucht den direkten, umfassenden, physischen Zugriff auf Kinder und Jugendliche. Nur so kann sie ihren Reproduktionsauftrag erfüllen. Je weniger Zugriff sie auf die Lernenden hat, je weniger die ihrer Kontrolle unterstehen, je freier und diverser die ihr Lernen gestalten, zusammen mit unzähligen Akteuren der Zivilgesellschaft, umso mehr schrumpfen die Möglichkeiten zur Kontrolle, umso schwieriger wird es für Schule „zu reproduzieren“. Darum geht’s bei Präsenzunterricht.
Zwar wird gerade in Zeiten einer Pandemie gerne folgendes Argument aus dem Ärmel gezogen:
Doch aus diesen real existierenden Problemen und Benachteiligungen müsste folgen
niederschwellig qualifizierte Betreuung anzubieten für alle Menschen, die das brauchen,
die eklatante soziale Benachteiligung in unserer Gesellschaft abzubauen (die ein kulturelles Phänomen ist)
und den Arbeitsmarkt sozial verträglich zu gestalten,
statt ein völlig überfordertes und in mancher Hinsicht dysfunktionales Schulsystem zum Sozial-Lazarett zu stilisieren. Präsenzunterricht gehört in all seinen re-reformierten Ablegern in eine andere Zeit. Weder ist es heute aus organisatorischen Gründen nötig, Kinder und Jugendliche zu Bildungszwecken nach Jahrgängen getrennt in Schulzimmer zu pferchen, um allen auf dieselbe Weise Stoff zu vermitteln, noch entsprechen die anderen traditionellen Säulen von Schule (z.B. Fächerstrukturen, Benotungssysteme) den Bedarfen und Bedürfnissen lernender Menschen, noch befähigen sich junge Leute in solchen Settings auf ein Leben und Arbeiten in einer Kultur der Digitalität.
Wie kommst du ins Lernen, wenn keine Schule in der Nähe ist, die das organisiert und überwacht? Geht das überhaupt? Die Schule in deinem Kopf sagt nein. Ich sage: Doch! Das geht – wenn es dir gelingt die Schule in deinem Kopf loszulassen. Damit nimmst du dein Lernen selber in die Hand. Du lernst so, wie du es brauchst und vor allem lernst du, was du brauchst. Das ist Colearning. Dazu haben wir die Colearning-Akademie ins Leben gerufen. Ich zeige dir die ersten drei Schritte auf dem Weg dorthin:
Erster Schritt: Du entdeckst die Pluripotenz des Lernens
So wenig eine Safari die Teilnehmer:innen auf ein Leben in der Wildnis vorbereitet, bereitet dich eine Schule auf deine Zukunft vor. Das tust du selber. Nicht alleine, aber selber. Egal was Schule mit dir macht oder nicht. Wir Menschen sind vom ersten Atemzug an unendlich adaptiv. Unser Lernen ist und bleibt lebenslang so pluripotent wie Stammzellen. Du kannst und wirst dich immer wieder weiterentwickeln, dich sogar neu erfinden – mitsamt der nötigen Kompetenz. Darauf bereitet dich keine Schule der Welt vor, denn das tust du selber:
Wir Menschen besitzen den evolutionären Vorteil uns lebenslang lernend an neue kulturelle Anforderungen anzupassen.Das haben wir während unserer Schulkarriere vergessen, weil die uns erlaubt oder gezwungen hat, das Lernen als fremdgesteuerten Prozess zu akzeptieren – und es genau dadurch zu verlernen.
Wenn Schule deine Pluripotenz nicht völlig diskreditiert hat, steckt in dir bis heute das Vermögen, dich selbst und die Welt in jedem Moment anders zu sehen und neu zu erfinden. Du besitzt diese Kreativität im Sinne einer Lösungskompetenz. Die ist ein umfassendes Versprechen an deine Zukunftsfähigkeit. Sie zeigt, dass du alles schon mitbringst, um dich hier und jetzt an die Gestaltung deiner Gegenwart zu machen – welche Zukunft dann auch immer kommt.
Die Schule im Kopf leeren…
Du entwickelst dein Potenzial und deine Fähigkeiten im Austausch mit deinen realen, gegenwärtigen Menschen und Umwelten, nicht mit der Zukunft. Alles, was du lernst, lernst du in Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Du lernst „etwas“ also nicht, weil du „es“ für die Matura brauchst oder für einen anderen Abschluss, sondern weil es für dich jetzt gerade eine Lösung verspricht.
Auf die Matura haben wir ja bekanntlich erst kurz vorher gelernt.
Ein Beispiel: Im Unterricht „Mitschreiben“ hat eine Entlastungsfunktion von dem Druck, sich bezogen auf die Prüfung alles merken zu müssen. Nützen tut es dir jetzt.
Zweiter Schritt: Zukunft neu begreifen
Zukunft ist nicht vorhersehbar und nicht planbar. Du kannst zwar absehen, dass dir die Wohnung gekündigt wird, wenn du die Miete nicht bezahlst. Doch das ist nicht vorhersehbar. Das ist absehbar.
Vorhersehbar ist nichts. Auch die Zukunft nicht. Sie ist im Moment und Prozess des Lernens einfach unausweichlich. Mehr nicht.
„Voller Hoffnung zu reisen ist besser als anzukommen“ – nie war Robert Louis Stevensons Verdikt wahrer als in unserer flüchtigen Moderne. Wenn die Ziele beweglich sind oder ihren Reiz schneller verlieren, als Menschen laufen, Autos fahren und Flugzeuge fliegen können, dann ist das Unterwegssein wichtiger als das Ziel. … Unsere Kultur beruht nicht mehr wie die Kulturen früherer Zeiten oder jene, die die ersten Ethnologen vorfanden, auf einer Praxis der Erinnerung, der Bewahrung und der Gelehrsamkeit. Sie ist eine Kultur der Auflösung, der Diskontinuität und des Vergessens.
Zygmunt Baumann, Leben in der Flüchtigen Moderne, S. 198f.
Deswegen ist deine Fähigkeit so wichtig, dich so offen wie möglich auf neue Situationen einzulassen und sie lösungsorientiert anzupacken. Hätten wir diese Pluripotenz des Lernens nicht, wären wir heute alle verloren, weil wir ja in der Gegenwart nicht wissen, auf welche Art von Zukunft wir uns gefasst machen sollen. Doch weil wir pluripotente Lerner:innen sind, können wir Zukunft provozieren.
Was für dich wirklich Sinn ergibt und Wert, welche Bedeutung für dich Arbeit hat und eine Community, das entscheidest du immer wieder neu – denn es ist heute gar nicht mehr möglich, dich „endgültig“ auf etwas vorzubereiten, das weiter als ein, zwei Jahre in der Zukunft liegt.
