Inklusive Schule vs. integrative Förderung. Versuch einer Klärung

Titelbild: DALL:E

Integrative Förderung steht schweizweit in der Kritik. Am Freitag, den 16. August 2024 erschien in den Schaffhauser Nachrichten ein Artikel zur Thematik, der sich in den Chor der Ablehnung einreiht. Der erste Abschnitt dieses Artikels spiegelt bereits all jene Vorurteile, Verkürzungen und Polemiken, die das Thema Inklusion vor sich hertreiben:

Als Schulentwickler in der Stadt Schaffhausen ist es mir ein Anliegen, mit einer differenzierenden Klärung der Falschaussagen, Verwechslungen und Polemiken zu antworten – unterstützt durch die KI ChatGPT.

Warum es bei der integrativen Förderung nicht um „Störenfriede“ geht

Es ist unangemessen, Menschen, die heilpädagogische Unterstützung benötigen, als „Störenfriede“ zu bezeichnen. Der Begriff „Störenfried“ suggeriert, dass jemand absichtlich Unruhe stiftet oder die Ordnung stört. Diese Zuschreibung verkennt jedoch die Bedürfnisse und Herausforderungen von Menschen, die auf heilpädagogische Unterstützung angewiesen sind.

Verhaltensweisen, die bei Menschen mit heilpädagogischem Förderbedarf auftreten, sind nicht das Resultat bewusster Störung, sondern Ausdruck ihrer Entwicklungsbedürfnisse oder spezifischer psychischer, kognitiver oder emotionaler Herausforderungen. Der Begriff „Störenfried“ stigmatisiert diese Menschen und lenkt den Fokus auf das Verhalten statt auf dessen Ursachen und die notwendige Unterstützung.

Heilpädagogik zielt darauf ab, Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern und ihnen zu ermöglichen, ihr Potenzial zu entfalten. Das erfordert Verständnis, Empathie und eine wertschätzende Haltung gegenüber ihren individuellen Bedürfnissen. Die Verwendung des Begriffs „Störenfried“ ist daher nicht nur unangemessen, sondern trägt auch zur sozialen Ausgrenzung bei und verstärkt Missverständnisse.

Durch diese Rhetorik werden die Kernanliegen von Inklusion torpediert und die Probleme, zu deren Lösung sie eigentlich antritt, werden bewirtschaftet.

Warum der Vergleich zwischen einer Schulklasse und einer Fußballmannschaft irreführend ist

Der Vergleich einer Schulklasse mit einer Fussballmannschaft, in der ein 5.-Liga-Spieler mit einem Nationalspieler aufläuft, ist irreführend. Er basiert auf der Annahme, dass schulische Leistungen oder Verhalten linear messbar und vergleichbar sind wie sportliche Fähigkeiten. Doch diese Analogie verkennt den wesentlichen Unterschied zwischen Schule und Leistungssport.

In der Schule steht nicht der Wettbewerb im Vordergrund, sondern Bildung, Entwicklung und Chancengleichheit. Anders als in einer Fussballmannschaft, in der eine klare Leistungsdifferenz problematisch wäre, ermöglicht die Schule durch differenzierten Unterricht und individuelle Fördermassnahmen allen Kindern, auf ihrem jeweiligen Niveau zu lernen.

Das Bildungssystem ist keine Wettkampfarena, sondern ein Raum des gemeinsamen Lernens.

Der Vergleich mit einer Fussballmannschaft simplifiziert die Situation der schulischen Inklusion grob und verfehlt das eigentliche Ziel: die pädagogische Unterstützung und Förderung aller Kinder. Der Fokus sollte nicht auf vermeintlichen Leistungsunterschieden liegen, sondern auf den Chancen und Vorteilen, die eine inklusive Bildung für alle Beteiligten mit sich bringt.

Eine persönliche Bemerkung

Die Schulforschung u.a. von Prof. Dr. Katharina Maag Merki von der Universität Zürich zeigt, dass das Schweizer Schulsystem durch seine Tendenz zur Separation Schülerinnen und Schülern nicht angemessen fördert. Jugendliche, die das Potenzial für das Gymnasium haben, landen nach wie vor in der Sek C oder in der Realschule (wo es die noch gibt), während andererseits Schüler:innen ins Gymnasium versetzt werden, obwohl sie dort überfordert oder am falschen Platz sind.

Der Vergleich zwischen der ersten und der fünften Fussballliga verdreht also auch hier die Fakten, denn es ist momentan gerade das auf Separation ausgelegte System, welches – in der unangebrachten Bildsprache des Autors – Fünftliga-Spieler in der ersten Liga platziert und umgekehrt.

Auf die Frage, warum hier trotz der überwältigenden Forschungsergebnisse im Schulsystem kaum Entwicklungen greifen, antwortet der Berner Professor und Bildungssoziologe Rolf Becker im Kontext der TREE-Langzeitstudie:

„Es gibt in der Schweiz schlicht kein echtes Interesse daran, die Ungleichheiten aufzuheben“. Hinzu komme, dass Massnahmen oft konterkariert würden. Das bedeutet: Wenn Kinder aus Elternhäusern mit tieferer Bildung explizit gefördert würden, könne es sein, dass Akademikereltern für ihre Kinder einfach noch mehr machten. (Quelle)

Deshalb ist die folgende Unterscheidung auch so wichtig – umso mehr, als nicht nur der Autor des hier reflektierten Artikels sie nicht wirklich macht:

Was ist „integrative Förderung“ und was ist „Inklusion“

  • Integrative Förderung bezieht sich auf Massnahmen innerhalb des bestehenden Schulsystems, um Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu unterstützen. Diese Kinder verbleiben in der Regelklasse, erhalten jedoch punktuelle oder gezielte Unterstützung.
  • Inklusion hingegen ist ein umfassenderes Konzept. Es zielt darauf ab, alle Menschen von Beginn an gleichberechtigt in alle gesellschaftlichen Bereiche einzubeziehen. Im Bildungssystem bedeutet dies, dass das Schulsystem so gestaltet wird, dass alle Kinder unabhängig von ihren individuellen Bedürfnissen am Unterricht teilnehmen können, ohne separat behandelt zu werden.

Der zentrale Unterschied zwischen diesen beiden Modellen besteht darin, dass die inklusive Schule das gesamte System an die Vielfalt der Lernenden anpasst, während die integrative Schule von einem Standardsystem ausgeht, in das Schüler mit besonderen Bedürfnissen integriert werden.

Inklusion basiert auf den Werten Gerechtigkeit, Diversität und Teilhabe. Ausgehend von der UN-BehindertenRechtsKonvention, die 2006 verabschiedet wurde, und die auch in der Schweiz die rechtliche und ethische Basis für die Diskussion über Inklusion in Schulen darstellt, bedeutet Inklusion:

Ein Schulsystem wird transformiert, um Barrieren abzubauen und allen Lernenden gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen.

Die Schul- und Bildungsforschung in der Schweiz legt seit mehreren Jahrzehnten die Schlussfolgerung nahe, dass „separative Beschulung“ zu diesen Barrieren zählt.

Integration wiederum baut solche (Schul-)Barrieren nicht ab. Vielmehr unterstützt sie Lernende durch „integrative Förderung“, damit diese die (Schul-)Barrieren besser überwinden, und am bestehenden Schulsystem teilhaben können.

Durch „integrative Förderung“ wird Schule also weder gerecht noch divers, noch wird sie inklusiv. Sie bleibt, was sie ist und hat zusätzlich integrative Förderung im Angebot.

Ein kurzer Videoausschnitt (37 Sekunden) mit der amerikanischen Forscherin und Autorin Brené Brown zeigt die unterschiedlichen Wertehorizonte hinter den beiden Ansätzen:

Quelle

Warum Inklusion kein „hehres Ideal“ ist

Der im Zeitungsartikel verwendete Ausdruck „hehres Ideal der Inklusion“ suggeriert, dass Inklusion ein unrealistisches oder utopisches Konzept sei. Tatsächlich ist Inklusion jedoch ein Menschenrecht, das in internationalen Abkommen wie der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben ist.

Die Umsetzung von Inklusion ist in vielen Ländern bereits weit fortgeschritten, auch wenn Herausforderungen bestehen. Es ist daher weniger eine Frage des „Scheiterns an der Realität“, sondern vielmehr eine Frage der Anpassung struktureller, personeller und finanzieller Rahmenbedingungen.

Die unscharfe Verwendung von Begriffen wie „Inklusion“ und „integrative Förderung“ führt zu Missverständnissen und emotionalisiert den Diskurs unnötig. Kritik sollte klar und differenziert formuliert werden, um konstruktiv in die Diskussion eingebracht zu werden.

Heterogenität und Diversität als das neue Normal von Lebens- und Lernwelten

Heterogenität und Diversität betreffen nicht nur das Verhalten von Individuen, sondern auch Familiensysteme, Lebenswelten, Berufs- und Arbeitswelten sowie soziale Durchmischung in Wohnvierteln. Das Schulsystem jedoch hält im Hintergrund weiterhin an einem Paradigma von Homogenisierung fest („Nadelöhr“), das nicht mehr den gesellschaftlichen, den ökonomischen und den individuellen Realitäten entspricht – wie immer und immer wieder durch Forschung bestätigt wird.

Der grösste Stolperstein für eine inklusive Schule besteht darin, dass traditionelle Schule davon ausgeht, dass alle Kinder und Jugendlichen in ein bestimmtes Normsystem von Schule integriert werden müssen („integrative Förderung“) und können. Wenn dies aufgrund individueller Eigenschaften oder Verhaltensweisen scheitert, müssten sie als „Störenfriede“ vom regulären System separiert werden.

Das Verhalten von Schüler:innen wird isoliert betrachtet. Die Kontextbedingungen geraten in den Hintergrund. Dabei ist es immer auch der Kontext, der Verhaltensweisen hervorbringt.

Diese Sichtweise verschiebt ein komplexes Problem auf die individuelle Ebene und macht es damit unbearbeitbar. Es wird für alle Beteiligten grösser, wie die im Artikel erwähnte Studie zur Berufszufriedenheit der Lehrpersonen in der Schweiz (Link unten 👇) eindrücklich dokumentiert.

Mit dieser Variante von „Komplexitäts-Reduktion“ wird Schule unseren komplexen Lebenswelten nicht mehr gerecht. Noch vor wenigen Jahrzehnten konnten Schüler:innnen und ihre Heimatsysteme die Anforderungen des linearen und auf Separation fussenden Schulsystems (vermeintlich?) besser bewältigen. Heute fehlen allen Beteiligten dafür die Ressourcen – auch den Lehrpersonen.

