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Diagnose: Ratlose Angst

ratloses Abendland
Quelle: Altpapier

Das Abendland kann gar nicht untergehen. Es ist auf Grund gelaufen.

Auf Grund gelaufen I

Wir sind durch reale oder befürchtete Defizite und Gefahren aneinander gebunden, nicht über Ressourcen und Chancen. Es geht uns um das Abwenden von Verlust und das Management von Mangel. Wir sind pausenlos damit beschäftigt, das noch Schlimmere zu verhindern, auszuschließen, in Bann zu halten.

Wir können die Hoffnung nicht zulassen, dass „anders“ unser Leben und die Welt tatsächlich menschlicher machen könnte. Mit „anders“ verbinden wir „schlimmer“. Unser Argwohn ist maximal geworden.

Auf Grund gelaufen II

Als lebenslang Geprüfte fürchten wir, nicht zu genügen, und nicht genügend zu haben, wovon auch immer. Wir versichern uns pausenlos. Gleichzeitig setzen wir Veränderung mit Verlust gleich.

Wir überkompensieren unsere Ängste mit Bemutterungs- und Versorgungs-Komplexen nach innen. Merkelnarrativ. Der Schutzreflex über die eigene Herde ist das neue, exklusive Ego-Konzept. Der Rest ist Unterhaltung, ist Konsum, ist Repetition und Refrain. Wir brauchen die alten Lieder zur Beruhigung: Alles ist ok. Alles ist beim Alten. Alles wird gut! Wirklich, mein Schatz.

Auf Grund gelaufen III

Der politische Diskurs hat die Funktion des Gute-Nacht-Geschichten-Erzählers übernommen, in denen das Gute gewinnt. Also wir. In den Stories wird das Schwarz-Weiß-Weltbild zementiert. Regierungskoalitionen verharren beieinander wie sich anödende Eltern ihren Kindern zuliebe die Scheidung noch einmal verschieben.

Die gebrochenen Schwüre sind durch unhaltbare Versprechen ersetzt. Journalisten sehen schweigend zu, wie ihre Kollegen abgeführt werden, um anschließend berichten zu können, wie ungeheuerlich das ist, sprich: Wer noch einen Job hat, macht ihn tunlichst.

Politiker und andere „Größen“ weisen pausenlos Schuld von sich und zeigen mit dem Finger in den leeren Raum. Wenn sie wegen sexuellen Missbrauchs zur Rechenschaft gezogen werden, klagen sie weinerlich eine imaginäre Mutter an, die ihnen nicht gefügig war. Täter schützen sich immer selbst. Egal, auf welcher Seite des Tisches sie sitzen.

Währendessen warten Arbeitnehmer, Schüler und Touristen darauf, gefüttert zu werden. Mit Anweisungen, Informationen und Lohn. All Inclusive.

Hoffentlich kommt bald das Christkind.

Warum Lernen keine Disziplin braucht, sondern den Raum der freien Entfaltung

Titelfoto: Alexander Lesnitsky auf Pixabay

Aktualisiert am 26.12.2020

Thomas Tillmann hat mit seinem Team eine Toolbox für selbstorganisiertes Lernen entwickelt: die Lernhacks – auch als Buch. Ihr Prinzip funktioniert in praktisch jedem Lebensalter und in jedem Lern- und Arbeitskontext. Erst recht unter den Bedingungen der Digitalen Transformation, die ja bekanntlich das Beste am menschlichen Lernen wieder in den Vordergrund rückt: Selbstvertrauen, Selbstorganisation und Selbststeuerung.

Wie so oft, wenn neue Konzepte alte Konzepte herausfordern, stehen sich in der Diskussion relativ schnell die Mindsets der jeweils anderen Seite gegenüber. Im Bereich Schule und Bildung sind das intrinsisch vs. extrinsisch, Lehren vs. Lernen, Selbst- vs. Fremdsteuerung, Ordnung vs. Chaos, Disziplin vs. Strukturlosigkeit und Beliebigkeit. Exemplarisch hierfür steht meines Erachtens dieser Tweet:

Reflexartig ertönt bei jedem Landeanflug von „Selbstorganisation“ bis heute der Warnruf: Aber bitte diszipliniert! Warum das? Entgegen landläufiger Annahmen ist Disziplin weder eine Tugend noch eine Fähigkeit. Sie ist eher ein Konzept. Wie Hefeteig. Ohne Hefe geht der Kuchen nicht auf. Ohne Disziplin die Selbststeuerung des Lernens nicht. Man nehme eine ordentliche Portion Disziplin, dann ist der Krieg schon halb gewonnen. Auch der gegen sich selbst.

Disziplin: Ein deutsches Erfolgsmodell

Als Konzept hat Disziplin und das Beharren auf ihr etwas sehr Deutsches. Mir fällt dazu ein Ausspruch von Kurt Tucholsky ein: „Der französische Soldat ist ein verkleideter Zivilist, der deutsche Zivilist ist ein verkleideter Soldat.“ Dieses Zitat stammt aus einer Zeit (Weimarer Republik), in der das aktuelle Schulsystem und seine Grundüberzeugungen von Ordnung, Diziplin und Standardisierung bis heute wurzelt.

Disziplin: Jemanden oder sich zu etwas zwingen. Vermeidungsziele verfolgen. Gegenkräfte aktivieren. Für die gute Sache: Durchhalten. Üben, üben, üben. Erfolg will verdient sein. „Lernen muss auch mal weh tun!“ Der Treibstoff für Disziplin ist das pädagogische Konzept von „Belohnung und Strafe“ – auch und gerade dort, wo „ich mir selber mal was versage und gönne“. Zehn Vokabelkärtchen – ein Gummibärchen. Was für ein Leben 😳

Disziplin als Gleichschaltung und Standardisierung

Als Konzept findet sich Disziplin(ierung) vor allem in jenen Systemen wieder, die Michel Foucault mit „Überwachen und Strafen“ attribuiert: Fabriken, Schulen, Gefängnisse gehören zu den besonders wirksamen Orten. Disziplin hat eine Überwachungsfunktion. Sie wird als wirksamer Ordnungsgenerator eingesetzt, und sie wird umso wirksamer, als sie mit Überwachung verbunden ist: „Discipline is commonly applied to regulating human and animal behavior to its society or environment it belongs“ (wikipedia). Disziplin kommt zum Einsatz, um Individuen und Individuelles gleichzuschalten mit dem Zweck, die Ausübung von Macht zu organisieren. Disziplin ist ein Konzept, das erfunden wurde um Prozesse und Menschen zu standardisieren. Auch Schule wurde erfunden, um zu standardisieren.