Wir wissen nicht mehr, wie es werden wird mit Ökonomie, Arbeit, Kapital, Politik, und mit den natürlichen Grundlagen unseres Lebens.
Dieses Nichtwissen ist und bleibt unausweichlich. Auch deshalb ist es so wichtig, die Schule in deinem Kopf zu verlassen und dein Lernen zu befreien.
Der Ort, an dem Lernen passiert, ist die Gegenwart. Sie steckt voller Herausforderungen, Chancen, Aufgaben, Ressourcen, Mitmenschen und divergierender Bedürfnisse – inklusive deiner eigenen.
Die Schule in deinem Kopf sagt: „Oh, wir können auf deine Gegenwarts-Bedürfnisse nicht allzu sehr eingehen, weil es ja um deine Zukunft geht. Wir müssen die Aufmerksamkeit und die Ressourcen dorthin lenken.“
Die Schule in deinem Kopf neigt dazu, deine Gegenwart zu entwerten – um der Zukunft willen, von der wir nicht wissen, wie sie wird. Ich bin hingegen davon überzeugt: Deine entscheidenden Ressourcen liegen im Hier und Jetzt. Mein Job als Lerncoach ist es, dir den Zugang zu ihnen zu ermöglichen.
Sebastian Blättler, Managing Director China, Boschung Group
Die Schule in deinem Kopf sagt: „Mein Kind soll es einmal besser haben“, oder auf dich bezogen: „Nur wenn ich meinen Lebenslauf mit Zertifikaten auflade, bereite ich mich korrekt auf meine berufliche Zukunft vor“. Das klingt nach Zukunft und nach Planbarkeit – durch Zeugnisse und Abschlüsse.
Doch du weisst nicht, wie diese Zukunft wird und was du wissen und können musst, wenn sie da ist. Die Schule in deinem Kopf sagt, dass es beim Lernen immer um ein „Später“ geht – obwohl dieses „Später“ so unvorhersehbar ist wie nie.
Dein Lernen findet in einer Gegenwart statt, die bewältigt werden will. Die Art, wie du deine Gegenwart angehst, entscheidet maßgeblich darüber, welche Zukunft du dadurch für dich provozierst – ohne je eine Garantie dafür zu haben, dass sie so kommt, wie du sie gerne hättest.
Aus dieser eigenartigen Erfahrung heraus haben wir die Colearning-Initiative gegründet. Wir, das sind Menschen, die verstanden haben: Die Schule in unserem Kopf bereitet uns weder auf die Zukunft vor, noch lässt sich uns unser Potenzial in der Gegenwart ausschöpfen. Wir begreifen die Zukunfts-Ungewissheit als grosse Chance. Mit der Colearning-Idee verwirklichen wir unsere Vision:
Das Lernen aus der Schule in unserem Kopf zu befreien.
Wir verstehen uns als Designer und Architektinnen einer zeitgemässen Lernkultur. Wir sind davon überzeugt: Keine noch so ausgefeilte Weiterbildung „von der Stange“ kann den Anforderungen entsprechen, die wir heute an Weiterbildung stellen müssen. Es ist vielmehr die Weiterbildung, die ich selber kreiere. Selber – aber nicht alleine.
Deshalb haben wir die Colearning-Akademie ins Leben gerufen. Sie ist unser neuestes Projekt. In diesem Angebot vereinen wir alles, wofür Colearning steht.
Klick dich rein:
Marco Jakob. Coworker und Colearner der ersten Stunde. Soziokrat aus Fleisch und Blut. Kongenialer Co-Gründer der Akademie.
Bitte melde dich ganz ungeniert & unverbindlich, wenn du das Team der Colearning-Akademie kennen lernen möchtest.
Wir bringen jetzt jene Menschen enger zusammen, die bisher vor allem in ihren eigenen Ecosystemen innovatives Lernen fördern. Wir bauen ein LEAD-Netzwerk: Learning Ecosystem Architecture & Design. Es gibt so viele wunderbare Initiativen: Wir werden eine Menge Power freisetzen, wenn wir diese Kräfte jetzt bündeln.
Titelfoto: Guido van Dijk. Die AGORA Schule Niekee
Meine Notizen aus einem Gespräch mit Guido von Dijk, einem Mit-Initiator von AGORA in den Niederlanden über die Erfolgsfaktoren auf dem Weg in ein anderes Lernen.
Vor einigen Tagen habe ich in den Sozialen Medien ein Statement publiziert, in dem wir zu viert unsere Sehnsucht nach einer anderen Kultur des Lernens zum Ausdruck bringen. Hier die Kurzvariante:
Die Zeit für eine andere Schule ist JETZT
Guido van Dijk hat auf linkedIn reagiert, und so kam es zu einem Zoom-Talk zwischen uns beiden.
Was ist AGORA, und was hat dieser Begriff mit einem radikalen Neuansatz von Schule zu tun? Wie bei vielen anderen echt innovativen Learning Communities gibt es auch an einer AGORA keine Fächer, keinen Unterricht, keine Klassen. Und wie bei allen anderen Communities verstehst du erst dann wirklich, worum es geht und was, warum wie gut funktioniert, wenn du eine Weile mitlebst oder zumindest mal mit jemandem ins Gespräch kommst, der dir von der DNA erzählen kann. Jemand wie Guido van Dijk. Für mich als großer Fan von Learnlife in Barcelona war es beeindruckend, wie viele Gemeinsamkeiten innovative Learning Communities haben.
Es beginnt immer mit einer Hand voll Menschen, die sich zusammentun, um Schule neu zu erfinden. Immer ist es eine Gruppe, die den Anfang wagt und loslegt. Mitgetragen wird die Zeit des Anfangs durch eine Stiftung oder andere Kapitalgeber, die eine Anschubfinanzierung leisten. Dann beginnt kontinuierlich ein Netzwerk zu wachsen.
Lernende und ihre Interessen stehen im Zentrum
Der entscheidende Unterschied zwischen traditioneller Schule und der AGORA ist der Perspektivwechsel: Die Lernenden und ihre Fragen und Interessen stehen im Fokus. Um sie herum und aus ihnen heraus gestalten sich ihre Lernprozesse. Nicht Lehrende „liefern“ Wissen über eine Lehrplan- und Fächerstruktur. Vielmehr entwickelt sich um den/die LernendeN herum ein Netzwerk, mit dem er oder sie sich nach und nach die Welt in ihrer Multidimensionalität (technisch, naturwissenschaftlich, sozial, ethisch, historisch …) erschließt.
Weil auch die AGORA nicht auf der grünen Wiese gestartet ist, sondern mit Lernenden und Lehrenden, die im klassischen System sozialisiert wurden, wurde dem Team schnell klar, dass sie auch auf der Ebene der Prozesse ein alternatives Konzept einführen müssen, um nicht der Gefahr zu erliegen, bei Schwierig- und Hilflosigkeiten zurück in die klassischen Abläufe zu fallen. AGORA hat sich für „Agile Learning“ mit SCRUM entschieden.