Das Schulsystem muss sich an die Lebensrealitäten jener Menschen anpassen, die in Schule involviert sind – nicht umgekehrt. Das ist Anliegen und Ziel von Inklusion.

Hier zur Info der gesamte Artikel:

Die im Artikel erwähnte aber dort nicht zitierte, vom LCH in Auftrag gegebene Studie zur Berufszufriedenheit von Schweizer Lehrpersonen findest du hier. Ein vertiefender Blick in diese Studie lohnt sich sehr, weil sie die Belastungs-Situation von Lehrpersonen differenziert abbildet.

Mehr zur im Artikel erwähnten aber dort nicht zitierten Eugster-Studie findest du hier.

Ohne Lehrpersonen keine Schule

Der demographisch bedingte Fachkräftemangel wird die Schulen besonders hart treffen bis zu Beginn der 30er-Jahre. Die Pensionierungswelle wird in den Schulen in den nächsten Jahren besonders hoch ausfallen, weil hier überdurchschnittlich viele Angehörige der “Boomer-Jahrgänge” beschäftigt sind.

Die Konkurrenz um Arbeitskräfte

Gleichzeitig steht Schule als Arbeitgeberin in einem realen Konkurrenzkampf nicht nur und nicht erst um Arbeitskräfte, sondern zuvor schon auf dem Ausbildungsmarkt: Die Attraktivität des Lehrberufs macht sich ja nicht erst am Arbeitsplatz Schule fest, sondern bereits früher in der Art der Ausbildung.

Es geht also – wie in anderen Branchen auch – nicht einfach darum, “genügend junge Leute” aus diesem immer kleiner werdenden Kuchen für sich zu ergattern. Es geht zuerst um die Frage – wie in allen anderen Bereichen in Gesellschaft und Ökonomie auch:

Welche Berufs-Profile werden in Zukunft im Bildungsbereich z.B. der Volksschule benötigt, und wie kann bereits die Ausbildungsphase so gestaltet werden, dass sie als sinnvoll erlebt wird, und dass sie tatsächlich befähigt für einen Beruf, der den Anforderungen an Bildungsarbeit mit jungen Menschen im zweiten Drittel des 21. Jahrhunderts gerecht wird?

  • Was ist und was tut zeitgemässe Schule in den nächsten zehn bis 20 Jahren?
  • Was brauchen ihre Klient:innen und wie richtet sich Schule deshalb aus?

Erst anhand der Antworten auf solche Fragen lässt sich aufzeigen, welche wie ausgebildete Mitarbeitenden mit welchen Haltungen Schule dafür braucht, und wie sie diese ausbildet.

So kann zumindest von der Anbieterseite her gewährleistet werden, dass die immer weniger werdenden jungen Menschen, die auf den Arbeitsmarkt kommen, sich ein zutreffendes Bild von “Schule als Arbeitsort und Arbeitgeberin“ machen können.

Die Schüler:innen von heute und die Lehrpersonen von morgen

Nicht zu vernachlässigen ist dabei: Die “Lehrpersonen der Zukunft” gehen ja bereits heute zur Schule und werden dort geprägt in ihrem grundsätzlichen Bild und Verständnis von Schule.

Aktuell gibt es Stimmen, die sagen, dass auch die gegenwärtige Schule nicht mehr zeitgemäss sei.

Womöglich brauchen wir also schon heute Massnahmen in der Schulentwicklung, die relativ kurzfristig greifen, um Schule in die Gegenwart zu bringen.

Ansonsten stehen wir weiterhin vor dem Problem, dass alle jungen Menschen in unserer Gesellschaft in einem Schulsystem geprägt werden, das die Grundzüge aus dem 19. und 20. Jahrhundert trägt, wodurch sie dieses Grundverständnis von Schule und Bildung verinnerlichen.

Jene, die sich dann entscheiden, einen Beruf als Lehrperson zu ergreifen, stehen dann vor der Herausforderung, erst einmal diese fest verankerte Prägung durch die eigene Schulzeit als Kind und Jugendliche zu verlernen, statt bereits am eigenen Leib ein Design von Bildungsarbeit erlebt zu haben, das im 21. Jahrhundert angekommen ist.

Es gibt einiges zu tun.

Quelle

(Titelbild: ChatGPT)

Warum es keinen Lehrermangel gibt

Die Arbeit der Lehrenden ist das Lehren, und das bedeutet: Unterricht vorbereiten und durchführen. Anwesenheit kontrollieren und Verhalten sanktionieren. Prüfungen vorbereiten und durchführen. Sie korrigieren. Noten- und Zeugniskonferenzen vorbereiten und durchführen. Zeugnisse ausstellen. Da capo. So wurde es ihnen gelehrt.

Aus einer der unzähligen auf linkedIn ausgeschriebenen Stellen für Lehrpersonen. Die Aufzählung variiert in der großen Mehrheit praktisch nicht bis unwesentlich.

Auch wurde ihnen gelehrt, dass Lernen aus Lehren folgt. Deshalb können und dürfen sie nicht aufhören zu lehren – denn sonst wird nicht mehr (richtig, ausreichend, gut, befriedigend, sehr gut) gelernt.

Lernen wird an Lehren gekoppelt. Pädagogische Hochschulen und Publikationen sprechen und schreiben zwar bis heute hin und wieder vom „informellen Lernen“ – Unterschiede zwischen beiden werden in der Ausbildung zum Lehrberuf jeweils gelehrt und geprüft: „Zählen Sie auf, führen Sie Beispiele an“ –, doch formelles, qualifizierbares Lernen, so sagen Lehrende, ist an Lehren gekoppelt. Es wird durch Lehren qualifiziert.

Lernen ist weder formell noch informell

Lernen hingegen macht diesen Unterschied gar nicht. Nie und nirgends. Vom Lernen aus gesehen ist die Unterscheidung zwischen formellem und informellem Lernen sinnlos. Sie sagt aus der Perspektive des Lernens und damit aus der der Lernenden, also aus der Sicht von uns allen, nichts aus, weil das Lernen in beiden Fällen dasselbe ist.

Im Fall des „formellen Lernens“ kommt einfach „Lehren“ hinzu – ein Phänomen, mit dem jede und jeder von uns dann anders umgehen lernt.

Ob jemand mehr oder weniger, besser oder schlechter lernt, wenn gelehrt wird oder wenn nicht, oder wenn so oder anders gelehrt wird – das hängt nicht vom Lehren ab und auch nicht von der Lehrperson, sondern vom Lernenden und vom Lernen.

Und es ist auch nicht so, dass formelles Lernen auf „Käfige“ beschränkt ist und informelles Lernen nur „in Freiheit“ passiert, denn es ist in beiden Fällen dasselbe Lernen – wenngleich Lernen in Käfigen zu anderen (Käfig-)Haltungen führt als Lernen in freier Entfaltung.

Es ist auch nicht so, dass mir oder dir im Falle des formellen Lernens von Lehrenden, oder von irgendjemand etwas beigebracht würde, was wir uns im Falle des informellen Lernens selber beibringen würden, denn „Lernen“ bedeutet in erster Linie und im Kern:

Niemand kann mir oder dem Kevin oder Laura etwas beibringen – denn die können das nur selbst, egal ob jemand lehrt.

Die begeistert-begeisternde Lehrperson, von der immer wieder erzählt wird, dass und wie sie die Schulzeit interessant gemacht hat, hat uns dadurch nicht etwas beigebracht – und vielleicht war sie deshalb interessant, weil sie es gar nicht erst versucht hat. Wer weiss. Wir haben in ihrer Gegenwart etwas gelernt – doch was, das ging auf unsere Kappe. Mein Sitznachbar fand den Herrn Müller übrigens gar nicht so spannend wie ich. Er fand vielmehr: So ein Schwätzer.

Das Lernen ist immer das Lernen. Ob es in Klassenzimmern, Hör- und Lesesälen, Chatrooms, mit oder ohne VR-Brille oder am See stattfindet. Es ist als Lernen selbstbestimmt, selbstverantwortet, selbstorganisiert, selbstgesteuert und selbstreflektiert.

Fünf Gründe, warum Lernen kein Lehren braucht

(I) Eine Lehrperson kann mein Lernen nicht steuern, nur „ins Schlepptau nehmen“ – und es mir dadurch schwerer machen, selber zu steuern. Was ich dann da hinten lerne, entzieht sich allerdings dem Einfluss der Lehrperson, denn Lernen ist immer selbstgesteuert – auch im Schlepptau. Was ich dann vor allem lerne: im Schlepptau weiterhin selber zu steuern und nicht zu ersaufen. Das mache ich selbstredend selbstgesteuert (hier ein Blog Post dazu).

(II) LehrerInnen können mir auch nicht – durch welche didaktische Struktur auch immer – „mehr oder weniger Verantwortung“ für mein Lernen geben, weil die immer schon bei mir liegt. Anders als juristische Verantwortung kann sie beim Lernen nicht delegiert und damit auch nicht rückdelegiert werden. Lehrende verwechseln da etwas, wenn sie davon reden, dass sie „den Lernenden Verantwortung für deren Lernen geben“. Was Lehrende damit tatsächlich tun ist:

(III) Sie delegieren Teile ihrer Lehr-Verantwortung an Lernende und nennen das dann „selbstorganisiertes Lernen“. Doch was auch immer eine Lehrperson organisiert: Es ist nie mein Lernen, immer nur ihr Lehren: ihre Arbeit, ihren Unterricht.

(IV) Was auch immer eine lehrende Person reflektiert, wenn sie meine Prüfung bewertet: es ist keine Reflexion meines Lernens, denn das kann nur ich als (Obacht Buzzword) sein „Owner“. Und so gut wie immer reflektiere ich in und nach einer Prüfung ja gar nicht auf mein Lernen sondern darauf, wie gut ich Gelehrtes wiedergegeben habe, und wie ich das allenfalls noch besser wiedergeben könnte. Das ist etwas anderes als „mein Lernen reflektieren“.

Eine Lehrperson wiederum kann, wenn sie es kann, die Auswirkungen ihres Lehrens auf mich, die Klasse, auf die Prozesse in der Klasse reflektieren, und diese Reflexion fällt umso reichhaltiger aus, je mehr das eine wirklich gemeinsame Reflexionsarbeit ist – von Lehrenden und Lernenden auf ihre Wahrnehmungen. Das wäre mal eine echt neue Art zusammen zu lernen. Doch wie auch immer: mein Lernen reflektiert eine Lehrperson damit nicht. Höchstens ihres.