Quelle: spiegel.de

Disziplin ersetzt Organisation durch Kontrolle

Wer sagt, dass die Selbststeuerung von Lernen Disziplin erfordere, überträgt das extrinsische Konzept der Disziplin(ierung) auf die intrinsische(n) Dimension(en) des Lernens. In Kontexten von Erziehung, Pädagogik, Sozialisation und Ausbildung ist dann bald einmal die Rede von Selbstdisziplin – und vom notwendigen, didaktisch „gesteuerten“ Prozess der Aneignung und Verinnerlichung. So entsteht im lernenden Menschen eine Art Hierarchie, in der der Ansatz der Diziplinierung mit zunehmender Lernbiografie nach oben rückt. Neugier, Leidenschaft, Feuer und Eifer, die ich für eine Sache entwickeln kann, und die in mir eine kreative Hartnäckigkeit des Lernens entstehen lassen, werden auf die hinteren Plätze verwiesen – oder sie mit Disziplin gleichgesetzt. Da gibt’s übrigens auch ein spannendes Buch dazu:

Selbstverständlich entwickle ich im Laufe meines Lebens Strategien der Selbst- und Affektkontrolle, und das fällt mir umso leichter, als sich meine Lebenswelt dabei als unterstützend erweist. Doch auch hier gilt: Es ist nicht das Lernen, das diese Selbstkontrolle „braucht“. Das Lernen ermöglicht sie.

Denn Lernen ist zuerst und grundsätzlich selbstgesteuert. Fremdsteuerung als Teil der Rahmenbedingungen (etwa durch Pädagogik und Didaktik) richtet sich nicht an das Lernen als Funktion unseres Daseins, sondern an seine schulische Organisation:

Mein Lernen kann gut oder schlecht organisiert sein – es ist jederzeit selbstgesteuert. Das muss mir nicht immer gleich stark bewusst sein als lernender Mensch, doch dieses Beweusstsein kann ich entwickeln. Dann steigt die Qualität von Lernen mit meinem Bewusstsein davon, dass ich es eigentlich jederzeit selbst steuere, und wie gut ich es deshalb selber organisieren kann – auf Ziele hin, die mir erstrebenswert erscheinen. Hier kommt Disziplin erst einmal gar nicht vor.

Tritt jetzt „Disziplin“ in den Vordergrund, wird die Selbststeuerung des Lernens zwar nicht völlig verdrängt. Was hingegen passiert: Disziplin ersetzt die Kräfte der Selbstorganisation durch das Prinzip der (Selbst-)Kontrolle. Wer dafür plädiert, dass selbstgesteuertes Lernen der Disziplin bedarf, ist im Mindset der Außen- und Fremdsteuerung unterwegs und macht sie zu einem Prinzip des Lernens.

Die Formulierung „Selbststeuerung von Lernen“ im Tweet weiter oben im Text insinuiert, dass es auch Formen des Lernens gibt, die nicht selbstgesteuert sind – und dass diese aus pädagogischer Sicht den Normalfall bilden. Wenn in diesem Mindset klassischer Ordnungskonzepte externe Steuerungsimpulse zugunsten einer Selbststeuerung des Lernens ersetzt werden, kann das – in diesem Mindset – nur gelingen, wenn zugleich auch das Moment der Disziplinierung an die Lernenden übergeben wird inklusive der „Verantwortung für sein eigenes Lernen“, die der Lernende gemäß Tweet nun ebenfalls zu übernehmen hätte. Selbststeuerung und Verantwortung werden hier an jemanden „übertragen“, der sie vorher nicht hatte. In Wirklichkeit können jedoch beide gar nicht übertragen werden.

Verantwortung wahrnehmen

Nicht nur Lernen ist immer selbstgesteuert. Selbst wenn ich es an die Wand fahre. Auch mit der Verantwortung verhält es sich aus ethischer Perspektive so, dass jeder Mensch sie a priori hat: für das, was er und sie tut und unterlässt, für das, was er und sie denkt und spricht. „Wir“ können also einem Menschen seine oder ihre Verantwortung für das, was er und sie denkt, tut, sagt und verschweigt, nicht übergeben, weil er und sie die immer schon haben. Sie sind Owner. Es reicht völlig, wenn das Bildungssystem den Lernenden diese Verantwortung nicht wegnimmt – um sie ihnen dann wieder grosszügig zu übergeben.

Wir lernen also nicht Verantwortung zu übernehmen. Im besten Fall realisieren wir, dass wir sie immer haben, wenn wir so oder so handeln, dieses tun und jenes nicht. Wir werden uns also unserer Verantwortung bewusst. Wenn jemand verantwortungsvoll handelt, dann nicht, weil er oder sie gelernt hat, sie zu übernehmen, sondern weil er oder sie realisiert hat: Ups, ich habe die ja jederzeit. Verantwortung ist aus ethischer Perspektive nicht etwas, das ich übernehmen und deshalb auch zurückweisen könnte. Ich kann sie lediglich wahrnehmen oder ignorieren.

Womöglich ist dem Menschen (dir und mir) ja aus eben diesem Grund viel mehr zuzutrauen an Verantwortung, an Empathie und Einflussnahme, als Schule insinuiert. Dann geht es jetzt um die Frage, wie sich der einzelne Mensch überhaupt seiner und ihrer Verantwortung bewusst werden kann. Und zwar lustvoll und nicht über das diesbezüglich deplatzierte Instrument der Diziplin(ierung). Mit dieser nicht ganz unwichtigen Frage nach dem Wesen der Verantwortung in Zeiten kollektiver Ausreden habe ich mich in meinem Buch „Die Moral ist tot. Es lebe die Ethik“ auseinandergesetzt (S. 90-123). Auch mit entsprechenden Vorschlägen aus der Literatur (u.a. Zygmunt Baumann, Susan Reiman, Hans Jonas, Kurt Homann, Julian Nida-Rümelin). Die Kernthesen finden sich hier im Autorengespräch mit Gunnar Sohn.

Das Lernen freilassen

Meine These lautet: Dass wir nur noch schwach an die Kraft und die Möglichkeiten glauben, die in uns Menschen schlummern, ist ein Effekt unserer Bildungs- und Erziehungspraxis, die diese Regel zur Ausnahme erklärt hat, um dadurch das Konzept der Disziplin zu begründen.

Wenn wir wollen,

  • dass mehr Menschen als bisher die Verantwortung für das, was sie denken, sagen und tun, wahrnehmen,
  • und dass sie sich in dieser Haltung zusammenfinden und mehr und mehr in Prozesse gestaltend und visionär eingreifen,
  • wenn wir zusammen dafür sorgen wollen, dass sich die Spiralen des Wahnsinns abflachen, verlangsamen und sich in andere, humane und nachhaltige Richtungen entwickeln,

dann sollten wir aufhören mit der Infantilisierung des Menschen durch lehrende und erziehende Systeme. Dann sprechen wir uns am besten jene Verantwortung zu, die uns von Alters her von großen Denkerinnen und Denkern unterstellt wird. Von Sophokles‘ Antigone über Kant bis in den modernen systemischen Konstruktivismus hinein geht es ja immer um die Kraft des Menschen, seiner und ihrer eigenen Verantwortung nachzukommen.