Inspirieren statt belehren
Guido van Dijk
Besonders beeindruckt hat mich in Guidos Erzählung von den ersten Jahren, dass es für sie ganz entscheidend war, Lernende mit inspirierenden Menschen zusammen zu bringen: „Lernen wird organisiert, indem Begegnung organisiert wird“, sagt Guido zu mir im Talk. Aus diesem Grund haben sie über die ersten Jahre so genannte „Field Labs“ entwickelt, die das Lernen mit Expert*innen im sozialen, ökonomischen und kulturellen Umfeld der Schule möglich machen. Das ist eine wunderbare, praktische Anwendung des „place based learning“.
Lehrer*innen haben in diesem Konzept nicht mehr die fachliche Hoheit und vermitteln kein Wissen mehr. Sie werden als Prozessbegleiter und „Facilitators“ wichtig, die damit selber auf ziemlich radikale Weise zu Lernenden werden, und es kommen zur Begleitung und Beratung der Schüler*innen auch andere Berufsgruppen in den Blick, die wir im klassischen Schulsystem nicht vermuten würden.
Ganz besonders hat mich beeindruckt, wie Guido den Ablauf einer staatlichen Visitation geschildert hat, an deren Ende die Kontrolleure am liebsten ihre eigenen Kinder angemeldet hätten. Was die Kontrollinstanzen überzeugt, ist dies: Es wird sichtbar, wie Lernende wachsen, und wie sie ihre Fortschritte über digitale Portfolios dokumentieren um ihren Weg für sich selbst sichtbar zu machen – also intrinsisch motiviert, nicht weil es dafür eine Bewertung geben würde. Die Community wiederum reflektiert mit den Lernenden deren Lern- und Lösungsstrategien und unterstützt sie dabei, diese Strategien zu verfeinern.
Noch ein Mitgründer: Jan Fasen über seine Passion und über das Konzept AGORA
Digitale Technologie dient der Lernbiografie des Menschen
Im Verlauf des Gesprächs mit Guido wird auch sichtbar, wie viel Research und Empirie, wie viel Forschung und ständige Reflexion der eigenen Arbeit in diesem Projekt steckt. Das erinnert mich an Learnlife, die es sich ebenfalls zur Aufgabe gemacht haben, ihre Arbeit mit jungen Menschen fortlaufend und auf dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse zu reflektieren.
Dabei und beim Gestalten der Lernprozesse hilft digitale Technologie, hilft die Zusammenarbeit mit Hochschulen, hilft auch eine Kultur des „Computational Thinking“, wie Guido sie mir anhand der Auswertung einer breit angelegten Umfrage unter den Stakeholdern von AGORA geschildert hat. Das Ziel ist ganz offenbar, so nahe wie nur möglich an den Bedürfnissen aller Beteiligten zu sein, um die Prozesse so zu planen, dass die grundlegende Idee der „Learner Centered Education“ in allem den Vorang hat – was intensive Überlegungen zu den Möglichkeiten von Learning Analytics mit einschließt.
Was mich nach diesem ersten Gespräch mit Guido stark beschäftigt und antreibt: Wie bauen wir ein starkes, länderübergreifendes und digitales Netzwerk von Multiplikator*innen und Facilitator*innen, um die zahlreichen, guten, hoch wirksamen Konzepte und Initiativen zur Grundlage eines Paradigmenwechsels in Bildung und Lernen zu machen? Wie kommen wir in die Breite? Was braucht’s noch, damit wir in unserem Schulsystem alte Strukturen, Rituale und Praktiken endlich loslassen, die sich selber überlebt haben? Wie sorgen wir dafür, dass an die Stelle überholter Berufsbilder und Ausbildungsformate im Schulbetrieb neue entstehen, die den Beruf attraktiv und für die Arbeit mit jungen Menschen wirksam machen?
Eine nächste Etappe könnte so aussehen:
Im Gespräch mit Christopher Pommerening, dem Gründer der Learnlife-Community, haben sich im Sinne eines ersten Aufschlags folgende Ideen herauskristallisiert:
Wir bringen jetzt jene Menschen enger zusammen, die bisher vor allem in ihren eigenen Ecosystems innovatives Lernen fördern. Wir bauen ein LEAD-Netzwerk: Learning Ecosystem Architecture & Design. Es gibt so viele wunderbare Initiativen: Wir könnten eine Menge Power freisetzen, wenn wir diese Kräfte bündeln.
Wir laden bereits existierende Communities, Netzwerke und Stiftungen ein, mit diesem „Ecosystem der Praxis“ zu kollaborieren und es zu vergrößern.
Wir organisieren stationäre, temporäre und digitale Hubs, in denen interessierte „Learning Innovators“ sich finden, voneinander lernen und sich gegenseitig anleiten auf dem Weg in ein neues Lern-Paradigma.
Und noch zwei spannende Pfade zum Schluss:
Benjamin Fuchs von Perspective Daily hat AGORA besucht und darüber geschrieben. Du findest den Artikel hier.
Learnlife lädt ein zum Online Festival [Re]Learn, where actionable learning innovation is shared & grown among education professionals to positively change education worldwide.
Zukunftsfähig ist das Schulsystem als Kurator von Lernprozessen dann, wenn Lernende ganz selbstverständlich darüber entscheiden, wie sie lernen, was, mit wem, wie lange, wo und mit welchen Ergebnissen – bzw. ob Ergebnisse jetzt gerade überhaupt wichtig sind.
Hier und da kommt ja die Frage auf, ob und wodurch sich unser Schulsystem als zukunftstauglich entpuppt. Für mich qualifiziert sich ein Diskurs oder eine Diskussion über diese Frage, über Wert und Unwert von Bildungshandeln in erster Linie dadurch, dass Lernende selbstverständliche Teilnehmende und Teilgebende in diesem Diskurs sind. Das ist für sehr viele Lehrende und Lernende, ja eigentlich für alle, die zur Schule gegangen sind, eher ungewöhnlich bis unvorstellbar.
Das Bildungssystem ist nämlich in einem anderen Modus und Selbstverständnis unterwegs: Die Menschen, um die es in den Kern-Prozessen institutioneller Bildungsarbeit geht (aka Schüler*innen oder Studierende), sind aus der Planung, der Gestaltung, der Reflexion und der Weiterentwicklung ihrer Lern- und Bildungsprozesse ausgeschlossen, bzw. sie bestimmen an keiner Stelle und zu keiner Zeit über die Art, die Qualität, das Gewicht und die Konsequenzen ihrer Beteiligung mit. Die Begründung des Systems lautet: Um das zu können, müssen sie ja erst einmal gebildet sein. So das Argument des allgegenwärtigen Adultismus, der bis heute das Fundament unseres Bildungssystems ist – egal, wie modern es sich ansonsten gibt.