(V) Und zuletzt der vielleicht hartnäckigste Irrtum von allen: dass Lehrende Kontrolle hätten über mein Lernen: Lehrende können mein Lernen gar nicht kontrollieren. Auch nicht dessen Ergebnisse – u.a. deshalb, weil Lernen ein Prozess ist, und Prozesse haben nicht wirklich Ergebnisse. Prüfungen haben Ergebnisse oder Operationen. Prozesse haben höchstens diese und jene Verläufe. Ergebnisse haben Prozesse erst, wenn sie irgendwann aufhören, und Lernen hört ja erst auf, wenn ich tot bin. Dann wird eine Lernkontrolle wiederum recht anspruchsvoll.

Was Lehrende kontrollieren können, ist, wenn sie es können, wie Lernende Gelehrtes nach Massgabe Lehrender wiedergeben. Entweder exakt oder nach Massgabe Lehrender in variierten Formen.

Dafür ist KI jedoch mindestens so gut geeignet. Gerade dafür.

Sascha Lobo im Interview mit dem Tagesanzeiger am 17.7.2023

Die aktuell grösste Gefahr der Beschulungskultur

Die grösste Gefahr, die das traditionelle Beschulungssystem in erster Linie für lernende Menschen darstellt – und in zweiter Linie für unsere Gesellschaft, die dringend Menschen braucht, die sie gestalten, und für Unternehmen, die dringend Arbeitskräfte suchen, liegt hier:

Wir lernen in der Schule systematisch nicht, die Qualität und Brauchbarkeit all jener Informationen zu beurteilen, einzuschätzen und zu überprüfen, mit denen sie uns zuballert – und wir lernen stattdessen aktiv all das, was uns Schule als „Wissen“ präsentiert, zu akzeptieren, runterzuschlucken und korrekt (kommt von korrigieren) wiederzugeben.

Diese Praxis bleibt unhinterfragt.

Dadurch lernen wir zum einen nicht die wichtigste Kompetenz des Informationzeitalters: kritisches Erforschen und Beurteilen von Information, und zum anderen lernen wir, alles hinzunehmen, was uns als Wissen vor den Latz geknallt wird. Die Ergebnisse dieser Praxis sehen wir täglich auf Twitter, Telegram – und zunehmend auf linkedIn.

Wir entwickeln in der Schule ein Verhältnis zu Information, das uns zeitlebens die Beziehung zu Wissen verbaut.

(Und natürlich sagen mir Lehrer*innen dann empört: „Selbstverständlich lernen die bei uns kritisches Denken!“ Und ich sage: „Nein, tun sie nicht. Denn da ihr das – wie alles andere auch – benotet und anderweitig bewertet, ist die Grundfunktion Kritischen Denkens permanent ausser Kraft gesetzt, wie bei einer Lunge unter Wasser.“)

Ich kann es drehen und wenden, wie ich will: Es gibt vom Lernen aus gesehen keinen guten Grund, am Lehren festhalten. Denn Lernen, und damit das Entwickeln von Wissen und Kompetenz, benötigt kein Lehren – weshalb wir, wenn es wirklich ums Lernen geht, gar keinen Lehrermangel haben. Klar, aus der Sicht einer Schule, die junge Menschen mit Unterricht zu versorgen hat, fehlen eine Menge und immer mehr Unterrichtsversorgende.

Aber ums Lernen geht es da nicht. Es geht ums Lehren.

Deshalb hier nochmal ein Einblick in die Erfahrungswelt Lernender, die keine Lehrenden haben:

Oder gerne auch nochmal André Stern:

Dass wir nicht zur Schule gingen, bedeutet nicht, dass wir ohne Regeln gelebt hätten. Ich weiß nicht, warum viele glauben, dass ein Leben in Freiheit ein Leben ohne Regeln und Strukturen bedeutet.

Quelle

(Titelfoto des Blog Posts: KI generiert via MS bing: „Befreites Lernen in Gemeinschaft, Paul Klee“)

Den Fünfer und das Weggli

Titelbild: congerdesign auf pixabay

Das geht nicht – sagen die Schweizer*innen mit diesem Bonmot. Entweder du bekommst das Brötchen, oder du behältst dein Geld. Sowohl-als-auch funktioniert nicht. Doch ausser beim Bäcker ist die Überzeugung, dass beides geht, hierzulande sehr beliebt. Die Schweiz mag keine Extreme. Es sollte immer beides Platz finden – und das wird in dem Moment zum Problem, wenn es nur ein Entweder-Oder gibt.

Greta Thunberg schreibt in ihrem neuen Buch:

Manches ist durchaus schwarz oder weiß. Tatsächlich haben die Erde und die Gesellschaft Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Wir glauben beispielsweise, unsere Gesellschaften könnten ein bisschen mehr oder weniger nachhaltig sein. Aber langfristig können wir nicht ein bisschen nachhaltig leben – entweder wir leben nachhaltig oder nicht. Es ist, als ginge man über dünnes Eis – entweder es trägt das Gewicht oder nicht. Entweder man schafft es ans Ufer oder man bricht in tiefes, dunkles, kaltes Wasser ein. Und wenn uns das passieren sollte, gibt es keinen nahen Planeten, der uns rettet. Wir sind völlig auf uns allein gestellt.

Thunberg, Greta. Das Klima-Buch (S.34). FISCHER E-Books.

Wir glauben auch es reiche aus, Schule, Aus- und Weiterbildung ein wenig anders zu machen als früher und heute. In letzter Zeit vor allem „digital“. Fernunterricht ist da eine beliebte Vokabel, die anzeigt: Es ist und bleibt Unterricht. Einfach in die Ferne und aus ihr.

Die Situation ist paradox wie nie: Wir stecken in so „brutalen“ Entwicklungen und Veränderungen, ganz tiefgreifend und in vielerlei Kontexten unumkehrbar – und das Bildungssystem schenkt uns ergänzend zum Präsenzunterricht den Fernunterricht – also den digitalen Präsenzunterricht.

Im Kontext von Bildungsarbeit dreht sich das Diskussionskarusell pausenlos im Sowohl-als-auch-Modus: Wir wollen sowohl Unterricht als auch selbstorganisiertes Lernen. Wir sind sowohl Lehrer als auch Lerncoaches. Wir machen sowohl Fremdbeurteilung als auch Selbsteinschätzung, es gibt sowohl selbstbestimmtes Lernen als auch klare Reglementierung. Den Fünfer und das Weggli.

Ich würde einem Sowohl-als-auch in dem Moment zustimmen, wenn das Bildungssystem nicht mehr monopolistisch wäre und Menschen tatsächlich die Möglichkeit eines Sowohl-als-auch hätten. Doch da der Staat auf der Bildung drauf sitzt wie Onkel Dagobert auf dem Geld, da sich also niemand, kein*e Lernende*r, keine Mutter und kein Vater für oder gegen Lernen mit Lehrer*innen, für oder gegen fertige Vorgaben, One-Size-Fits-All-Prozesse, fixe Inhalte, Zeiten, Rhtythmen, fremdgesteuert Auswertungsprozesse u.v.m. entscheiden kann, gibt es ja ein tatsächliches Sowohl-als-auch gar nicht – weil es de facto nicht existiert.

Sobald die Alternativen gleichwertig, gleichberechtigt und gleich finanziert nebeneinander stehen, können wir über Sowohl-als-auch reden, weil wir dann die Wahl haben und echte Entscheidungen treffen können. Dann kann jede und jeder aus freien Stücken entscheiden, welchen Formen von Bildungsarbeit er und sie den Vorzug gibt. Das wäre dann beste liberale, Schweizer Tradition.

Unsere Liebe zum Problem

Doch in der Bildung investieren wir vor allem ins Problem. Deshalb kehrt es auch jeden Morgen wieder. Wir haben es im Gepäck. Wir sind davon überzeugt, dass wir ohne das Problem nicht leben können. Deshalb machen wir es zu einem Teil der Lösung. Feierlicher gesagt: Wir reframen das Problem. Der Cartoon bringt es auf den Punkt:


Die eingefleischten Sowohlalsauchler sagen mir jetzt: „Der Cartoon zeigt, dass es eben beide Perspektiven braucht, lieber Christoph. Sowohl als auch!“ Da ist was dran. Aber doch nur, um besser mit dem Problem klar zu kommen, nämlich eingesperrt zu sein. Dann sagen sie: „Aber nein, nur der, der das schöne Bild malt, wird eine schöne Zeit im Knast haben, und er wird sich viel besser auf die Zeit danach vorbereiten, weil er eine Vision hat, ein Annäherungsziel – und er ist doch ein viel netterer Zellenkumpan, weil er die Dinge positiv sieht. Mann muss in allem das Positive sehen.“ (Hier eine fundierte Gegenposition)

Und dann sagen sie noch, das könne mann übrigens gar nicht miteinander vergleichen: Gefängnis und Schule. Eingesperrt sein und Lernen: „Entweder Knast, oder Schule, Christoph!“ Oder wie Lehrer am Gymnasium bis heute gerne sagen: „Du bist freiwillig hier, mein Lieber.“

Friss oder stirb.

Notruf aus Pädagogistan

Titelbild von Sabine Lange auf Pixabay

Nach wie vor sind die Vorbehalte gegen alles, was mit Digitalität zu tun hat, in Pädagogistan absurd hoch. Auch ist das Wissen über die Funktionalitäten im neuen Kulturraum „Digitalien“ unzureichend – wenn überhaupt vorhanden. Digitale Technologien und sie flankierende Methoden (derzeit bevorzugt Scrum, Design Thinking, hier und da Lego Serious Play) werden mit Digitalität gleichgesetzt. Der Einsatz von Devices wie z.B. Smartphones wird im Schulsystem höchstens auf der didaktischen Ebene akzeptiert, maximal kontrolliert wie die Abgabe illegaler Drogen. Das Wissen darum, dass junge Menschen „Digital Only“ leben, bleibt – wenn es überhaupt existiert – für Schule ohne die notwendige kulturelle Konsequenz.

Die keine reflektierte und wenn, dann nur eine geliehene Erfahrung einer ganzen Welt haben, denken nach wie vor, sie würden Menschen auf diese Welt und auf ein Leben in ihr vorbereiten.

Wozu noch Lehrer?

Eine wichtigere und zugleich traurigere Frage kann man derzeit gar nicht stellen.

Krass ist: Wie in nahezu allen Berufsfeldern, die den menschlichen Faktor im Angesicht der Digitalisierung für unverzichtbar halten und grundlegend, so gibt es auch im Bildungssystem keine Klarheit darüber, warum und wodurch dieser menschliche Faktor – hier und jetzt – auf ein Minimum schrumpft und darüber, was dann noch „menschlich“ bleibt und warum.

Doch diese Klarheit ist möglich – und schmerzhaft zugleich.

Das Belehren, Beschulen, Unterrichten und die Logistik von Information in den Schulhäusern und Schulzimmern, analog oder via Internet, ist bereits heute eine anachronistische Tätigkeit, die übrigens nichts mit menschlichen Grundbedürfnissen zu tun hat. Lernen funktioniert ja ganz anders. Das können wir heute wissen, wenn wir wollen.