Dass es wirklich ganz anders werden kann, zeigt eines von vielen gelingenden und erfolgreichen Konzepten, das mir neulich im Netz begegnet ist: Die School Circles, die Demokratische Schulen in den Niederlanden praktizieren – nach dem Prinzip Sociocracy. Es gibt eine Video-Dokumentation, die eindrücklich die Unterschiede zum klassischen Schulsystem zeigt, und wie diese Unterschiede praktisch werden. Ich kann diese Doku wärmstens empfehlen, weil sie ein anderes Konzept zeigt, das funktioniert – jenseits aller Vorurteile und Ausreden.

Schließen möchte ich mit einem Statement, das mich sehr berührt hat. Foucault aus Kindermund:

Der Algorithmus des Bildungssystems, oder: „Für die Schüler sind wir das Internet!“

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Ein Lehrergehirn springt immer in dem Moment in den Habacht-Modus, wenn es von draußen etwas hört, das (s)einer Korrektur und Richtigstellung bedarf. Darauf ist das Lehrerinnengehirn konditioniert. Erstens dadurch, dass es, als es selbst noch ein Schülergehirn war, sehr gründlich die Auffassung verinnerlicht hat, dass Korrektur und Richtigstellung, dass Gewissheit und die Unterscheidung von richtig und falsch nur durch eine Autorität geleistet werden kann. Zweitens dadurch, dass es diese Lernerfahrung später in seinem Leben mit Hilfe eines Lehramtsstudiums in eine Lehrerfahrung zu transformieren lernte. Jetzt ist aus dem Schülergehirn also ein Lehrergehirn geworden, das jedoch in seiner Grundhaltung ein Schülergehirn geblieben ist.

In Aus- und Weiterbildung sind also Menschen tätig, die nicht das System gewechselt, sondern die lediglich einen anderen Platz eingenommen haben, von dem aus sie jetzt für die Reproduktion dieses Systems sorgen – eines Vermittlungssystem, das durch diese Vermittlungsarbeit dafür zu sorgen sorgt, dass Zutreffendes und Richtiges vermittelt wird und Nichtzutreffendes und Falsches nicht vermittelt. Die dafür sorgen, dass es zu diesem Zweck im Prozess der Vermittlung identifiziert und korrigiert wird („Habacht-Modus“) unter Rückgriff auf Unterlagen (Lehrpläne, Curricula, Lehrmittel usw.), in denen nicht nur die wirkliche Wirklichkeit festgeschrieben ist, sondern auch die Art, wie diese vermittelt wird und wie nicht – um tunlichst zu vermeiden, dass die Wirklichkeit des Bildungssystems und damit die der wirklichen Wirklichkeit falsch vermittelt wird.

Konkret

Ein Mathematiklehrer des Gymnasiums sagte zu mir: „Die Mathematik hat sich die letzten 100 Jahre nicht verändert. Warum also sollte sich der Mathematikunterricht verändern?“

Das Bildungssystem vermittelt und prüft also nicht nur pausenlos wirklich Richtiges in Abgrenzung von wirklich Falschem. Es vermittelt auch ganz fundamental und hermetisch ein Welt- und Menschenbild, sprich: Lernende Gehirne lernen in Aus- und Weiterbildung, dass dies die einzig wirkliche Wirklichkeit ist: dass Lernen immer die dankbare Erkenntnis und Annahme von vermittelt Richtigem ist und nur dann richtig funktionieren kann, wenn es von einer Autorität kontrolliert wird, die den Übergang von einem defizitärem Wirklichkeitszugang zu einer wirklichen Wirklichkeit garantiert, denn nur dann hat das lernende Gehirn einen ordnungsgemäßen Zugang zu dieser Wirklichkeit.

So entsteht ein Welt- und ein Menschenbild.

Konkret

Ein Berufschullehrer um die Vierzig meinte in vollem Ernst während einer Weiterbildung im vergangenen Winter vor versammelter, sich weiterbildender Mannschaft: „Wir brauchen kein Internet. Für die Lernenden bin ICH das Internet.“

Ohne Lehrperson also kein Weltzugang. Zumindest kein richtiger.

In diesem, vom Bildungssystem vermittelten Welt- und Menschenbild, ist der Weltzugang des lernenden Gehirns und der Zugang zu sich selbst jederzeit defizitär. Sowohl formal als auch inhaltlich. Das ist in diesem System „die Wirklichkeit“. Der Grund für das „Man(n) lernt nie aus“, hängt also nicht damit zusammen, dass es für ein lernendes Gehirn unendlich viel zu entdecken und zu kombinieren gibt. Es hängt damit zusammen, dass das lernende Gehirn (in diesem Welt- und Menschenbild) fundamental defizitär ist und ohne Anleitung durch korrigierende Autoritäten schlicht in die Irre geht – angesichts dessen, was es alles zu entdecken und zu kombinieren gibt. Das ist es, was ein lernendes Gehirn in Bildungssystemen als erstes und vor allem lernt.

Deshalb rennen im Moment auch alle wie wild in Weiterbildungen zum Thema „Digitalisierung“, statt sich einfach aufzumachen ins Netz und gemeinsam zu lernen, wie das geht. Wie soll das auch gehen, ganz ohne Lehrer? Ohne jemanden, der mir einen Plan macht und mich an der Hand nimmt und durchs Labyrinth führt?

In diesem Welt- und Menschenbild versteht das lernende Gehirn immer irgendetwas nicht richtig oder falsch und bedarf der Korrektur – und zwar immer durch korrigierende Systeme in der so genannten Außenwelt. Navigationssysteme, die mir sagen, wo es langgeht.

Immer wenn es um Bildung und Lernen geht (also immerimmer), sind diese Navigationssyteme zuerst durch Autoritäten repräsentiert, die in Bildungssystemen vorfindlich sind und durch diese zertifiziert. Im weiteren Verlauf des Lebens haben Vorgesetzte und PolitikerInnen dann ähnliche Funktionen – im Sinne einer Ableitung von der Ursprungsautorität des Bildungssystems.

Das lernende Gehirn (ein Pleonasmus, ich weiß) hat gelernt, dass es lebenslang Systeme braucht, die ihm (also dem lernenden Gehirn) die zutreffenden und richtigen Informationen über die Welt und den Zugang zu ihr vermitteln, nicht zuletzt, indem diese Systeme ständig richtig von falsch unterscheiden, denn das lernende Gehirn hat ja gelernt, dass es diese Funktion des Unterscheidens von Richtig und Falsch ohne eine korrigierende Autorität nur defizitär auszuüben in der Lage ist.