Qualifiziertes Lernen ist Lernen, für das ich mich fortlaufend entscheide
Zukunftsfähig ist das Schulsystem als Kurator von Lernprozessen meiner Überzeugung nach dann, wenn Lernende ganz selbstverständlich darüber entscheiden, wie sie lernen, was, mit wem, wie lange, wo und mit welchen Ergebnissen – bzw. ob Ergebnisse jetzt gerade überhaupt wichtig sind. Gemeint ist damit weder, dass sie das „alleine entscheiden“, oder dass sie „alleine lernen“. Niemand, der oder die bei Verstand ist, trifft große Entscheidungen alleine (aber hoffentlich selber), und niemand lernt alleine. Vielmehr zeichnet sich der qualifizierte Lernprozess dadurch aus, dass sich lernende Menschen bewusst für oder gegen einen Weg, ein Thema, eine Lerngemeinschaft und -begleitung entschieden haben – und das lernen sie wie? Indem sie sich entscheiden. Pausenlos, und zwar:
Wie sie ihr Lernen organisieren: ob in Form von Unterricht oder nicht, in homogenen Klassen oder nicht, ob in Jahrgänge gesplittet, oder ob sie andere Gefäße bevorzugen und gestalten: altersdurchmischt, interessengeleitet, nach Neigung und Sympathie, on- oder offline, zu Hause, in einer anderen Learning Community oder sonstwo, mit Hilfe der Medien, die ihnen geeignet erscheinen und begleitet von Menschen, die sie sich aussuchen.
Welche inhaltlichen Schwerpunkte und Ausrichtungen sie erwägen: ob unter Rückgriff auf fixfertige Pläne und in Form von Fächern oder in anderen Formationen, linear oder eher mändernd, rhapsodisch oder eher stringent. Vertiefend oder eher oberflächlich.
Wie sie ihre eigenen Lernfortschritte reflektieren: ob sie sich benoten und bewerten lassen, oder ob sie lieber/auch/manchmal/vermehrt in kollaborativen Teams eigene Methoden der Reflexion entwickeln, einsetzen und verfeinern.
Wie gestalten wir den Diskurs, wie die Diskussion über diese Prozesse und Strukturen?
Die gleichwertige und gleichberechtigte Teilnahme Lernender (Schüler*innen, Studierende, Auszubildende) an den Diskussionen und Entscheidungen über die Entwicklung institutionalisierter Lern- und Bildungsprozesse bildet für mich ein KO-Kriterium und ein Merkmal, an dem ich erkenne: Dieser Diskurs oder diese Diskussion über „Schule der Zukunft“ ist (endlich) in dem Modus unterwegs, der sie als zeitgemäße Lern- und Bildungskuratorin qualifiziert. Bildung und Lernen werden dann nicht mehr über die Köpfe der Zielgruppen hinweg entwickelt, strukturiert, organisiert, durchgeführt und reflektiert, sondern als „deren ureigene Sache“ verhandelt, die nur dann sinnvoll verhandelt werden kann, wenn allen klar ist, dass sie die Träger*innen und Inhaber*innen (Ownership) ihres Lernens sind.
Die Beteiligten haben dann verstanden, dass die Entwicklung von Lern- und Bildungsprozessen jederzeit von den lernenden und sich bildenden Menschen ihren Ausgang nimmt, nicht indem Annahmen und Wissen über sie auf pädagogischen und didaktischen Umwegen einfließen, sondern indem die lernenden und sich bildenden Menschen diese Prozesse ganz selbstverständlich als ihre eigenen Lernprozesse gestalten – zu welchen Entscheidungen auch immer sie dabei kommen.
Also ein neues Lernparadigma
In meiner – an unterschiedlichen Orten außerhalb des staatlich verpflichtenden Schulsystems schon verwirklichten – Vision von Lernen haben Pioniere exakt daraus ihre zentralen Anliegen gemacht:
Lernende selbstverständlich und ausnahmslos als gleichwertige, -würdige und -berechtigte Partner*innen zu betrachten, weil es um die Gestalt und um die Gestaltung ihrer eigenen, nicht dispensierbaren Bildungs- und Lernprozesse geht: um das Tempo, die Rhythmen, die Interessen, die Potenziale, die unterschiedlichen, weil individuellen und nicht homogenisierbaren Entwicklungsphasen. Lernende gelten ihnen als gleichwertige und gleichberechtigte Träger*innen und Vertreter*innen ihrer Bedürfnisse, Fragen, Ideen und Sorgen.
Dass dieser entscheidende Schritt in ein neues Lernparadigma in einem schulischen Feld oder System gemacht ist, das erkennen wir unter anderem daran: lernende, studierende und sich ausbildende Menschen nehmen ganz selbstverständlich an diesen Diskursen und Diskussionen teil – unaufgefordert und auch nicht „eingeladen“, weil es ja um sie geht. Konkret: weil es ihnen um ihr Lernen geht. Sie sind selbstverständlich auf allen Ebenen und in alle Prozesse eingebunden, nicht als „Beisitzende ohne Stimme“, sondern als Entscheider*innen.
Und das alles gibt es bereits. Demokratische und soziokratische Schulen arbeiten nach diesem Prinzip. Wenn wir diese Pioniere jetzt noch ins Netz bringen und davon überzeugen können, dass sie die digitale Netzwerk-Community um das neue Lernen unendlich bereichern – dann sehe ich großen Zeiten entgegen.
Der vielbejammerte Lehrermangel ist gar keiner. Ebensowenig wie z.B. der Priestermangel in der katholischen Kirche. Es gibt davon immer weniger, weil diese Berufe aussterben. Wir sollten das akzeptieren und möglichst heute anfangen, uns entsprechend zu organisieren. Auch und gerade als Lehrer.
Wir sind ausnahmslos alle in der “Sagen-sie-uns-wie-das-geht-und-was-wir-tun-müssen“-Kultur aufgewachsen. Jetzt finden wir uns in einer Kultur wieder, in der nicht einmal mehr die Expertinnen und Experten wissen, wie es weitergeht – wir müssen das also selber herausfinden und wissen erst einmal nicht, wie.
Besonders augenfällig und dramatisch erleben wir den Kulturwandel derzeit also beim Lernen. Wir, die wir in einem Bildungssystem groß geworden sind, in dem Expert*innen zu wissen vorgaben, wie Lernen geht, und wie wir zu lernen haben. Dabei weiß keiner wirklich, wie Lernen geht: „Lernen ist nicht zu verstehen“ (Andreas Sägesser).