Und darüber hinaus und vor allem: Alles, was es zu wissen gibt, gibt es online auf eine unübertreffbar gute Weise zu fischen – direkt in benötigte Kompetenz umsetzbar.

Die Silostrukturen des Schulsystems und dessen traditionelle Geschlossenheit gegenüber Gesellschaft und Ökonomie sind es, die derzeit noch eine Art Schutzschild bilden gegen die Totalverfügbarkeit ihrer Verhandlungsmasse und gegen das Erodieren ihres Kerngeschäfts. Es ist wie bei Branchen, die sich abschotten, um ihre Produktion zu schützen, statt in globalisierten Märkten anschlussfähig zu werden – wohlgemerkt im Sinne einer Metapher. Ich setze nicht das Bildungssystem mit ökonomischen Betrieben gleich. Es geht mir um die Verdeutlichung der Funktionalität von miteinander vernetzten und voneinander abhängigen Systemen.

„Dann coachen wir sie halt!“

„Ja, aber irgend jemand muss doch die jungen Dinger coachen und begleiten. Die sind doch mit diesem Digitalen Overload völlig überfordert“, höre ich. „Dann sind wir halt Coaches!“

Aber es ist umgekehrt. Die, deren Beruf am Aussterben ist, die Lehrenden, brauchen das Coaching und die Begleitung und die Unterstützung bei der Neuorientierung, denn: Tatsächliches und professionelles Begleiten und Beraten ist bis heute weder ernstzunehmender Teil der Ausbildung noch der Praxis lehrender Berufe – im Sinne von Aufmerksamkeit und Bedeutung, nicht der curricularen Erwähnung. Im Sinne eines roten Fadens, nicht eines Farbtupfers – und wohlgemerkt auch nicht im Sinne eines Schulfachs, denn diese Art der Anwesenheit eines Themas im Bildungskontext führt bekanntermassen nicht notwendig in die damit konnotierte Kompetenz.

So geht es auch Themen und Prozessen der Persönlichkeitsentwicklung, der emotionalen Kompetenz, des Konfliktmanagements, der Teambildung und der Teamarbeit – und nicht zuletzt Formen, Arten und Weisen der Kollaboration, die heute in den Wissensberufen und Kreativbranchen die Basis des Arbeitens bilden. Sie alle kommen im schulischen Alltag bzw. in der Lehrerausbildung nicht ernsthaft genug vor. Ganz zu schweigen vom digitalen Wissensmanagement, das heute in jenen Branchen und Berufen lebensnotwendig ist, die in der Digitalisierung dem Menschen vorläufig vorbehalten bleiben.

Die Reproduktionssysteme sind am Ende

Es geht in der Bildungsarbeit jetzt – auf dem Hintergrund ganz neuer Aufgaben und Funktionen – um die Entwicklung völlig neuer Berufe. Die Hintergründe habe ich hier umschrieben. Wichtige Anliegen an die Ausbildung eines neue Berufs habe ich hier skizziert.

Die Reproduktionssysteme sind am Ende, egal wie viel schicken Shit sie jetzt noch in den Klassenzimmern inszenieren. Das ist wie beim Kino. Die alten Repräsentations- und Projektionsmaschinen haben ausgedient. Sie haben sich totgelaufen in ihren Rhythmen und Routinen, die auf die Wiederholung des immer selben ausgelegt sind. Jahr für Jahr, Lektion für Lektion, Einheit für Einheit, Jahrgang für Jahrgang. Auf Repetition angelegt, als Lernen verkauft.

Es geht jetzt darum, aus Pädagogistan auszubrechen, um überhaupt eine Chance zu haben, als Bildungsarbeit anschlussfähig zu werden an die Menschen und an die Kultur der Gegenwart – und nicht länger umgekehrt!

Alles nicht so schlimm, Leute – wir haben doch die Volksschule…

Die Weigerung Realitäten anzuerkennen, beschränkt sich nicht auf den Klimawandel und seine Begleiterscheinungen. Besonders verheerend spielt sich das derzeit auch beim Thema Schule ab, wie ein Meinungsartikel in einer renommierten Schweizer Zeitung erneut zeigt: Die Produktion imaginärer Gegenwirklichkeiten hat flächenübergreifend Hochkonjunktur. Weil es dabei um viel geht, halte ich dagegen.

Titelbild („LOST“) von Gordon Johnson auf Pixabay 

Quelle

Besonders auffällig: die durchgehend ideologischen Deutungsmuster „hinter“ dem Gesellschafts- und Ökonomieverständnis der Autorin. Gesellschaftliche Herausforderungen haben ebenso wie die ökonomischen Realitäten erstmal Pause. Nicht so erstaunlich: Der nostalgische Romantizismus neoliberaler Färbung kommt aus der wertkonservativen Ecke: Wohlstand durch Eigenleistung. Doch klar ist auch: Unseren Planeten als Lebensraum für Menschen werden wir nur retten, wenn wir endlich & endgültig im Prinzip Kollaboration ankommen und das Denken und Handeln in Wettbewerb hinter uns gelassen haben.

Das bleibt schwierig, denn unabhängig von der Weltanschauung der Autorin haben solche Weichzeichnungen eines ausrangierten Systems in der Schweiz die Kraft, jene politischen Lager zu vereinen, die ansonsten das Heu nicht auf derselben Bühne haben, sprich: Wenn es um die Bedeutung und Grossartigkeit der Volksschule geht, werden sich hierzulande ziemlich viele umgehend einig, wenngleich aus jeweils anderen Gründen. Das macht die Sache endgültig hermetisch.

Die Volksschule ermöglicht den Wohlstand nicht – sie regelt seine Verteilung

Bei den Erwerbstätigen in der Schweiz sind „17 Prozent der Haushalte und bei den Pensionierten 22 Prozent von Armut betroffen. Was lange vermutet worden ist, zeigt jetzt die neue Studie: Frau, mit Kind oder Kindern und alleinerziehend. Das ist ein Armutsrisiko“ (Quelle) – und die Zahlen nehmen zu, nicht ab. Der „Wohlstand“ schliesst zunehmend mehr Menschen aus. Nicht nur in der Schweiz, wo auch zu viele Menschen „Working Poor“ sind: Sie können trotz Vollerwerb oder Doppelverdienst nicht vom verdienten Geld leben – trotz erfolgreich absolvierter Volksschule. Die vertikale Durchlässigkeit dieses Wohlstands lässt deutlich zu wünschen übrig. Seit es ihn gibt.

„Der“ oder „unser“ Wohlstand wurde nahezu vollständig durch die geo- und europapolitischen Entwicklungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ermöglicht. Er ist ein Begleitphänomen der wirtschaftlichen Hochrüstung aus sieben Jahrzehnten, zusammen mit der Klimakatastrophe, dem Artensterben, der flankierenden Verarmung ganzer Völker, zahllosen Kriegen um Einfluss und Profit, um Rohstoffe und politische Macht.

Während dieser Zeit wurde Geld in die Schweiz getragen und gespült – und über die Architekturen des politkulturellen Systems verteilt: An der Vordertüre Konsensprinzip, im Hinterzimmer Lobbyismus. Das ist kein exklusiv Schweizerisches Phänomen, aber auch eines in der Schweiz – und es generiert das, was wir geneigt sind, Wohlstand zu nennen – und der ohne den dramatischen Export seiner Nebenwirkungen (inklusive Bildungssystem) nicht möglich wäre. Das Narrativ von der Volksschule als grosse Befähigerin und Chancenkreatörin sekundiert dabei die neoliberalistische Mär vom meritokratischen Wunderland: „Wer sich nur anstrengt, aus dem wird auch was“. Ausser sie ist eine Frau und hat Kinder.

Die Tünche hat Risse bekommen. Nicht nur hierzulande. Hier wird dieses Hohelied einfach besonders inbrünstig angestimmt, dass die Volksschule alle zum Wohlstand befähige. Dabei sorgt sie – wie überall in der westlichen Welt – vor allem für den Fortbestand einer bestimmten Vorstellung und Verteilung von Wohlstand, die uns derzeit Kopf und Kragen kostet. Und auch die hochgelobte Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystem ist nach wie vor eine „fiction nécessaire“. Sie „ist bis zum aktuellen Zeitpunkt noch relativ weit davon entfernt, alle mit ihr verbundenen Versprechungen und Hoffnung einzulösen“ (Quelle).

Schule sorgt nicht für Fachkräfte – sie arbeitet eifrig am Fachkräftemangel mit

Ein nächstes: Wäre die Volksschule das, wofür sie verkauft wird, gäbe es das wuchtige, die Schweiz förmlich aushöhlende Problem des Fachkräftemangels nicht. Es gäbe ihn mit Sicherheit nicht, denn er ist eine Folge unzeitgemässer Bildungsarbeit, die die ihr anvertrauten jungen Menschen völlig unzureichend auf jene Lebens- und Arbeitsbedingungen vorbereitet, die sie heute erwarten.

Zuerst schwanden in der Schweiz ja die mehrbesseren Berufsleute, die, die gemäss Autorin das eher nicht so wichtige Gymnasium abgeschlossen hatten, wie etwa Mediziner*innen und ICT-Expert*innen. Doch mittlerweile trifft es immer mehr Berufe und vor allem jene, die die Gesellschaft zusammenhalten. Schule als System ist nicht anschlussfähig; sie ist nicht kompatibel – weder mit der gegenwärtigen Gesellschaft noch mit der nationalen und globalen Ökonomie. Nicht falsch verstehen: Schule macht nach wie vor ihre Arbeit, so gut sie eben kann. Aber eben darin liegt das Problem.

Schulschliessungen als Scheinargument für Bildungslücken

Auch das wieder und wieder gezückte Argument, dass Schulschliessungen, ja sogar schon zu viel Ferien am Stück, bei Kindern Lernlücken entstehen lassen sollen, ist eine völlig unzulässige Verengung des Lernens und der Bildungsarbeit auf das, was in der Schule passiert.

Schule und ihre Protagonist*innen können gar nicht sehen, in welch vielfältigen Formen und Formaten sich das Lernen junger Menschen ereignet. Menschen lernen pausenlos und allerorten und überall anders als in der Schule und überall anders durchweg positiv konnotiert, weil in der Schule Lernen immer

  • sinnlosen Wettbewerb bedeutet – während vordergründig Sozialisation und Gemeinschaftsbildung auf die Volksschulfahnen geschrieben wird
  • Ausgrenzung bedeutet – also Integration um den Preis des Abschleifens von allem, was Ecken und Kanten hat
  • Benotung bedeutet: das grösste Übel von allen, die die Schule zu bieten hat.