Soweit der Algorithmus des Bildungssystems

Das lernende Gehirn hat gelernt, dass es zeitlebens Lehrerinnen (und irgendwelche andere Vorgesetzte oder Politikerinnen) braucht, die ihm jederzeit mit der entsprechenden („diplomierten“) Autorität „sagen“, was richtig und was falsch ist. Und nicht zu vergessen: Ein lernendes Gehirn lernt in eben diesem System, dass es zeitlebens von diesem System abhängig sein wird, denn es lernt während seiner gesamten Lern-Biografie, also quasi lebenslang, dass es selbst immer nur korrekturbedürftige Bilder, Vorstellungen und Begriffe von der Welt (und auch von sich selbst als Teil dieser Welt) wird „herstellen“ können, die nur durch ein fortlaufendes, systematisches Korrekturwesen, repräsentiert durch korrigierende Autoritäten, richtig gestellt werden können.

Sicherheit gewinnt das lernende Gehirn (ein Pleonasmus, ich weiß) also in unsicheren Situationen nur, so hat es gelernt und lernt es pausenlos von Neuem, wenn es sich, je größer die Unsicherheit umso sicherer, an korrigierende, weil besserwissende Autoritäten wendet, die ihm sagen, was richtig und was falsch ist, und was jetzt wie zu tun ist, sprich: wie es weitergeht.

Das lernende Gehirn hat gelernt und ist tief und fest davon überzeugt, dass es ohne diese Autoritäten verloren ist. Deshalb ruft es nach ihnen. Deshalb googelt es sie.

Sicherheit gibt nur die Autorität

Das ist so ziemlich der einzige Grund, warum die Mehrheit der Menschen ganz tief davon überzeugt ist, dass es Autoritäten braucht, die über richtig und falsch bestimmen und dafür sorgen, dass das wahrlich Richtige auch getan wird. Das ist nicht die Natur des Menschen, liebe Frau Lehrerin, das haben er und sie aus der Schule.

Schule infantilisiert fürs Leben.

Es ist auch der Grund dafür, dass sehr, sehr viele Menschen pausenlos nach solchen Autoritäten rufen, damit jetzt endlich mal etwas geschehen möge. Es ist auch der Grund, warum die wenigsten Menschen realisieren, was ihr eigener Anteil am Lauf der Dinge und der Welt ist – denn dafür können sie ja (in diesem Welt- und Menschenbild) aufgrund ihrer defizitären Daseins- und Denkstruktur gar nicht zuständig sein, und ihre lernenden Gehirne haben sehr früh gelernt, dass alles, was sie wahrnehmen und fühlen, was sie zu sehen und zu denken glauben, ohne die Prüfung einer korrigierenden, äußeren Autorität gar keine Geltung erlangen kann.

Wenn wir also wollen, dass mehr Menschen als bisher ihr Leben, ihr Entscheiden, ihr Handeln und die Verantwortung für das, was sie sagen und denken und tun übernehmen, sich in dieser Haltung zusammenfinden und mehr und mehr in Prozesse gestaltend und visionär eingreifen, wenn wir wollen, dass sie zusammen dafür sorgen, dass sich die Spiralen des Wahnsinns wieder abflachen, verlangsamen und sich in andere, humane und nachhaltige Richtungen entwickeln, dann müssen wir uns von diesem Algorithmus des Bildungssystems verabschieden, der uns an diesen Punkt gebracht hat, wo wir heute stehen.

Dann müssen wir aufhören mit der Infantilisierung des Menschen durch lehrende und erziehende Systeme. Dann müssen wir dem Menschen (dir, mir und uns) jene Verantwortung zumuten, die ihm und ihr von Alters her von den großen Denkerinnen und Denkern zugesprochen und unterstellt wird.

Dass wir aufgehört haben, an die Kraft und die Möglichkeiten zu glauben, die im Menschen schlummern, ist ein Effekt des Bildungssystems, das diese Regel zur Ausnahme erklärt hat und systematisch dafür sorgt, dass es eine bleibt.

Es ist an der Zeit, diese Kiste über Bord zu werfen und neu anzufangen – und zwar so.

Wie wir Lernen erfolgreich organisieren. Ein Vorschlag, der funktioniert

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gif by #melinjin

Wenn ich mit meinen Klient*innen zusammen Lernprozesse organisiere, dann gibt es nur zwei Vorgaben: Ein mehr oder weniger konkretes Thema, das die Lernenden umgehend ihren Lern- und Arbeitsbedürfnissen anpassen – und zwei bis drei Kompetenzziele: Was können sie am Ende dieses Prozesses (besser/anders), und woran merken sie selber, dass sie es können?

Von da an organisieren die Teilnehmenden ihren individuellen und gemeinsamen Lernweg selbst, unterstützt durch eine gewisse Anzahl Prozess-Coaches, die vor allem fürs Facilitating zuständig sind. Die klassischen Strukturen (Classroom, Lektionenstruktur, Curriculum) sind hier aufgelöst zugunsten fluider Lernprozesse mit maximaler Selbststeuerung durch die Klient*innen.

Diesen Paradigmenwechsel – vom Lehr-Lern-Modell zum selbstorganisieren Lernen – vollziehen die Klient*innen im Verlauf eines solchen Prozess ganz von selbst und wissen die dadurch wachsenden Kompetenzen und die Vernetzung mit enorm wertvollen Ressourcen sehr zu schätzen. Nicht zuletzt realisieren sie, dass diese agilen, digital fundierten Lernprozesse sich nur wenig bis gar nicht von dem unterscheiden, wie sie sich auch sonst die Welt erschliessen.  Als neu und ungewohnt erleben viele Klient*innen das kollaborative Lernen und Arbeiten, das im Bildungssystem und in den meisten Arbeitskontexte nicht vorgesehen ist, obwohl es die Lern- und Arbeitsform des Digitalen Zeitalters ist – und genau diese Lern- und Arbeitsformen bringen sie sich sukzessive selber bei – indem sie es machen. Wie?

Die Lernenden bilden so genannte Communities of Practice, in Anlehnung an das Modell des „Social Workplace Learning“. Sie organisieren die Lernprozesse entlang der geforderten Kompetenzen selbst und überprüfen Lernfortschritte nach einfachen Rückmeldeverfahren. Diesen Ansatz habe ich hier strukturiert beschrieben.

Solche Lernprozesse verstehen „Digitale Transformation“ nicht im Sinne des Einspeisens digitaler Methoden und Tools, sondern so, dass die Digitale Transformation selbst den Rahmen dieses Lernens (und übrigens auch des Arbeitens) bildet. Was damit gemeint ist, lesen Sie hier. Ein wichtiger Unterschied bei diesem neuen Zugang zu traditionellen Lehr-Lern-Kontexten ist, dass die KlientInnen dabei jene Kompetenzen entwickeln, die für das Arbeiten im Digital Age unverzichtbar geworden sind.