Bei hoch komplexen, technischen Vorgängen wie beim Operieren von Menschen oder beim Fliegen von Flugzeugen sind Experten ziemlich nützlich. Aber bei der Grundfunktion menschlicher Existenz, dem Lernen, gibt es außer dem Menschen, der oder die jetzt gerade lernt, keine andere Expertin als sie oder ihn – und diese Expertise ist auch nicht delegierbar, weil jeder Mensch total individuell lernt.
Lernen bis der Lehrer kommt
Mit dieser Erfahrung kommen Menschen auf die Welt und sind von Anfang an in diesem Flow unterwegs, bis er ihnen ausgetrieben wird von zertifizierten Expert*innen des Lernens, die ab jetzt die Steuerung, die Inhalte, die Strukturen, die Organisation und den Outcome bestimmen und überwachen. Ein absurdes Unterfangen – und doch bildet es bis heute die Grundlage einer Kultur und deren Reproduktion, die jetzt abgehakt ist – außer in den Köpfen derer, die vorgeben, das Lernen anderer zu organisieren.
Die Aufgabe, in der wir im Moment stecken, scheint mir klar: Das Lernen zuzulassen, um jene Fähigkeiten zu entwickeln, die uns helfen die Kultur zu gestalten, in die wir uns hineinkatapultiert finden – und in der es z. B. darum geht, Alternativen fürs Fliegen von Flugzeugen zu finden und verrückt präzise und erfolgreiche Operationsmethoden, die von Künstlicher Intelligenz gesteuert und von Maschinen durchgeführt werden.
Welche Aufgabe dabei ausgebildete und zertifizierte Lehr- und Lernexpertinnen und -experten noch spielen: da sehe ich eher schwarz. Sie selber womöglich auch, und das könnte ein Grund dafür sein, dass sie sich so hartnäckig gegen eine Kultur der Digitalität wenden. Weil sie (und ihre Arbeitgeber*innen und ihre Ausbilder*innen) intuitiv realisieren, dass Lehrsysteme mitsamt den Angeboten, Funktionen und Aufgaben, die sie heute erfüllen,
erstens für lernende Menschen womöglich gar nie wirklich gebraucht wurden, weil all das, was sie didaktisch und methodisch zaubern, Menschen eher von ihrem Lernen abhält als es sie je hätte (hätte Fahrradkette) darin fördern können;
und weil sie merken, dass solches Expertentum in der kulturellen Zukunft nicht mehr gefragt sein wird.
Und was brauchen wir jetzt?
Was es womöglich noch viel mehr brauchen wird, sind Menschen, die eine Ahnung haben von dem, was sich heute in Fächern und Lehrplänen versteckt – aber nicht in dieser Form: Kein Lehrplan und kein Fach kann formal oder inhaltlich mithalten mit dem, was im Internet qualitativ zu finden ist, wenn ich zu suchen weiß. Fächer und Lehrpläne sind bereits heute eine ganz und gar anachronistische Form der Wissensorganisation. Für das Gestalten individueller Lernprozesse taugen sie nicht.
Es braucht womöglich Menschen, die für ihr Anliegen und ihre Sache brennen, die es lieben mit jungen Menschen unterwegs zu sein auf Lernexpedition in eine Welt, in der wir uns gerade auf technologischen Wegen riesige Möglichkeiten und Freiheiten erschaffen, um gemeinsam immer weiter auf Entdeckungstour zu sein – mit der Frage im Gepäck, wie wir das alles nachhaltig und menschlich nützen. Das weiß kein Lehrplan, der ja zukünftig bereits in dem Moment veraltet ist, in dem er ratifiziert wird.
Es braucht Menschen, die all den pädagogisch-methodisch-didaktischen Schnickschnack eines durchstrukturierten Command-and-Control-Systems hinter sich gelassen haben. Die stattdesssen häufiger mal tief ein- und wieder ausatmen, und die dann einfach da sind, wenn junge Menschen auf sie zukommen, weil sie auf ihrer Expedition in die Welt festgestellt haben, dass sie jetzt einen Experten brauchen. Oder eine Expertin. Sehr konkret, aktuell, situativ.
Und natürlich wird jetzt der eine oder andere sagen: Genau! Solche Lehrer brauchen wir! Und ich sage dir: Wir brauchen sie nicht. Denn Lehren gehört einer Kultur an, die tot ist. Aus und vorbei – und leider sind es bis heute vor allem jene, die hauptberuflich mit Lehren beschäftigt sind, die diesen radikalen Kulturwandel noch nicht einmal bemerkt haben. Deshalb halten sie so kraftvoll und manchmal auch verbissen daran fest, dass es das Lehren und den Lehrer in alle Zukunft brauchen wird. Dabei ist es ein Beruf, der der Kultur der Digitalität zum Opfer gefallen ist.
Da kommen jetzt nicht andere Aufgaben und Funktionen auf den Beruf der Lehrerin und des Lehrers zu. Der Beruf verschwindet. Wenn Flugzeuge von Maschinen geflogen werden, ändert sich nicht der Beruf des Piloten, und wenn Maschinen operieren, verändert sich nicht der Beruf der Chirurgin. Es braucht dann diese Berufe nicht mehr. Es entstehen andere und neue.
Das wird ja seit einiger Zeit rauf- und runtergebetet angesichts der Digitalen Transformation. Es mag halt keineR so richtig glauben. Am wenigsten die Angehörigen der Berufe, um die es geht. Niemand sieht freiwillig dabei zu, wie sein oder ihr Beruf verschwindet. Und doch würde ich allen, die sich da aktiv auf den Weg machen wollen, ans Herz legen: Geht davon aus, dass ihr tatsächlich einen neuen Beruf erlernt und nicht den alten irgendwie anders gestaltet.
Der vielbejammerte Lehrermangel ist keiner. Ebensowenig wie z.B. der Priestermangel in der katholischen Kirche. Es gibt davon immer weniger, weil diese Berufe aussterben. Es gilt also auch nicht, „den Lehrerberuf neu zu erfinden“. Wir sollten das akzeptieren und möglichst heute anfangen, uns entsprechend zu organisieren. Auch und gerade als Lehrer.
Start to connect now. Start unschooling yourself and your kids. Every kid. Get out of the position of being talked down to. Start taking ownership of your own learning path. Make that switch from being a passive to an active learner. Unlearn – to be able to engage yourself in learning again. Become an actor instead of a spectator in your own education.
No school classes, no division into age groups, no subjects, no classrooms, no lessons, no periods, no school bell, no tests, no grades. No instructions as to what or which content they should learn by when. Instead, without exception, young learning people being supported day by day in taking ownership for their own learning and growth.