Das können Menschen nicht sehen, wenn sie in ihrer eigenen Schulkarriere und vollends dann in ihrer eigenen Ausbildung gelernt haben, dass nur das wirklich wirkliches Lernen (und Bildung) ist, was von der Schule inszeniert und kontrolliert wird – als Folge von Lehren.

Die Schweiz: In Sachen Schule kein Sonderfall

Da macht dann die Kausalitätsillusion ganze Arbeit: weil und solange alles „richtige und wichtige“ Lernen von Menschen automatisch und exklusiv an Schule gebunden ist, kann es für alle Beteiligten nicht nur nirgendwo anders stattfinden. Es muss vielmehr völlig ausfallen, wenn und solange Kinder nicht in die staatlich approbierten Kaninchenställe gestopft werden (unterbrochen durch regelmässigen Hofgang) und von morgens bis abends beschult werden.

Mann darf gar nicht auf die Idee kommen, dass im 21. Jahrhundert, in einer völlig diversifizierten Gesellschaft, in einer Ökonomie der Plattformen und in digitalisierten Kulturräumen Schule dasjenige Format ist, das zur Gänze aus der Zeit gefallen ist.

Schule ist ein Format, eine Konstruktion, die angesichts der realen Lebens- und Arbeitswirklichkeiten realer Zeitgenoss*innen jene Leistungen gar nicht erbringen kann, die wir heute benötigen, um uns zu bilden. Besonders dramatisch ist dabei, dass sich eine dem Menschen in seiner und ihrer Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit entsprechende Form des Lernens nie und nimmer in Schulen entfalten kann, weil Lernen dort um seiner Kontrollierbar- und Bewertbarkeit willen um genau das reduziert wird, was es menschlich macht. Und zwar immer schon. In der Volksschule, am Gymnasium. Überall.

Und das übrigens nicht nur in der Schweiz. Was das Schulsystem betrifft, ist die Schweiz kein Sonderfall. Weder europäisch noch weltweit. Schule ist hierzulande nicht schlechter und nicht besser als anderswo. Sie ist schlicht und einfach Schule und sorgt für den Fortbestand einer verschulten Gesellschaft, die immer weniger für sich selber sorgen kann.

Artikel wie der oben abgebildete haben den Charakter und den Zweck von Durchhalteparolen. Formuliert von und gerichtet an Menschen, die mit der Komplexität und dem Tempo, mit der Undurchschaubarkeit und der Nicht-Linearität unserer Wirklichkeiten überfordert sind – was mitnichten eine Schande ist, sondern äusserst nachvollziehbar, denn die Zeiten sind verrückt – nur sollten wir aufhören, von solchen Menschen etwas Zielführendes für die Zukunft von Bildung und Lernen zu erwarten.

Auch von traditionellen Medienhäusern ist offenbar nicht zu erwarten, dass sie vermehrt jenen Protagonist*innen eine Öffentlichkeit bieten, die sich für zukunftsfähige Bildungsarbeit ins Zeug legen – und damit meine ich nicht mich selbst sondern die, die das Lernen der Zukunft auf die Beine stellen.

Schule ist „mehr desselben“. Die Zukunft ist woanders

Ja, die Volksschule hatte ihre Zeit. Um den Menschen mit jenen Fertigkeiten und Haltungen zu versehen, die ihn (und später auch sie) für die Ökonomie und für ein patriarchal-kapitalistisches Funktionssystem verwertbar machen. Sie hatte und hat Lohnarbeiter*innen zu produzieren. Wer sich, so das grosse Mantra, entsprechend einfügen lernte, kam zuverlässig in Lohn und Brot. Das war’s dann aber auch schon.

Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen – und die Frauen an Herd und Wiege. Bis heute. Über zwei Drittel (68 Prozent) aller Frauen, müssen heute, nachdem sie Mutter geworden sind, in der Schweiz langfristig mit abnehmenden Einkommen klarkommen (Quelle). Und 91% glauben hierzulande, „ein Kind leide, wenn die Mutter Vollzeit arbeite. Fast die Hälfte denkt ein Kleinkind leide, wenn die Mutter überhaupt bezahlt arbeitet“ (Quelle). Solchen Mist ursächlich der Volksschule anzulasten, wäre unredlich. Doch was offensichtlich ist: Sie setzt diesen Überzeugungen nichts entgegen.

Denn Schule reproduziert immer die bestehenden Verhältnisse. Der Wandel, auch der gesellschaftliche, kommt immer von woanders, und er setzt sich gegen jene Verhältnisse durch, für die Schule steht. Er ist immer eine Emanzipation, die auch eine Befreiung aus dem ist, was Schule mit dir macht. Weder kulturelle, noch humanistische, noch wissenschaftliche oder ökonomische Fortschritte können auf das System der (Volks-)Schule zurückgeführt werden, weil die ausnahmslos trotz und nicht wegen deren Gleichschaltungscharakter auf den Weg kamen.

So sehr der Mensch, wenn überhaupt, dann jenseits des Schulapparates zu sich selber fand und findet, jenseits des schulischen Selektions- und Synchronisierungszirkus, so sehr brauchen wir heute völlig andere Pfade des Lernens und der Bildungsarbeit.

Was mir Mut macht: Es gibt immer mehr Menschen, die diese Pfade gehen. Einige von Anfang an, andere, indem sie die eingetretenen Pfade des Bildungssystems irgendwann im Lauf ihrer Biografie verlassen. Es werden immer schneller immer mehr.

Liebe Nostalgikerinnen und Nostalgiker: Freundet euch mit der Möglichkeit an, dass der Mangel an Lehrpersonen eines von mehreren wuchtigen Anzeichen dafür ist, dass es vorbei ist mit eurer heiss geliebten Volksschule. Immer mehr Menschen ziehen Konsequenzen aus dem, was sie täglich erleben an Versäumnissen hier, und was sie wahrnehmen an Entwicklungen dort.

Von der Lehrperson zur Bildungsarbeiterin: Ein neuer Beruf

Quelle Beitragsfoto

Wenn es um die Aus- und Weiterbildung lehrender Berufe geht, steht im Zentrum, was Schüler*innen, Auszubildende und Studierende wissen & können sollten – und was dementsprechend Lehrende wissen & können sollten, damit sie es vermitteln können. Das wird den Lehrpersonen dann vermittelt. Das alles geschieht im Wissen um das „pädagogische Paradox“, dass Wissen & Kompetenz nicht vermittelt werden können. Das ist lange bekannt.

Sämtliche Varianten von Unterricht – derzeit ein Synonym für Schule – erweisen sich auf dem Hintergrund dieses Paradoxons als ungeeignet für Bildungsarbeit; ebenso wie die Fixierung auf Inhalte und deren Wiedergeben. Dennoch sind diese beide Aspekte bis heute tragende Säulen von Bildungsarbeit – neben Fächerwesen, Benotungskultur, (Jahrgangs-)Klassen und synchroner Präsenz, die für sich und zusammen dem Irrtum erliegen, Wissen und Kompetenz könnten vermittelt werden; und nach wie vor bilden wir Menschen in & zu etwas aus, das noch nie funktioniert hat, und das nie funktionieren wird: Die Vermittlung von Wissen und Kompetenz.

Welches Wissen und welche Kompetenz braucht es stattdessen für Bildungsarbeit – und wie kommt die auf den Weg, da Wissen und Kompetenz nicht vermittelt werden können? Welche Fähigkeiten brauchen dann Bildungsarbeiterinnen und Bildungsarbeiter?

Wir klären Bedürfnisse und Bedarfe

Zuerst realisieren wir erneut oder zum ersten Mal, dass wir im Kontext von Bildung, Schule und Lernen ausnahmslos Menschen begegnen, die – egal in welcher Rolle, Funktion oder Aufgabe sie unterwegs sind – pausenlos am Lernen sind. Der Bubblesprech vom „Lebenslangen Lernen“ meint eben dies. Nun ist Lernen nicht gleich Bildung: Ich kann aufhören mich zu bilden, aber aufhören zu lernen kann ich nicht. Damit mein Lernen nicht im Auswendiglernen und Aneignen von Skills und Tools steckenbleibt, mache ich es immer auch zu Bildungsarbeit.

Wenn wir also etwas anderes wollen als eine Schule, die lediglich „willfähriges, biologisches Material produziert“ und „lebendige Prozesse unterdrückt“, wie der Autoritätsforscher Frank H. Baumann schreibt, dann ist es sinnvoll, dass auch Bildungsarbeit lebenslang bleibt, wenn also alle in Bildungsarbeit Involvierten in eigener Sache Bildungsarbeiter*innen sind und bleiben.

Dann realisieren wir erneut oder zum ersten Mal: Professionelle Bildungsarbeiter*innen (aka „Lehrende“) zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie etwas wissen, was andere Bildungsarbeiter*innen (aka „Lernende“) nicht wissen, sondern dass sie über Fähigkeiten verfügen, mit denen sie Menschen bei der Konstruktion von Wissen und bei der Entwicklung von Kompetenz kompetent begleiten und unterstützen können.

Selbstverständlich ist es schön und gut, wenn Mathematiklehrer*innen sich in Mathematik auskennen. Doch wenn wir nicht mehr mit dem Konzept des/der Mathematiklehrer*in arbeiten (und nicht mehr mit dem Konzept des Mathematikunterrichts bzw. mit dem Fach Mathematik), öffnen sich lernenden und sich bildenden Menschen jene Informations-, Lern- und Bildungsräume, die bisher eingeengt waren auf das, was sie „vor Ort“ als Mathematik erleben. Was gute Mathematik ist, hängt bis heute für alle (!) Menschen davon ab, welche Mathematiklehrer*innen sie hatten – statt umgekehrt.

Die Alternative: Wir orientieren uns in der Bildungsarbeit zuerst an den Bedürfnissen jener Menschen („auf der anderen Seite des Pults“), die von professionellen Bildungsarbeiter*innen begleitet werden – ohne dabei die Bedürfnisse dieser Bildungsarbeiter*innen („Lehrpersonen“) auszublenden, zu vernachlässigen oder in Konkurrenz zu setzen.

Im Gegenteil: Wir fokussieren und klären die Bedürfnisse aller in Bildungsarbeit Involvierten. Warum? Weil die Arbeit an und mit Bedürfnissen Bildungsarbeit ist, wie uns Protagonist*innen in entsprechenden Disziplinen aufgezeigt haben (etwa Ruth C. Cohn und Arno Gruen).