Was in diesem neuen Mindset vor allem zur Verfügung gestellt wird, sind drei Gefässe:

  • Ein digitaler Ort, an dem die für die Weiterbildung notwendigen Daten und Informationen gespeichert sind – für alle zugänglich und frei zu bearbeiten und zu verändern. Im Sinne des „open access“ sind in diesem Space auch und vor allem Verweise zu wichtigen Quellen deponiert und für die Studierenden die Möglichkeit, ihre eigenen Quellen zu integrieren (z.B. ein shared „one note“ oder „evernote“) und ihren eigenen Lernprozess nach ihren Maßgaben zu dokumentieren („Personal Learning Environment“).
  • Eine Plattform für Kommunikation, Chat, Austausch und Vernetzung (z.B. #twitter, slack, microsoft teams, yammer)
  • Eine Plattform für Online-Konferenzen (skype, appear.in, zoom.us, adobe connect, gotomeeting).

Hier finden Sie ein Interview mit einer Klientin, die das am eigenen Leib erfahren hat.

Einen Kompaktkurs, der diese Form des Lernens erlebbar macht, finden Sie hier.

Bitte kontaktieren Sie mich, wenn Sie neugierig geworden sind und Lust haben, das selbst einmal auszuprobieren.

Über Motivationsgerüch(t)e

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Quelle: transferio.at

Der Blogger Stephen Downes ist für mich eine kreative und faszinierende Informationsquelle zum Thema Bildung & Lernen 4.0. In einem seiner Newsletter dokumentiert er folgenden Satz aus einem Gespräch mit einem Kollegen:

Essentially, intrinsic motivation exists only if there is autonomy, competence and relatedness. Worse – extrinsic motivation kills intrinsic motivation. As soon as we start getting rewards or punishments, we have lost intrinsic motivation. So, Dron says, education systems are systematically demotivating.

(Im Prinzip existiert intrinsische Motivation nur aufgrund von Autonomie, Kompetenz und Verbundenheit. Extrinsische Motivation tötet intrinsische Motivation. Sobald wir mit Belohnung und Bestrafung anfangen, haben wir die intrinsische Motivation bereits verloren. Deshalb sind Bildungs- und Erziehungssysteme auf systematische Weise demotivierend.)

Wie sehen alternative Lernsettings aus, die die intrinsische Motivation nicht nur stärken sondern auf ihr aufbauen? Auch hier finde ich Antworten bei Downes:

The focus on the ‚4Ps‘ of creative learning:

  • Projects – We learn best when we are actively working on projects – generating new ideas, designing prototypes, making improvements, and creating final products.
  • Peers – Learning flourishes as a social activity, with people sharing ideas, collaborating on projects, and building on one another’s work.
  • Passion – When we focus on things we care about, we are likely to work longer and harder, to persist in the face of challenges, and to learn more in the process.
  • Play – Learning involves playful experimentation — trying new things, tinkering with materials, testing boundaries, taking risks, iterating again and again.

Und welche Lernumgebungen braucht es für dieses „neue Lernen“?

Ganz sicher wird das Klassenzimmer für solche Formen des Lernens nicht mehr funktionieren. Es braucht „Learning Landscapes“, in denen ich Strategien entwickeln kann, um in chaotischen, schwach strukturierten Umgebungen zu lernen. Dieses Lernen ist nämlich viel weniger kontrolliert, weniger zertifiziert, dafür hoch kollaborativ. Es geht um „Lernen im Chaos“ und darum, selbstständig Lernentscheidungen zu treffen, um in vielfältigen Teams anschluss- und arbeitsfähig zu bleiben. Lebenslang: It is about operating and interacting in a complex and multi-dimensional environment“.

Wohin mit all den Lehrer*innen? Kommt jetzt der Lern-Coach?

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Quelle

Entgegen der Annahme, dass der Lehrerberuf einer der wenigen sei, die der Digitalen Transformation nicht zum Opfer fallen, gehe ich davon aus, dass es ihn in der jetzigen Form nur deswegen noch gibt, weil er staatlich geschützt ist wie nichts anderes. In diesem Blog-Post geht es mir deshalb um die Frage: Was kommt nach dem Lehrer? Der Coach?

Wenn ich Bildung im Digital Age auf den Punkt bringe, dann geht es nicht mehr darum, was gelehrt wird, sondern wie gelernt wird. Es geht nicht mehr um Inhalte, Fächer und Lernziele, sondern um das Lernen selbst. Alles andere steht immer, überall und jeder zur Verfügung. Der Raum, in dem wir lernen, ist nicht mehr das didaktische Gehege und das pädagogische Reservat, sondern der Digital Space, der überall ist, wo Menschen jeden Alters leben und arbeiten – und also lernen. Wir benötigen keine künstlichen Lernräume mehr, aus denen Menschen am Ende ihrer Bildungskarriere ausgewildert werden müssen, um dann später für punktuelle Weiterbildungen dorthin zurückzukehren wie an eine Ladestation. Die Organisation von Bildung und Lernen vollzieht sich vielmehr in dezentralen Netzwerken, wie ich sie hier beschrieben habe. Um es mit einem Begriff des spanischen Soziologen Manuel Castells zu benamsen: im „Space of Flows“.

In diesem Setting ist der Beruf der Lehrenden in seinen vielen Facetten, Ausbildungs- und Gehaltsstufen nicht mehr gefragt. Die Omnipräsenz und mythisch überhöhte Alternativlosigkeit des Lehrerberufs verdankt sich im Moment nur noch der Tatsache, dass „der Staat“ das Bildungsmonopol hält. Er bestimmt über Inhalte, Ziele, Lehrerausbildung, Zulassung, Zertifizierung und Zugänge zu Berufen. Solange der Staat die Oberhand der Regulierung hat und Bildung ein derart geschlossenes System ist, wird die Lehrerprofession als geschützter Beruf problemlos überleben.

Die Dynamik der Digitalen Transformation weiß dieses Monopol jedoch täglich besser zu umgehen. Menschen, Firmen und Institutionen organisieren Bildung und Lernen um dieses Monopol herum, weil es nicht mehr anders geht. Leben und Arbeiten im Digital Age erfordern ein so hohes Maß an Wissen und Fähigkeiten, die im Bildungssystem nicht entwickelt werden können, dass sich derzeit rund um den Globus völlig neuartige, digital vernetzte, auch vom Kapital getragene Lernformen und Lernformate entwickeln – und zwar sehr erfolgreich.

Was bedeutet das für Menschen, die in lehrenden Berufen unterwegs sind bzw. sich dafür entschieden haben, einen auszuüben?