For this purpose they get all human and personal support from other people in the learning community and from those who are connected from „outside“. It is strictly about the young people discovering and developing their own strengths, interests and potential. The learning environment provides them with everything they need to do this. Including the most important social tool called collaboration, the care for themselves and others, and again: undivided interest in their growth. These are some of the differences that Learning People experience at Learnlife every day.
And this works perfectly. Not only at Learnlife in Barcelona but in many learning communities around the globe, which have radically abandoned a discarded a meaningless school system to focus on the empowerment and future of young people.
And if you want to discuss this with traditional teachers, school principals or education policy makers, you quickly realize: it’s easier to nail a pudding to the wall than to find a trace of imagination inside them, any spark of curiosity that might outshine their immediate concern. They cling to what they are used to see, to think, to do and consider normal. They cannot relate to what exists outside their self-contained frame of reference in terms of development, challenge and excellent solutions.
They insist that all truly innovative and novel models, approaches and practices of learning and education are and remain incompatible with what their system does and has to do – and then they will continue to put all their energy transferring the old, completely dysfunctional school system into digital space – e.g. during the upcoming second corona wave – eagerly dressed up by digital toys.
Joining the resistance
They will never give up the power of control that makes their job what it is – until we stop giving them our kids. Try that. Start a research. Look out for people of all age and background around the world. People who create and have created fascinating learning communities: beyond the inhuman pressure of grades and merit, beyond the reproduction of a culture and an ideology of humankind that alienates even children from themselves and their possibilities on the excuse that they have to be educated.
Start to connect now. Start unschooling yourself and your kids. Every kid. Get out of the position of being talked down to. Start taking ownership of your own learning path. Make that switch from being a passive to an active learner. Unlearn – to be able to engage yourself in learning again. Become an actor instead of a spectator in your own education.
From this moment you start automatically to make all this possible for kids – and we all together start changing this fading world.
Sam, Christopher, Maria and Devin on the challenges of the learnlife project.
Sei es mit Blick auf zukünftige Formen des Zusammenlebens, auf Prozesse der Bildung, des Wirtschaftens und der politischen Entscheidungskultur: deren Qualität eröhen wir in dem Maße, als wir die Erkenntnis kultivieren, dass sich der Wert einer Gemeinschaft zuerst daran misst, wie sie den Wert und die Bedeutung jeder und jedes einzelnen Wesens in ihr zu schätzen und zu schützen weiß.
Nicht nur in der Sozialen Arbeit oder in Erziehung und Schule hat Partizipation einen prominenten Platz im Wappen. Auch in den Diskussionen um New Work geht es um den Übergang von „Command & Control“ zu Kulturen des Teilgebens, der Mitbestimmung, der geteilten Verantwortung.
Fotos: pixabay
Das Paradox dabei: Wenn eine hierarchische Organisation darüber nachdenkt, ob sie auch partizipativ funktionieren möchte, kann sie darüber zum einen nicht partizipativ entscheiden, sondern nur hierarchisch. Die „Linie“ stimmt zu oder lehnt ab. Zum anderen ist diese Art der Partizipation, wenn sie denn von der Organisation zugelassen wird, eine Partizipation an hierarchischen Strukturen. Das ist die gängige Praxis von Partizipation.
Es gibt sie allerdings auch anders: als fundamentales Merkmal einer Organisation. Originär demokratische und originär soziokratische Schulen funktionieren zum Beispiel so. Sie haben sich selbst als fundamental partizipative Struktur erfunden und funktionieren aus bewusster Entscheidung zu keinem Zeitpunkt hierarchisch.
Stick and Carrot, oder: Wir machen auf partizipativ
Ein Beispiel für Partizipation in hierarchischen Kulturen: Konkrete Bildungsarbeit in einer Schule kann durchaus partiell partizipativ designt sein, ohne das Hierarchieprinzp zu berühren. Etwa wenn Partizipation als Methode der Unterrichtsgestaltung und -durchführung zum Einsatz kommt. Dann „dürfen“ Schüler:innen z.B. mitbestimmen, welche didaktischen Formate („Wollt ihr Gruppenarbeit?“) aus einer zuvor von der Lehrperson bzw. von der Schulleitung getroffenen Auswahl zur Anwendung kommen können. Ein anderes Beispiel für diese Art der Partizipation ist es, wenn Schüler:innen darüber mitentscheiden „dürfen“, anhand welcher inhaltlichen Schwerpunkte Lehrplan-Einheiten (über die sie nicht entscheiden) „durchgenommen“ werden.
Manchmal erstreckt sich diese Form der Partizpiation auch über den Unterricht hinaus, und Lernende dürfen dann z.B. darüber mitbestimmen, zu welchen Zeiten die Mikrowellengeräte zum Aufwärmen der mitgebrachten Speisen verwendet werden können – solange sich die Vorschläge der Schüler:innen außerhalb der Kernunterrichtszeiten bewegen: „Wo kämen wir denn hin, wenn die jedes Mal essen würden, wenn sie Hunger haben?“
Partizipation meint hier eine Auswahl aus vorgegebenen Möglichkeiten, die von der hierarchischen Struktur vorgeschlagen und kontrolliert werden, ohne diese Struktur selbst zu tangieren. Mehr noch: Solche partizipativen Elemente können jederzeit durch die Hierarchie angepasst oder zurückgenommen werden, z. B. wenn sich zeigt, dass sie ihr gefährlich werden könnten (oder aus irgendeinem anderen Grund).
Die Absicht hinter solchen Partizipations-Häppchen: Schüler:innen über die Methode „stick & carrot“ einen Motivationsschub verpassen: „Ihr dürft auch mitreden“ (in der Grafik die Position links unten).
Ähnlich verhält es sich dort, wo nicht Schüler:innen sondern Mitarbeiter:innen durch partizipative Elemente eingeladen werden, die ansonsten gleichbleibenden Prozesse und Aufgaben „partizipativer“ zu erledigen. Das während des Corona Shutdowns auf hoher Flamme gekochte Phänomen des „Homeoffice“ ist dafür ein Beispiel.
Die nächste Stufe der Simulation
Eine nächste Möglichkeit, um Partizipation – jetzt auf höherem Niveau – zu simulieren (in der Grafik unten rechts), ist deren explizite Thematisierung: Wir laden zum kommenden „jour fixe“ zwei Referent:innen ein, die kontrovers über das Phänomen der Partizipation sprechen. Wir vertiefen das Thema anschließend in Workshops und enden mit einem Panel.
Als Schule würden wir hier so vorgehen, dass wir Partizipation in den entsprechenden Fächern – oder fächerübergreifend – thematisieren, diskutieren und anschließend prüfen oder nicht. Wobei die Prüfungsrelevanz (bei Mitarbeitenden analog dazu die Gehalts- oder Karriererelevanz) den Stellenwert eines Themas erheblich steigert (siehe in der Grafik die Position unten links).