Erste Konsequenz: Bedürfnisse & Bedarfe unübersehbar machen

Deshalb institutionalisieren wir den als eher mühsam erlebten und bis heute oft vermiedenen bzw. diffamierenden „Diskurs“ über Bedürfnisse lernender und sich bildender Menschen. Das ist ein im gegenwärtigen Bildungsbetrieb sträflich vernachlässigtes Anliegen.

Bildungslandschaft I (Quelle)

Zu diesem Zweck machen wir einerseits diese Bedürfnisse sichtbar. Nicht einmal (1x), auch nicht in Form einer didaktischen Analyse, auch nicht bezogen auf die Vermittlung von Wissen und Kompetenz, die gar nicht möglich ist (was wir lange wissen), sondern, ich wiederhole mich gerne, weil die Arbeit an und mit Bedürfnissen Bildungsarbeit ist.

Wir machen auch kein Fach, kein Unterrichts- und kein Projektthema draus, weil wir damit den Versuch starten würden, Wissen über „Bedürfnisse und Kompetenz im Umgang mit ihnen“ zu vermitteln, was gar nicht geht, wie längst bewiesen ist.

Stattdessen tragen wir gemeinsam Sorge, dass alle an Bildungsarbeit Beteiligten immer besser in der Lage sind, ihre Bedürfnisse zu erkennen und zu artikulieren, solche ihrer Mitmenschen in nah und fern zu realisieren, wertzuschätzen und immer wieder neu in Beziehung zu setzen. Sie weder zu ignorieren noch abzuwerten. Wir machen Bedürfnisse unübersehbar. Das tun wir transdisziplinär. So gelingt es uns, die faszinierende Fülle an Wissen & Erfahrung, die wir dazu heute schon haben, im Sinne sich bildender Menschen zu nutzen – für meine Befähigung als Bildungsarbeiter*in, ob ich nun in herkömmlicher Lesart „LehrendeR“ oder „LernendeR“ bin.

Welche Bildungsarbeit braucht die Lebens- und Arbeitswelt?

Zugleich orientieren wir uns in der Entwicklung des neuen Berufs des und der Bildungsarbeiter*in an den gesellschaftlichen und ökononomischen Bedarfen einer sich in einem tiefgreifenden Wandel befindlichen Lebens- und Arbeitswelt. Wir machen auch diese Bedarfe unübersehbar – das ist heute ein wesentlicher Teil von Bildungsarbeit – und gestalten sie so offen wie möglich. Wir engen sie nicht länger ein auf das, was in Bildungsplänen festgehalten ist, denn die sind nur eine Momentaufnahme, ein mühsam erarbeiteter Kompromiss aus dem, was von den Herausforderungen, in denen wir heute stehen, noch nichts wusste.

Bildungsarbeit bedarf heute eines komplett anders aufgestellten Wissensmanagements als über Moodle und Bildungspläne. Glücklicherweise können wir über die Alternativen mehr und anderes wissen als je zuvor. Die Ressourcen liegen uns mit dem Internet zu Füssen – und auch hier gilt es als erstes dem Versuch Einhalt zu gebieten, den Umgang mit diesen Ressourcen irgendwie irgendwem zu vermitteln – und ihn stattdessen zu lernen.

Ein neuer Beruf braucht eine neue Ausbildung

Zugleich klären und entscheiden wir, wie Ausbildungsinstitutionen und -prozesse für Bildungsarbeiter*innen gestaltet sind, sodass Institutionen & Bildungsarbeiter*innen die benötigten Fähigkeiten auf dem Plan & Schirm haben – und zwar 24/7. Die aktuelle Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern – ein aussterbender Beruf – muss zu diesem Zweck nicht auf den Prüfstand. Wir erfinden sie komplett neu. Wir entwickeln einen neuen Beruf und einen neuen Weg hinein, der mit den alten Funktionen, Rollen und Aufgaben nichts mehr zu tun hat.

Ein wichtiger Aspekt dieser Entwicklungsarbeit ist die Auseinandersetzung mit den fundamentalen Veränderungen und Neuerungen der Berufswelten: Wie verändern sich Berufe? Was bedeutet es heute im Unterschied zu anderen Zeiten, einen Beruf zu erlernen, einen zu haben, ihn auszuüben? Die zahlreichen Szenarien, Alternativen und Möglichkeiten, die es da heute gibt, spiegeln sich im neu zu entwickelnden Beruf der Bildungsarbeiterin und des Bildungsarbeiters ganz selbstverständlich: Wer sich als LernendeR Gedanken macht über seine bzw. ihre zu entwickelnde Berufsbiografie, findet im Gegenüber einer Bildungsarbeiterin ein Beispiel für diese Vielfalt, im Unterschied zum heute noch weit verbreiteten „einmal Lehrer immer Lehrer“.

Eine Bildungsarbeiterin wirkt dann nicht länger „vorbildlich“ bei meiner Suche nach Antworten auf die Frage, was ich einmal werden will (oder nicht), sondern eher auf die Frage, wie ich etwas werden und sein möchte.

Diese Entwicklungsarbeit hin zum neuen Beruf des/der Bildungsarbeiter*in ist also bereits der erste Schritt im neuen Konzept und im neuen Beruf. Sie bereitet das nicht vor. Es gibt keine „Vorbereitung“ mehr, keine Vermittlung von Zukunftskompetenz, nur das reale Leben & Lernen und unsere Reflexion auf beides.

Neu ist damit auch: Was Studierende lernen, die einen Bildungsberuf anstreben, korreliert nicht mit dem, was „später einmal“ die Bedingungen sind, unter denen sie dann Bildungsarbeit machen, weil sich die Bedingungen von Bildungsarbeit pausenlos verändern. Bildungsarbeit ist immer im „Hier & Jetzt“, und sie bringt die Bedingungen, unter denen sie zur Sache geht, hervor.

Bildungslandschaft II (Quelle)

Es gibt kein „vor und nach“ der Ausbildung, weil beide auf eine professionelle Weise zirkulär funktionieren – nicht in dem Sinn von „zirkulär“, wie sie im Bildungssystem funktionieren:

Nicht zirkulär also im Sinne eines „mehr vom Selben“, sondern „mehr von Unterschiedlichem“: Lern-Fortschritt als Zunehmen und Unterstützen von Unterschiedlichkeit, wie Remo Largo nicht müde wurde einzufordern:

Wie finden sich bereits berufstätige Lehrer*innen darin zurecht?

Flankierend entwickeln wir attraktive, hochwertige Angebote für aktive Lehrerinnen und Lehrer, in denen sie sich fit machen für diese riesigen Herausforderungen, indem sie lernen (!), sich in ihnen souverän zu bewegen. Wir lassen dabei jedem und jeder völlig und vorbehaltlos frei, ob sie diese Angebote annehmen, oder ob und wie sie sich anderweitig für die neuen Herausforderungen qualifizieren, oder ob sie (als ein mögliches Ergebnis dieser Entwicklungsarbeit) auf einen anderen Beruf umsteigen. Auch dabei unterstützen wir nach Kräften.

Was wir dabei ganz sicher nicht tun: ihnen irgendetwas vermitteln.

Klammern wir also die Diskussionen darüber, „was junge Menschen heute können und wissen müssen“, für einen Moment ein (nicht aus sondern ein, denn da wissen wir ja schon recht viel drüber) und klären ganz grundsätzlich, wie der neue Beruf des Bildungsarbeiters und der Bildungsarbeiterin aussieht: welche Haltungen er bei denen voraussetzt, die ihn praktizieren (wollen) – deren Reflexion ein wesentlicher Teil der gesamten Berufsbiografie ist.

Wir laden über alle kulturellen Bereiche hinweg aktiv dazu ein, diesen Prozess auf Augenhöhe mitzugestalten. Als ein zivilgesellschaftliches Projekt.

Bildungslandschaft III (Quelle)

Damit werden wir drei zentralen Anliegen gerecht

Erstens entwickeln wir einen Beruf, der für jene eine anziehende und nachhaltige berufliche Möglichkeit darstellt, die wir gerne für diese Arbeit hätten, und die wir brauchen. Wir, die wir uns lebenslang bilden. Ich hätte gerne Bildungsarbeiter*innen, die sich als Partner*innen begreifen, die an (ihrer eigenen und jedweder) Entwicklung interessiert sind, an Entfaltung von Potenzial, die grundlos neugierig sind, lernbegierig, expeditionsfreudig.

Wir tun also nicht länger etwas „gegen Lehrermangel“, um den Lehrerberuf (wieder) attraktiv zu machen, sondern wir entwickeln schleunigst einen neuen, attraktiven Beruf – und wir tun es nicht in den (digitalen) Hinterzimmern von Schulverwaltungen und Pädagogischen Hochschulen, sondern dort, wo Menschen gemeinsam Bildungsarbeit machen, denn Bildungsarbeit bringt die Bedingungen, unter denen sie sich ereignet, jeweils mit.

Zweitens eröffnen wir Menschen, die aktiv im Lehrberuf stehen, Möglichkeiten, sich neu zu entscheiden und zu professionalisieren; und zwar für das und auf das hin, was ihnen entspricht. Sie finden Unterstützung, die an keine Bedingungen oder Ergebnisse geknüpft ist – analog zu einer Hochform des BGE, wie sie hier reflektiert wird.

Drittens entwickeln wir dadurch kontinuierlich eine Bildungsarbeit auf der Höhe der Zeit, die Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gerecht wird. Wir bereiten ab jetzt nicht mehr „durch die Ausbildung auf Bildungsarbeit vor“, sondern praktizieren durchgehend Bildungsarbeit: Wir entwickeln uns an jedem Punkt unserer Bildungsbiografien und Lebensgeschichten weiter und unterstützen und begleiten uns gegenseitig in und mit all unserem Entwicklungspotenzial, unseren Bedürfnissen, Bedarfen und Sehnsüchten.

Vom dysfunktionalen Bildungssystem zur Haushaltshilfe mit Migrationshintergrund

Was ich immer wieder zu hören bekomme von Menschen, die sich der Aufgabe verschrieben haben, im Bildungssystem zu verweilen, auszuharren, es von innen heraus zu verändern, ist, dass es doch so viel einfacher sei, es von aussen zu kritisieren statt es von innen zu verändern. Was ich mithöre: Die Held*innen sind (dr)innen, die, die es sich allzu einfach machen, sind (dr)aussen. Letztere nehmen zu.