Sie müssen sich bald einmal weiterbilden. Und zwar selbstverantwortet, dezentral, digital vernetzt und außerhalb ihres eigenen Systems. Ganz wichtig dabei: Das wird ein „Umbilden“ sein. Ein durchaus schmerzhaftes und unausweichliches Verlernen tiefsitzender Rollen- und Menschenbilder, ein Verlernen von Beziehungsmustern im Sinne von „Lehrer und Schüler“. Ein Abschied nehmen von der Mär der eigenen Unverzichtbarkeit – nicht als Mensch, sondern als Profession.

Meine Vermutung ist: Das wird nur Wenigen gelingen.

Solche Prozesse des Umlernens und Umbildens werden nicht mehr in den bekannten Formen und Formaten der Lehreraus- und weiterbildung stattfinden. Nicht mehr in exakt umzirkelten Kursen, die mit Bolognapunkten behängt sind. Diese Formate haben ja ausgedient – bis auf den derzeit noch entscheiden Aspekt der Zertifizierung. Wenn der einmal fällt, fällt das System in sich zusammen. Was mache ich dann, wenn ich ein Lehrer bin? „Dann“ ist es womöglich zu spät, denn du musst den Löwen hören. Wenn du ihn siehst, ist es zu spät.

Welche Perspektiven bieten sich da für lehrende Berufe?

Diese Frage kann ich von zwei Positionen aus beantworten. Erstens: Welche Profession tritt an die Stelle des Lehrerberufs? Zweitens: Wie und wohin entwickle ich mich als Lehrer*in oder Dozent*in weiter?

Zuerst: Eine neue Profession wird es vorderhand nicht geben, weil die Kernfunktionen der alten hinfällig sind. Es wird die alte Profession geben, solange sie „geschützt“ ist. Der Beruf als solcher läuft jedoch langsam aus. Umso absurder ist es IMHO, eine milliardenschwere Industrie am Leben zu erhalten, die ein Professions-System alimentiert, das in einer digital transformierten Kultur nicht mehr gebraucht wird.

Was es hingegen massiv geben wird, sind neue Aufgaben und Funktionen, die sich aus den sich völlig neu formatierenden Bildungsbiografien von uns Menschen entwickeln. Das geschieht ja schon heute in zügigem Tempo. Solche Funktionen platzieren und verteilen sich vor allem in digitalen Kontexten, wo sie ohne Zeitverzögerung („instantan“), in hoher Qualität und in neun von zehn Fällen kostenlos aufgerufen werden können. Von lernenden Individuen jeden Alters ebenso wie von lernenden & arbeitenden Teams: als Text, als Video, in Form einer Community, als Helpline, als MOOC, Tutorial, Online-Kongress, als Online-Forum, und mehr und mehr als „Personal Learning Network“, das sich heute immer mehr Menschen jeden Alters zusammenbauen. Unerreicht ist für mich in diesem Kontext nach wie vor Anja C. Wagners entsprechender Video-Post.

Funktionen, die angesichts dieser rasanten Entwicklungen in den nächsten Jahren wichtig werden, sind begleitende, unterstützende und beratende – und zwar vor allem an den Schnittstellen und Übergängen ins Digitale Zeitalter, und gerade was das Lernen und Arbeiten in diesen neuen technischen, ökonomischen und kulturellen Kontexten betrifft. Diese Übergänge und das „Auswildern“ sind von den allermeisten lernenden und arbeitenden Menschen noch nicht annähernd erreicht, auch nicht von den Angehörigen lehrender Berufe, ihrer Ausbilder und Ausbildungsstrukturen. Aus eben diesem Grund sind lehrende Berufe auch nicht für beratende und unterstützende Aufgaben im Kontext der Digitalisierung geeignet, ungeachtet der Tatsache, dass es in diesen Berufen vereinzelt Menschen gibt, die digital affin sind. Aber Hand aufs Herz: Wie viele vegetarische Fleischer kennen Sie?

Warum aus dem Lehrer kein Coach wird

Wird aus dem Lehrer also in Zukunft ein Coach, wie hier und da zu hören ist? Immerhin weisen das ja (sehr) viele Lehrer vehement zurück. Ich denke auch nicht, dass es so kommen wird. Zum einen ist der ausgebildete und professionell arbeitende Coach nicht wirklich ein Beruf, sondern eine hoch differenzierte Funktion, die weder an Lehr-Lern-Settings gebunden ist noch an sie gebunden werden kann. Sie bezieht ihren Nutzen gerade daraus, dass sie in allen erdenklichen beruflichen Kontexten wirksam wird, wenn es um menschliche Entwicklung geht – und sie wird von Menschen aus freien Stücken nachgefragt.

Der Hauptgrund, warum Lehren und Coachen nicht zusammengehen und sich auch nicht ergänzen, hängt eng mit dem Menschenbild zusammen, dem sich – exemplarisch – das Beratungsverständnis des Schweizerischen Berufsverbands (bso) verpflichtet, der als verantwortliche Institution für die (u.a. eidgenössische) Anerkennung aller diesbezüglichen Ausbildungen und deren Wirksamkeit steht. Im professionellen Coaching trägt der Klient und trägt die Klientin die volle Verantwortung für die Inhalte und Ergebnisse, während der Coach in größtmöglicher Offenheit, Transparenz und in ausnahmslosem Respekt vor den Entscheidungen der Klientin „lediglich“ für den Prozess und seinerseits für die Wahrung der Klienten-Autonomie verantwortlich zeichnet.

Ziel eines jeden Coachings ist, dass der Klient auf selbstbestimmte Weise zu seinen Ressourcen und zu seinen Lösungen findet. Der Coach repräsentiert in keinem Moment gegenüber der Klientin einen Lehr- oder Lernplan. Er vermittelt keinerlei Inhalte und veranstaltet schon gar keine Kontrollsettings, in denen der Klient gegenüber dem Coach Rechenschaft abgibt über seine „Lernfortschritte“. Coaching ist Befähigung zur Selbstführung und zur Selbstorganisation. Bedürfnisse von Klientinnen nach Ratschlag und Unterweisung nimmt der Coach stets zum Anlass, um mit ihnen darüber zu reflektieren, diese Bedürfnisse zu klären und sich klar dagegen abzugrenzen, ohne solche Bedürfnisse dadurch zu entwerten. Coaching ist also ein äusserst anspruchsvolles Setting – und gerade deshalb hoch wirksam.

Wie werde ich ein Coach?