Hierarchie als Naturprinzip: „Homo homini lupus“
Nach allem, was ich in den letzten 20 Jahren gelesen habe zu Organisationsentwicklung, lernender Organisation, zum Lernen von Menschen und Systemen, funktoniert alles, was lebt, nach Prinzipien der Selbstorganisation.
Wenn das soweit zutrifft, ist Hierarchie und die Partizipation an ihr womöglich eine Spielart von Selbstorganisation, mit der sich lebende Systeme selbst organisieren. Hierarchie als Struktur wäre dann mitsamt ihren Prozessen nicht das Gegenteil von Selbstorganisation, sondern ein möglicher, sich geschichtlich gesehen erst spät entwickelnder Ausdruck von ihr, wie ich dem Buch „Im Grunde gut“ von Rudger Bregman entnehme. Er entdeckt das Hierarchie-Prinzip erst in einer späten Phase menschlicher Entwicklung. Ist Hierarchie also sogar ein „kultureller Evolutionsgewinn“? Oder hilft doch ein Blick auf die nichtmenschliche Tierwelt weiter?
Wolfsrudel funktionieren ja als Wolfsrudel nur, weil sie sich in streng hierarchischen Formationen (selbstorganisiert) organisieren. Die Kontinuität, sprich das Überleben eines solchen Rudels wird in kritischen Zeiten nicht dadurch gewährleistet, dass seine Hierarchie durch holokratische Zirkel abgelöst wird, sondern durch einen Machtwechsel an der Spitze.
Doch zu früh gefreut (oder geärgert), denn der Wolf kann sich nicht für oder gegen eine Form entscheiden, wie er sich und seine Rudel organisiert. Auch können wir Phänomene des nichtmenschlichen Tierreichs nicht auf kulturelle Phänomene des Menschen übertragen – wie es z.B. der überzeugte Fleischesser auf der Suche nach Argumenten gegen den Veganismus versucht: „Tiere fressen doch auch Fleisch“. Und womöglich schlummert hier auch ein naturalistischer Fehlschluss, denn die Tatsache, dass Hierarchien in welcher Natur auch immer existieren, ist nicht gleichzusetzen mit der Schlussfolgerung, dass wir deshalb danach zu leben haben bzw. funktionale Differenzierung nur in Form von Hierarchien zu denken hätten.
Fehlt ein Teil des Ganzen, ist es ein anderes. Kommt ein neues hinzu: auch
Was also kann dann Partizipation noch sein? Ich kann sie, wie beschrieben, so verstehen, dass Menschen (1) an etwas teilhaben, das auch ohne sie existiert. Wie bei einer Herde etwa. In dieser Sichtweise spielt die Frage, ob ich bei einer Firma mitarbeite oder Teil einer Schulklasse bin, für deren Existenz, Funktionalität und Identität keine Rolle. Mein Fehlen ist nicht relevant für das System. Jede:r ist ersetzbar.
Auch wenn ich „kulturelle Teilhabe“ so verstehe, spielt es für die Kultur selbst keine Rolle, ob ich an ihr partizipiere oder nicht. Die Partizipation (Teilnahme) eines individuellen Menschen (ich als Mann, du als Frau, als Migrantin, als Schüler) oder einer Gruppe von Menschen ist für das kulturelle System, an dem sie teilhaben, weder existenziell noch wesentlich. Würden sie fehlen, fehlten sie nicht.
Ich kann Partizipation aber auch (2) so verstehen, wie es in der simplen Grafik vom Puzzle zum Ausdruck kommt: Fehlt ein Teil, ist das Ganze unvollständig. Egal an welcher Stelle des Ganzen – und auch ganz ohne Hierarchie. Doch auch hier bin ich als Einzelne:r noch immer „Element“, sprich: ich kann heraus- und wieder hineingerechnet werden.
Noch einmal anders (3) sieht die Sache mit der Partizipation aus, wenn durch deine und meine An- oder Abwesenheit dasjenige, woran wir partizipieren oder eben nicht, ein anderes wird. Nicht einfach unvollständig wie ein Puzzle, sondern anders. Wenn sich die Funktionalität, das Wesen, die Gestalt einer Familie, einer Schulkasse oder eines Teams von Grund auf verändern, wenn sie also eine neue Identität erhalten – allein dadurch, dass du partizipierst oder nicht. Diese Perspektive auf Partizipation verdanke ich dem Philosophen Heinrich Rombach und seiner „Phänomenologie der Freiheit“, die mich sehr geprägt hat.
Ich bin davon überzeugt, dass nur diese dritte Auffassung von Partizipation unserem Menschsein gerecht wird: uns als Individuen und als Gemeinschaften – alles Nichtmenschliche in der Natur eingeschlossen. Erst auf diesem Weg der Anerkennung der prinzipiellen und unvorhersehbaren, nicht plan- und nicht bestimmbaren Selbstorganisation alles Lebendigen können wir jene Rahmenbedingungen schaffen, die dem Wesen alles Lebendigen zu Grunde liegen: Entfaltung, Individuation, Verwirklichung eines Eigenen als unverzichtbares Glied einer kulturellen Gemeinschaft.
Deshalb plädiere ich dafür, Partizipation nicht mehr als Teilhabe an und Weitergabe von Kulturen, Traditionen und Routinen zu verstehen – wie das Weiterreichen von mit Wasser gefüllten Eimern in einer Löschkette.
Sei es mit Blick auf zukünftige Formen des Zusammenlebens, auf Prozesse des Lernens und der Bildung, des Wirtschaftens und der politischen Entscheidungskultur: deren Qualität eröhen wir in dem Maße, wie wir (wieder oder erstmals) die Erkenntnis kultivieren, dass sich der Wert einer Gemeinschaft zuerst daran misst, wie sie den Wert und die Bedeutung jeder und jedes einzelnen Wesens in ihr zu schätzen und zu schützen weiß.
Und was hat das jetzt mit Hierarchie zu tun? Womöglich eben nichts. Umso tragischer wäre es dann, dass wir uns an sie klammern.
Wenn Schule von Grund auf und als System die eigene Vorläufigkeit und Fehlbarkeit erkennt und anerkennt, wenn sie zulässt, dass sie in offenen Diskursen folgenschwer auf ihre Demokatiefähigkeit hin abgeklopft wird, wenn sie praktisch und pausenlos unter Beweis stellt, dass und wie sie jungen Menschen Angebote macht, die sie dabei unterstützen, demokratieaffin und demokratiefähig zu werden, wenn sie Reziprozität in ihr Selbstverständnis als bildende Institution eingeschrieben hat, und wenn jeder Mensch ganz grundsätzlich auch „Nein“ zu ihr sagen kann, dann ist sie als Schule auf dem Weg in eine demokratische Zukunft, die sie damit auch ganz fundamental ermöglicht – zusammen mit denen, die sie wollen.