Titelbild: Didgeman auf pixabay

Nun wissen wir einerseits, dass die Überzeugung, ein System, das in einem ziemlich maroden Zustand ist (da würden womöglich auch die zustimmen, die finden, mann solle es doch gefälligst oder lieber von innen verändern) und dessen Dysfunktionalität zunimmt, was ja auch empirisch zunehmend und zunehmend eindrücklich unter Beweis steht – u.a. durch einen erstarkenden Mangel an Menschen, die den Lehrerberuf ergreifen bzw. anhand einer größer werdenden Zahl von Menschen, die den Beruf (wieder) verlassen, was jedoch diejenigen, die finden, das System müssesolle doch von innen verändert werden, nicht insofern ins Nachdenken bringt, ob dieses „Innen“ allenfalls schon länger angezählt sein könnte (#Schlagbaum), oder darüber, ob diese in Pädagogistan übliche, sakrosankte Unterscheidung zwischen „Innen“ und „Außen“ womöglich gar nicht mehr zeitgemäss ist, und ihr Aufrechthalten das Problem eher verstärkt als es in Richtung einer Lösung zu navigieren, vielmehr sagen sie: wenn die, die gehen oder gar nicht erst kommen, bleiben bzw. kommen würden, wenn sich trotz des Zustands des Schulsystems ganz viele und viel mehr Menschen dafür entscheiden würden, Lehrer*in zu werden bzw. zu bleiben, dann würde sich dieses System von innen verändern lassen. Aber ich schweife total ab.

Der Lehrermangel besteht bereits seit mehreren Jahren und spitzt sich weiter zu. «Wir haben in den letzten Jahren immer wieder darauf hingewiesen, die Politik hat den Lehrermangel aber zu wenig ernst genommen und unsere Einwände als Jammern abgetan», sagt LCH-Präsidentin Rösler.

Tagesanzeiger, 7. Juni 2022

Nochmal: Einerseits wissen wir, dass die Überzeugung, ein System, das einen bestimmten Zustand der Marodität überschritten hat, und zwar in einem Ausmass, dass es für immer weniger Menschen sowohl auf der Professionsseite eine (berufliche) Alternative ist, als auch dass für Schülerinnen und Schüler über eine ganze Schulbiografie hinweg viel zu wenig von dem herausspringt, was wir Bildung nennen, oder zumindest Bildungsgerechtigkeit, wie empirische Untersuchungen seit vielen Jahren immer und immer wieder bestätigen, weshalb ich mich frage: Warum will es denn einfach nicht besser werden durch das Wirken derjenigen, die dennoch dabei bleiben, und die das System irgendwie doch nicht dabeibleibend von innen verändern? Warum hört der Exitus nicht einfach auf sondern nimmt vielmehr zu? Weil es immer mehr Menschen immer einfacher haben wollen im Leben statt im System zu bleiben und zu kämpfen? Aber ich schweife ab.

Nochmal: Einerseits wissen wir, dass ein System, das einen bestimmten Zustand der Marodität überschritten hat, nicht mehr zu retten ist; dass die zunehmenden Anzeichen seiner Dysfunktionalität anzeigen, dass es mit ihm zu Ende geht.

Eines dieser Anzeichen ist, dass die, die drin bleiben, zu dem Reflex greifen, mann solle doch drin bleiben statt von aussen zu kritisieren – wobei sich ebenfalls über die Jahrzehnte hinweg zeigt, dass auch dann, wenn innen Kritik geübt wird, innen ganz ähnlich dazu aufgefordert wird, doch damit aufzuhören bzw. etwas zu ändern, wenn es einem nicht passt, oder doch bitte zu gehen, wenn es einem nicht passt, bzw. – das ist ein recht interessantes, eher zunehmendes Phänomen, vor allem in digitalen Räumen: dass innen die internen Kritiker zu Held*innen der Durchhaltenden werden, weil sie endlich mal sagen, wie es richtig zu laufen hätte, statt einfach aufzugeben (auch ihren Beamt*innenstatus nicht) – ohne dass sich dadurch (von) innen etwas ändern würde; während „draußen“ alles anders wird. So schnell und radikal, dass einem schwindlig werden könnte.

Kommt also bald die Revolution?

Wohl eher nicht, denn – andererseits – ist all diesen Reflexen und Aktivitäten im Innen gemeinsam, dass sie damit das Bestehende am Leben erhalten – inklusive des offensichtlich unverrückbaren Glaubens-(Grund-)satzes, dass es ein „Innen“ und (dadurch) ein „Außen“ weiterhin zu geben hat: Hier die Schule, dort die Welt (#Schlagbaum).

Dabei ist es am Ende des Tages wie in jeder Familie: Das Pubertier darf kritisieren, solange es den Geschirrspüler ausräumt und den Müll rausträgt. Dass es das nicht tut, führt zu einem Mehraufwand an Kommunikation, nicht aber zur Lösung von Müll- und Geschirr-Problemen, denn die lösen sich ja mit der Zeit von alleine: Mann wird erwachsen, gründet eine eigene Familie und schaut, dass mann sich eine Haushaltshilfe leisten kann. Migrant*innen gibt‘s ja bei Gott genug.

Aber ich schweife ab.

Unter- oder Übergang?

Eine Bildungsarbeit, mit der wir uns gegenseitig dazu befähigen, in dieser Welt zu leben, hat nichts mehr mit der Art von Bildungsarbeit zu tun, mit der wir groß geworden sind, und die wir bis heute als selbstverständlich erachten.

Für den Bildungssoziologen Stephen J. Ball liegt das Problem einer mehr und mehr dysfunktionalen Bildung nicht in einer falschen Pädagogik oder bei falschen Prüfungsformaten. Vielmehr sind für ihn Pädagogik, Curriculum und Prüfungen in sich der falsche Ansatz für das 21. Jahrhundert. (Quelle)

Nun gibt es die Alternativen dazu bereits weltweit. Die setzen sich aber nicht durch. Warum nicht? Ähnlich könnten wir auch in einem anderen Zukunfts-Kontext fragen: Warum setzt sich die Erkenntnis nicht durch, dass wir „planet earth“ als Lebensgrundlage nur retten können, wenn wir sofort aufhören mit einem Konzept, das unsere Lebensgrundlagen zerstört? Warum bauen wir Elektromotoren in Autos ein obwohl wir wissen, dass wir dadurch das „Problem Auto“ nicht lösen sondern transportieren? Dasselbe gilt für jedes andere kulturelle Konzept, mit dem wir den Planeten ausbeuten. Warum setzt sich die Erkenntnis nicht durch, dass wir am Untergehen sind, obwohl wir es wissen? Und obwohl wir Alternativen haben?

Wir wissen, dass wir uns von praktisch allen Grundkonzepten verabschieden müssen, die für uns selbstverständlich sind: Ernährung, Konsum, Mobilität & Transport, Produktion, Lebensführung, Politik & Gesellschaft. Das Denken in Nationalitäten, Rasse und Gender. Wir realisieren, dass sie in der Form, wie wir sie praktizieren, nicht nur unsere natürlichen und sozialen Lebensgrundlagen zerstören, sondern dass sie in sich dysfunktional sind: Sie führen ins Gegenteil von dem, wozu sie gedacht waren:

Unsere Art uns zu ernähren führt direkt in den Hunger, unser Konzept von Arbeit sorgt nicht mehr dafür, dass Menschen ein Auskommen haben, sondern macht immer mehr Menschen arm. Das ökonomisierte Gesundheitssystem bringt eigene Krankheiten hervor, unsere Mobilitätskonzepte führen in den Stau – und unser Schulsystem macht dumm. Es verstärkt Bildungsungerechtigkeit und bringt sie immer häufiger hervor. Es funktioniert nach dem Matthäus-Effekt. Es bereitet Menschen nicht nur nicht auf ein Leben im 21. Jahrhundert vor, sondern steht diesem Prozess quer im Weg – und zwar als Monopolist.

Kapitulation ist angesagt

Erst wenn geklärt und verstanden ist, wie umfassend die Herausforderung ist, in der wir jeden Morgen aufwachen, macht die Frage einen Sinn: Und wie sieht jetzt Bildungsarbeit aus? Solange nicht klar und geklärt ist, was die Uhr geschlagen hat, macht es keinen Sinn die Radikalität benötigter Veränderungen zu adressieren.

Wenn wir begriffen haben

  • dass die Art wie wir leben und konsumieren keine Zukunft hat, weil wir sie uns dadurch nehmen
  • dass die Art und Weise, wie wir wirtschaften, keine Zukunft hat, weil wir uns durch diese Art der Ökonomie von der Zukunft abschneiden
  • dass die Art, wie wir heute und morgen Gesellschaft sind und Zusammenleben gestalten, nichts mehr mit der Gesellschaft zu tun hat, aus der wir kommen, in der wir groß geworden sind, erzogen wurden und sozialisiert,

dann begreifen wir, dass die Bildungsarbeit der Zukunft nichts mehr mit der zu tun hat, wie wir sie heute verstehen und gestalten – weder ihre Inhalte, noch ihre Prozesse, Strukturen, noch die Rollen, Funktionen und Aufgaben von Menschen in ihr.

Die Bildungsarbeit, mit der wir uns gegenseitig dazu befähigen, in dieser Welt zu leben, sie zu gestalten, sie zu schützen, die hat nichts mehr mit der Art von Bildungsarbeit zu tun, mit der wir groß geworden sind, und die wir bis heute als selbstverständlich erachten, und: wenn und solange wir uns nicht eingestehen, dass wir’s vergeigt haben, begreifen wir nicht, warum es ganz andere Lern- und Entwicklungs- und Bildungsräume braucht. Das ist der Schlüssel zur Zukunft.

Deshalb beginnt ein Prozess, der antritt um zu klären, wie Bildung in Zukunft aussehen wird, unter allen Umständen damit, dass die, die sich diese Fragen stellen, erst einmal in der Welt der Gegenwart ankommen. Erstes Ziel ist es, die Realität dieser neuen Welt anzuerkennen, die da lautet:

Wir können unsere Lebenswelt nicht mit Hilfe eines Bildungssystems retten, mit dem wir jene Situation hervorgebracht haben und reproduzieren, aus der wir jetzt einen Ausweg suchen.

Das Bildungssystem hat einen riesigen Nachholbedarf an Wissen und Verstehen, an Begreifen, in welcher Welt wir heute leben und welcher Bildungsarbeit es deshalb bedarf. Es fehlt aber nicht nur an Wissen, Einsicht und Erkenntnis. Es fehlt auch an einer entsprechenden Lern- und Bildungskultur, in der gelernt wird – und zwar nicht zuerst bei Schüler*innen, Studierenden und andere Klient*innen, sondern bei jenen, die Bildungsarbeit repräsentieren.

Bildungsarbeit verändert sich in dem Moment, wenn die, die sie machen, sich in die neue Wirklichkeit aufmachen; in die neue Welt, deren zukünftige Existenz davon abhängt, in welcher Haltung wir uns bewegen und mit welchem Bewusstsein wir unterwegs sind. Wo wir begriffen haben, was jetzt noch geht und was nicht mehr geht – und wie wir das zusammen anpacken.