Wer sich also als Lehrende*r über eine offizielle Ausbildung oder auf anderen Wegen zum Coach entwickelt, nimmt sukzessive Abschied von den Kernannahmen des pädagogisch-didaktischen Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler – und überhaupt zwischen Menschen. Wenn ich mich dafür entscheide, Menschen als Coach auf professionelle Weise in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung zu begleiten, kommen folgende Themen und Entwicklungsschritte auf mich zu:

  • Ich mache mich kundig über die drei fundamentalen, theoretischen Bezugspunkte des Coachings: (I) Den systemischen Zugang zum Menschsein und zu unseren Kommunikationen, (II) zum Wirklichkeitsmodell des systemischen Konstruktivismus, und (III) zur Theorie der Selbstorganisation von Mensch und Gemeinschaft.
  • Auf diesem Hintergrund entwickle ich ein Verständnis vom Lernen als Selbstorganisation von Individuen, von Gruppen und Organisationen. Ich setze mich intensiv mit der eigenen Lernbiografie auseinander, mit den vielfältigen Zusammenhängen von Lernen und Krise und mit der Reflexion auf meine persönlichen Krisenmuster.
  • Ich lerne nach und nach zu unterscheiden zwischen kausalen und systemisch-konstruktivistischen Grundlagen der Beratung (sprich: von der Fachberatung zur Problemlösekompetenz), indem ich diese Unterschiede praktiziere und mit anderen zusammen auf diesem Lernweg reflektiere. Ich entwickle eine eigenständige Ethik des Beratens.
  • Ich finde immer mehr heraus über den Sinn von und den Umgang mit Lernstrategien.
  • Ich übe und reflektiere mit anderen zusammen – manchmal durchaus unter professioneller Anleitung
    • die Moderation von Lerngruppen aus der Perspektive des systemischen Coachings,
    • das Konfliktmanagement in Lerngruppen,
    • Digitale und analoge Methoden und Instrumente des Coachings mit einzelnen Personen und mit Lerngruppen.
  • Ich vernetze mich im Verlauf dieser Prozesse immer mehr mit Menschen aus ganz unterschiedlichen Berufsgruppen und Arbeitsfeldern, die ähnlich interessiert sind an diesem Phänomen des Coachings.
  • Ich entdecke mehr und mehr Angebote zur Reflexion, zur Vertiefung, zur Verknüpfung von Coaching-Kompetenz: digital und im Meatspace.

Wenn Sie sich für einen solchen Weg interessieren, empfehle ich Ihnen zwei Anbieter: Das Institut für Angewandte Psychologie, und das Institut für Systemische Impulse – beide in Zürich. Wenn Sie sich einen Überblick über das Beratungsverständnis des Schweizer Berufsverbandes verschaffen möchten, empfehle ich Ihnen die Homepage des bso. Sehr wertvolle Erfahrungen habe ich auch mit dem nach wie vor kostenlosen MOOC „Leading from the Emerging Future“ vom Team um Otto Scharmer am MIT gemacht. Auch hier geht es an vielen Stellen um waschechte Coaching-Kompetenz – die beim Auswandern nach Digitalien äußerst wertvolle Dienste leisten kann.

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Die Rettung der kognitiven Libido

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Was muss eine Absolventin an erster Stelle wissen, wenn sie eine Aus- oder Weiterbildung abschließt? Sie muss wissen, wie sie mit Wissen umgeht. Aber das alleine wird nicht reichen. Sie muss das auch können. Sie muss mit Wissen umgehen können.

Wer die „Vermittlung von Wissen“ gegen eine „Entwicklung von Kompetenzen“ ausspielt, wie das selbst ernannte Untergangspropheten gerne tun (z.B.  Konrad Liessmann), der oder die hat nicht begriffen, dass sich Wissen und Können gar nicht gegenüberstehen. Der Umgang mit Wissen ist ein Können und muss gelernt werden. Es handelt sich um eine zentrale Kulturtechnik, um eine der wichtigsten Kompetenzen der Gegenwart. Für die Frage, wie erfolgreich sich ein Mensch in Kultur, Ökonomie und Gesellschaft zu Recht finden wird, ist dieses Können der entscheidende Maßstab.

Wissen ist Information in Bewegung

Ein Zweites: In vielen Köpfen herrscht noch hartnäckig die Überzeugung, Wissen sei ein „Bestand“. Viel zu wissen, heißt für allzu viele immer noch, Wissen auf Halde zu haben. Volle Speicher. Aber das ist ein Irrtum, der sich vor allem im Bildungssystem konsequent hält und reproduziert. Was in diesen Speichern wirklich lagert, ob es sich nun um Gehirne, Festplatten oder Clouds handelt, sind Nullen und Einsen. Es sind Daten, im besten Fall Informationen. „Wissen“ ist das alles nicht, denn Wissen lässt sich nicht speichern, sondern nur gewinnen – und zwar gerade aus dem riesigen Kosmos an Informationen, die in den Speichern dieser Welt angelegt sind. Wissen ist nicht der Rohstoff, sondern das Produkt. Wenn überhaupt.

Wissen ist Information in Bewegung, im Kontext, in Anwendung. Wissen entsteht im Austausch, im Einsatz, im Diskurs. Deshalb ist Wissen immer auch auf eine Situation bezogen, in der es gebraucht, vermisst oder erfolgreich angewendet wird. Wissen ist nicht „ewig“, sondern höchst situativ. Je situativer desto hochwertiger. Alles andere sind Daten.

Schulisches „Lernen“ verhindert Wissenskompetenz

Ein Drittes: Wissen geht kompetentem Handeln nicht voraus. Wissen ist Handeln. Auch hier wirkt unablässig der Irrtum fort, dass man zuerst „etwas“ wissen müsse, bevor man zur Tat schreiten könne. Auch das ist ein Irrtum, der im Bildungssystem zum Programm gehört. Richtig ist: Wissen, vor allem solches, das ich brauchen kann, entsteht ausschließlich und nur durch Handeln. Von daher kann ich sogar sagen: Was ich wirklich weiß, das weiß ich durch Handeln. Durch die Praxis von Versuch, Irrtum, Austausch, Fragen, Testen, Ausprobieren, Schlussfolgern, Konsequenzen ziehen, Reflektieren, neue Anläufe nehmen, mit einem Wort: durch Lernen.

Es ist gerade der klassische „schulische Kontext“, in dem wir Menschen mit Informationen beschallen, betexten und bedampfen, der die Entwicklung entscheidender „Wissenskompetenzen“ verhindert. Dieses „Mästen“ verhindert a priori, dass Lernende sich die Wissenskompetenzen des 21. Jahrhunderts erwerben können, sprich: Wissen eigenständig zu generieren statt Informationen aneinander zu hängen und zu repetieren. Sie müssten dringend lernen Methoden zu entwickeln, mit deren Hilfe sie das Gewicht, die Qualität und die kontextuelle Brauchbarkeit von Informationen einschätzen und beurteilen lernen, um sie kombinieren und verknüpfen zu können und zu gewichten. Darauf ist Schule leider nicht ausgelegt. Auch die tertiäre Bildung tut sich damit sehr schwer, ebenso wie die berufliche.