Dieser Satz lässt mindestens zwei Deutungen zu. Ich kann ihn so interpretieren, dass die Schule unverzichtbar ist und in einer etwas altmodischen Lesart so, dass sie nicht fehlbar ist. Wie der Papst in Glaubensfragen. Zusammengenommen führen beide Deutungen in die Selbstreferenzialität jeder Argumentation über die Notwendigkeit von Schule. Sie bilden jene Voraussetzung, über die in den endlosen Diskussionen über Schule nicht noch einmal nachgedacht wird oder diskutiert. Wo und wann auch immer über Schule gesprochen wird, gilt unausgesprochen: Sie kann nicht fehlen. Was auch immer sie falsch macht – fehlen kann sie nicht.
Die unkontrollierte Kontrolle
Kein anderes kulturelles System ist in seiner Existenz wie in seiner Pragmatik so gründlich von der Reziprozität der Kontrolle ausgenommen, wie die Schule. Wann immer Schule in den Fokus von Kontrolle gerät, sind die Kontrolleure in irgendeiner Form selber Teil des Schulsystems.
Nirgendwo sonst (?) gibt es in demokratischen Gesellschaften ein System, das nichts anderes tut, als Menschen in seine Gegenwart zu zwingen, um sie zu bewerten und zu beurteilen, ohne selbst in diesen Kernprozessen von unabhängigen Instanzen bewertet und beurteilt zu werden, denn: Schule kann nicht fehlen. Sie ist „infallibel“, indem sie nicht nur auf normativer, materialer und struktureller Ebene selbstreferenziell darüber bestimmt, was sie tut, wie sie es tut und wie sie es richtig tut. Vielmehr (re-)produziert sie auf dieser Basis das Narrativ ihrer Unverzichtbarkeit (Alternativlosigkeit), also die erste angenommene Bedeutung von „Schule kann nicht fehlen“.
Verrückte Welt: Wo wir vor allem in D-A-CH pausenlos um Themen wie Privatsphäre, Datenschutz und den digitalen Kontrollverlust streiten, leisten wir uns eine Schule, in der junge Menschen ein einseitiges und absurdes Verständnis von Kontrolle entwickeln, weil sie in der Schule täglich damit konfrontiert sind und aufwachsen: mit einem einseitigen Command & Control Setting.
Schule ist nicht undemokratisch, sondern nicht-demokratisch
Das demokratische Prinzip lebt davon, dass es sich selbst nicht abschaffen kann. Deshalb unterliegen Parlamente und Regierungen einer regelmäßigen Kontrolle durch den Souverän, der auch eine Sie ist. Dieses Kontrollprinzip gilt nicht für Schule. Die demokratische Legitimierung ihres Handelns endet auf der Schwelle.
Auf dieser Basis realisiert und reproduziert Schule mentale und soziale Rahmenbedingungen, die dem Demokratieprinzip im Kern widersprechen. Im Vollzug ebenso wie in Struktur und Kontrolle. Sie ist ein nicht-demokratisches System, kein undemokratisches. Letzteres wäre sie, wenn sie schlechte Demokratie praktizieren würde, wie das z.B. Regierungen und Parlamente regelmäßig tun. Schule hingegen ist, was auch immer sie tut, nicht-demokratisch konstruiert. Sie unterliegt keiner demokratischen Legitimation, nur ihrer eigenen, die eine bürokratische ist. Als Schüler*in kann ich dieses System nicht verlassen. Herausgeholt werden von mündigen Eltern kann ich auch nicht, denn entscheidende Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger sind durch die Schulpflicht ausgesetzt – wie sonst nur noch im Militär oder im Gefängnis.
Wir suchen derzeit händeringend nach Gründen und Zusammenhängen dafür, warum Demokratie merkwürdig dysfunktional erscheint und für sehr viele Menschen (links und rechts) gefühlt wirkungslos. Ein ganz offensichlicher Grund liegt für mich hier: In der Schule lernen wir durch den Rahmen und die Art, wie wir dort lernen, das Gegenteil von Demokratie als Funktionsprinzip sozialer Interaktion kennen und akzeptieren. Weil Schule von ihrer Wurzel her nicht-demokratisch ist, prägt sie am Fließband Haltungen, die vieles sind – außer demokratisch.
Was bedeutet für dich „demokratisch“?
Für mich bedeutet es, willens, motiviert und in der Lage zu sein, in diskursiven Prozessen und unter freiem Einsatz des eigenen Verstandes daran interessiert und darum bemüht zu sein, die Frage nach dem „Demokratischen“ gemeinsam und immer besser zu beantworten. Es bedeutet, sich dafür einzusetzen, dass dieser Diskurs so offen und heterogen wie möglich geführt werden und lebendig bleiben kann. Das ist für mich die Bedeutung von „demokratisch“, inklusive der auf diesem Weg immer wieder neu anzugehenden Klärung und Schärfung der Begriffe „freiheitlich“ und „rechtsstaatlich“ – dies alles unter Bedingungen, die das, was wir darunter verstehen, mindestens im Ansatz schon garantieren. Wobei in meiner Vorstellung von „demokratisch“ Bedingungen nichts gegebenes sind. Sie entstehen erst dadurch, dass wir sie forlaufend schaffen und reflektieren.
Diese Haltungen und Prozesse abzubilden und konsequent zu praktizieren, Menschen dabei zu unterstützen, diese Haltungen und Prozesse zu verstehen, sie zu verinnerlichen (Haltungen) und zu führen (Prozesse) – das ist in meinen Augen erste Pflicht und Aufgabe von Schule in sog. demokratischen Gesellschaften. Das Gegenteil wird heute praktiziert.
Wie Schule demokratisch wird
Woran ich erkenne, dass Schule auf dem Weg in eine demokratische Zukunft ist, und diese Zukunft auf diesem Weg ermöglicht – zusammen mit denen, die so eine ZUKUNFT wollen?
Wenn Schule als System ihre Vorläufigkeit und Fehlbarkeit erkennt und anerkennt, wenn sie sich vorbehaltlos einlässt auf die Begegnung und Auseinandersetzung mit allen Kräften, die Demokratie herausfordern und gestalten, wenn sie zulässt, dass sie in offenen Diskursen folgenschwer auf ihre Demokratiefähigkeit hin abgeklopft wird, wenn sie praktisch und pausenlos unter Beweis stellt, dass und wie sie jungen Menschen ECHTE Angebote macht, die sie dabei unterstützen, demokratieaffin und demokratiefähig zu werden, und wenn sie Reziprozität in ihr Selbstverständnis als bildende Institution eingeschrieben hat – und wenn jeder Mensch ganz grundsätzlich auch „Nein“ zu ihr sagen kann. Dann ist sie auf dem Weg.