Es geht jetzt um das Anerkennen von Realitäten und Wirklichkeiten über die Endlichkeit von Ressourcen, über die Dringlichkeit von Verhaltensänderungen, von neuen Arten des Zusammenstehens und des Zusammenarbeitens.

Prof. Dr. Elsbeth Stern, Lern- und Bildungsforscherin an der ETH Zürich, lässt sich in einem Interview wie folgt zitieren: „Ich habe so langsam ein Problem mit dem Begriff digitales Zeitalter. Was heisst das denn eigentlich? Es wird immer so getan, als sei das jetzt eine Zeitenwende.“ Quelle

Welches Adjektiv auch immer wir dem Begriff „Zeitenwende“ voranstellen – wir sind mittendrin. Begriffen haben das, so meine Vermutung, noch nicht allzu viele. Zu weit weg schlagen die Bomben ein. Zu gefüllt sind noch immer die Regale in den Supermärkten. Zu sehr regeln wir das nicht mehr Regulierbare, indem wir am Geldhahn drehen.

Ausweg Bildung

Bildung kann der Ausweg sein, der entsteht, während wir sie neu erfinden. Möglich ist das, weil wir als Menschen über enorme Potenziale verfügen, die durch Erziehung und Sozialisation ignoriert und marginalisiert werden. Systematisch. Der Mensch ist tatsächlich seine wichtigste Ressource – und Bildung und Erziehung arbeiten bis heute daran, dass er und sie es nicht merkt.

Schreien Arbeitgeber heute nicht vielmehr nach Kreativität, Kritischem Denken, Kollaboration und Kommunikation? Diese Kompetenzen werden in fremdgesteuerten Unterrichtssettings aber zumeist unterbunden, denn die Zusammenarbeit ist unerwünscht. Jeder muss doch seine eigenen Leistungen an der Prüfung darlegen. Fällt jemandem auf, dass Beurteilung eigentlich immer in Einzelsequenzen stattfindet mit einem Sichtschutz zwischen den Kindern? Wird dabei die Diversität wertgeschätzt und das Teilen von Information hin zu einer gemeinsamen Lösung? Kollaboration? Die Problematik liegt in unseren Selektionsmechanismen, welche schon früh Einteilungen in Leistungsstufen begünstigen und (z.B. die begehrten Plätze im Gymnasium) filtern.

Doch die Leistungsgesellschaft ist am Ende. Punkt. Geprägt durch Jahre der Pandemie, zunehmende Automatisierung und jetzt noch Krieg zeichnet sich eine neue Arbeitswelt und eine neue Gesellschaft ab. Jobs verschwinden im Eiltempo und was bleibt ist alles, wo der Mensch mit dem Menschen zu tun haben will. Und wieder: Kreativität, Kritisches Denken, Kommunikation, Kollaboration.

Quelle

Warum wir Schule überwinden müssen, um zukunftsfähig zu werden

Find the english version here.

Ich habe neulich einen Artikel mit der folgenden Überschrift gelesen: „We must teach kids AI now! The why, the what and the how“. Gefunden haben ich diesen Artikel über den wunderbaren Newsletter Dalith & Andy | SwissCognitive. Der Autor beschreibt wie wichtig es für uns als Individuen und als Gesellschaft ist, das wir Künstliche Intelligenz begreifen: was sie kann und was ihre Chancen und Risiken sind. Seine Ausführungen über die Auswirkungen von KI sind hervorragend, professionell und für mich sehr gut verständlich. Bis zu dem Punkt, wo er auf Schule zurückgreift, um diese Herausforderung anzupacken. Warum das nicht funktioniert, sondern das Überleben des Problems sichert, ist das Thema dieses Beitrags.

Der Autor des erwähnten Artikels beschreibt die Geschwindigkeit und Exponentialität des Wandels in Gesellschaft, Technologie und Wirtschaft. Diese realen Veränderungen und Entwicklungen finden nicht nur außerhalb von Schule statt, sondern genau genommen ohne sie. Der Wandel, in dem wir stecken, ist komplex, während Schule ein Hort der Komplexitätsreduktion ist. Der Wandel ist vieldeutig und von enormen Wechselwirkungen geprägt, während Schule (unter anderem) mit ihrem Fächer- und Benotungswesen Eindeutigkeit simuliert und Kausalität zelebriert. Wer an Schule scheitert, scheitert nicht an ihrer Komplexität sondern an ihrer Kompliziertheit. Wer mit ihr klarkommt, hat letztere durchschaut.

Wenn technologischer oder sonstiger Wandel von Schule abhängig wäre, säßen wir heute irgendwo im Nirgendwo. Das sollte uns zu denken geben: Wozu brauchen wir das Konzept und das System Schule noch – außer um Kinder an einem Ort zu versammeln, damit Eltern ihrer Arbeit nachgehen können? Wenn sie denn einen Job haben …

Warum halten wir so hartnäckig an dem Glauben fest, dass die Schule jungen Menschen eines Tages wirklich helfen wird, ihren Weg in diese neuen Welten zu finden, die sich bis heute nicht aufgrund der Leistungsfähigkeit von Schule entwickelt, sondern jenseits ihrer Reichweite? Wir liegen falsch, wenn wir glauben, dass heute geforderte Kompetenzen tatsächlich durch Schule auf den Weg kommen.

Wofür Schule gemacht ist

Denn Schule ist nicht für den Wandel gemacht. Sie wurde nicht erfunden, um ihn zu ermöglichen. Weder einen Wandel in Gesellschaft und Wirtschaft, noch ihren eigenen. Schule wurde erfunden, um Stabilität zu garantieren und um zu vereinheitlichen, nicht um Vielfalt zu stärken.

Unsere Auswertung weist darauf hin, dass die Schule in ihrer konventionellen Form ihrem Auftrag als großer Gleichmacher doch ganz gut gerecht wird.

Quelle

Ihre Aufgabe ist es, kulturelle Überzeugungen zu reproduzieren, nicht neue zu fördern. Auch waren oder sind Innovation und innovative Menschen keine Folge von Schule und Schulkarrieren. Es gab und gibt sie bis heute trotz Schule. Sie ist nicht dafür gemacht, Veränderung(en) zu unterstützen oder zu Veränderung zu befähigen. Das macht sie als System und als Konzept ungeeignet, um Menschen beim Entwickeln jener Fähigkeiten zu helfen, mit denen sie den Wandel gestalten, in dem wir uns befinden.

Schule wird immer nur in der Lage sein, bestehende Konzepte zu reproduzieren, nicht neue hervorzubringen. Vielleicht versuchen ja deshalb immer mehr Menschen fast schon krampfhaft, innovative Konzepte in die Schule zu implementieren. Doch das wird weder Schule verändern noch ihren Auftrag. Das tut und beweist sie, seit es sie gibt.

Auch das Versprechen von Wohlstand und Aufstieg durch Schule ist eine Lüge – die übrigens kein Kind der aktuellen Pandemie ist, sondern viel älter. Die Pandemie beschleunigt dieses Drama lediglich, unter anderem dadurch, dass Schule nicht in der Lage ist, Bildung unter Bedingungen der Digitalität zu organisieren. Auch deshalb hängen jetzt noch mehr Kinder und Jugendliche ab als je zuvor. Das entlarvt einmal mehr die Mär vom Abbau sozialer Ungleichheit durch Schule – mitsamt dem Narrativ von der Durchlässigkeit des Bildungssystems, die aufgrund seiner Ungerechtigkeit gar nicht greift.

Für die Schweiz gibt es da ebenfalls kare wissenschaftliche Erkenntnisse.

Wir brauchen ein anderes, ein neues Lernsystem, das mit dem Konzept von Schule und Unterricht, wie wir es heute kennen, nichts mehr zu tun hat – und wir brauchen es so schnell wie möglich. Das dürfte aber umso schwieriger werden, je mehr Menschen an der Überzeugung festhalten, dass das wieder irgendwie und weiterhin irgendeine Form von Schule sein muss. Auf der Grundlage von Pädagogik und Didaktik statt unter Rahmenbedingungen, die auf der Höhe der Zeit sind.

Das ist der gordische Knoten unserer Gegenwart. Das ist in meinen Augen das größte Problem, unter dem wir heute leiden: Dass der Glaube an die soziale und ökonomische Erlöserfunktion von Schule ungebrochen ist. Mit diesem Glauben müssen wir jetzt aufräumen.

Warum wir Schule überwinden müssen

Das Konzept Schule überwinden und die Hoffnung würdig bestatten, dass irgendeine veritable Lösung für die Bildung der Zukunft aus dem Schulsystem kommt, oder dass sie der Ort einer solchen Bildung sein wird. Das sind die nächsten Schritte. Auch hat Schule keinen Zusammenhang mit der Lösung unserer gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen. Sie hat schlicht keine Schnittstellen. Sie steht diesen Lösungen im Weg, und gleichzeitig füllt sie den Rucksack unserer Kids mit Unmengen von Ballast, der ihnen den Weg in ihre Zukunft unnötig erschwert.

Weder Bildungs- noch Schulpolitik und -verwaltung sind bereit oder in der Lage, das zu begeifen und sich mit bereits existierenden Alternativen zu befassen bzw. sie nach Kräften zu unterstützen und zu beforschen. Der traditionelle Rahmen bleibt sakrosankt. Auch die Aus- und Weiterbildung von Lehrer*innen, also das akademisch-pädagogische Umfeld von Schule ist mutlos, bürokratisiert und hat keine Visionskraft.

Doch der gesellschaftliche Auftrag ist klar: Ein von Grund auf neues System des Lernens und der Kompetenzentwicklung auf den Weg bringen, das die überkommenen Strukturen und Konzepte und Vorstellungen von Schule, Unterricht und Erziehung obsolet macht und ersetzt.

Der Unterschied zwischen der alten Kultur, aus der die Schule stammt und der neuen, in der wir längst angekommen sind, lässt sich nur im Tun und Erleben begreifen. Nur das ermöglicht die Einsicht und das Eingestehen, dass es diesen radikalen Kulturwechsel tatsächlich gibt, der im Bildungssystem noch aussteht, weil sie dort den Knall noch nicht gehört haben. Womöglich werden ja deshalb lediglich neue Werkzeuge in die alte Werkstatt gehängt. Das ist wie beim Anerkennen bzw. Leugnen des Klimawandels, wo jetzt halt Elektromotoren in ein eigentlich zu überwindendes Mobilitätskonzept eingebaut werden: Die Krisenbewältigung ist die Krankheit, für deren Therapie sie sich hält, wie Martin Burckhardt schreibt.

Die neue Kultur kann nicht mit den Routinen der alten begriffen, bewältigt und mitgestaltet werden. Sie hat längst ihre eigenen.