Die Art und Weise, wie unsere Bildungsinstitutionen mit Informationen umgehen, wie sie diese hin- und her transportieren um die mächtige Selektionsmaschinerie am Laufen zu halten, lehrt Menschen eines nicht: den kreativen und nachhaltigen, den produktiven und wertschöpfenden Umgang mit Wissen. Das ist angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen in Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft die eigentliche Katastrophe.

Die Rettung der kognitiven Libido

Warum ist das heute noch so? Der Philosoph Peter Sloterdijk sagt: „Die Desorientierung der modernen Gesellschaft über ihre eigenen Ziele spielt sich im Irritationssystem Schule ab wie nirgendwo sonst“. Deshalb würden sich viele darauf beschränken, die Dinge zu erklären, statt etwas zu tun.

Er schlägt eine Schule vor, „die den Eigensinn junger Menschen betont und sie nicht im Blick auf den Ernstfall kolonialisiert“. Er möchte Lernräume entwickeln, in denen „Menschen mit ihrer eigenen Intelligenz in ein libidinöses Verhältnis treten“. In solchen Lernräumen würde es also ganz klar um Lust gehen: um Wissenslust, Lernlust, Gestaltungslust; um Lust am Lernen.

Was wir brauchen, ist also nicht noch mehr Schule, oder eine andere, eine digitale Schule, oder neue Fächer oder andere Lehrer.

Wir brauchen ein komplett anderes Bildungsdesign.

Solidarität als Placebo. Ein Gedankenexperiment

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heilpraxisnet.de

Hier die Guten, dort die Bösen. Und wo sind die Solidarischen? Irgendwo dazwischen? Ich vermute: Es gibt sie nicht. Weder die Soldarischen noch die Solidarität. Letztere wurde durch Loyalität ersetzt. Lückenlos. Solidarität ist eine Schimäre, die uns erlaubt, das Gesicht zu wahren – nicht vor den Leidenden dieser Welt, sondern vor uns selbst. 

Am Anfang steht die Manipulation der Maschine Mensch

Die Psychologie sagt uns, dass wir die Menschen mit positiven Bildern fluten müssen, damit sie sich auf wünschbare Ziele hin bewegen. Wir müssen positive Bilder zur Verfügung stellen. Das ist ebenso Manipulation wie das Gegenteil: Mit negativen Bildern zu feuern. Der Gedanke dahinter, dass wir Menschen mit Bildern zu versorgen haben, ist von der Manipulation motiviert. Weil wir sie damit zu etwas bewegen möchten. Damit sind wir schwupps im Führungskräfteseminar und bei der Frage, wie wir Mitarbeitende motivieren. Oder Schüler, oder Kunden, oder Patienten. Wir haben ein technoides Verständnis vom Menschen, der wie eine Maschine mit Treibstoff versorgt werden muss, um überhaupt vom Fleck zu kommen. Betankt. Deshalb sind wir auch schnell bei Metaphern wie der Versorgung des Körpers mit Nahrung und Wasser – damit er überhaupt „funktionieren“ kann.

Nächste Zutat: Die Verkindlichung des Menschen

Solche Bilder zeigen die Verkindlichung des Menschen an. Wir gehen davon aus, dass er weder in der Lage ist, seinen Nährstoffhaushalt selbstständig zu organisieren, noch sein soziales Leben. Er muss (wir sagen: will) geführt werden. Er muss (wir sagen: will) gesagt Bildschirmfoto 2018-07-23 um 12.15.20und gezeigt bekommen, wo es lang geht. Er muss (wir sagen: will) gefüttert werden. Omnipräsente Verkindlichung. Wir verlängern eine Lebensphase der Abhängigkeit ins Unendliche, ins Kultürliche. Das Ergebnis ist der versorgte Mensch. Der loyale. Das ist unsere Kultur heute. Und damit das so bleibt, versorgen wir den Menschen mit Bildern. Wir fragen ihn, was er dabei sieht und geben ihm zwei Alternativen zum Ankreuzen vor.

Diese Bilder werden gegenwärtig hoch ambivalent: Hier die apokalyptischen, dort die paradiesischen. Hier Flüchtlingskrise und Weltuntergang, Flüchtlingsuntergang und Weltkrise, dort Grillparty und Malediven. Hier die vollen Regale, dort vom Plastikmüll verseuchte Meere. In ihrer Ambivalenz driften die Bilder auseinander. Sie zeichnen sich klar gegeneinander ab und sind zeitgleich präsent. Als Bilder, nicht als Welt.

Die konsequente Unterbindung menschlichen Reifens

Das steigert die Hilflosigkeit und Überforderung der verkindlichten Massen. Denn die werden und wurden konsequent mit Bildern (und Wahrheiten) nur gefüttert – und zwar ab ovo. Deshalb haben sie nicht gelernt zu unterscheiden. Unterschiede werden ihnen immer schon präsentiert. Ethik als Multiple Choice. Sie haben nicht gelernt zu entscheiden, weil die Alternativen immer schon bewertet vorliegen. Sie müssen nur richtig ankreuzen. Sie haben nicht gelernt, Zusammenhänge zu erkennen, weil sie ihnen immer schon erklärt werden. Deshalb können sie sie nicht verstehen, nur zustimmen oder ablehnen. Sie haben nicht gelernt, eine innere Stimme zu entwickeln, die ihnen erlaubt, Ambivalenz auszuhalten und aus Empathie heraus zu agieren. So wird Loyalität zu einer Überlebenstechnik. Niemand beißt die Hand, die ihn füttert.

Wo Solidarität war soll Loyalität werden

Solidarität bedeutet an der Wurzel, den Schutzraum der eigenen Herde zu verlassen um für einen Moment die Seite zu wechseln. Der möglichen Konsequenzen gewahr. Solidarität macht auf einen Schlag einsam, weil sie den Schutz der Herde aussetzt. Hingegen sind Solidaritätsbekundungen heute tribale Selbstvergewisserungsmanöver. Selbstinszenierung mit Sieh-Her-Effekt. Gegen die CSU zu sein, verbindet. Die Empörung gegen das medial präsent gehaltene Elend ist das scharfe Gewürz im Einheitsbrei der individuellen Sinnsuche. Und mit meiner Spende delegiere ich meine persönliche Verantwortung an dafür zuständige Organisationen. Gutes zu tun bedeutet jene zu unterstützen, die Gutes tun. So halte ich mich raus. Skin off the game.

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shortstatusquotes.com

Die einen haben Angst, angesichts voller Teller zu verhungern und geifern gegen jeden Hungrigen, der sich dem Tisch auch nur nähert. Die anderen haben Angst vor den Geifernden und davor, im Kontakt mit ihnen kontaminiert zu werden. Beide Parteien nehmen die Siechenden als Geiseln für das Zurechtrücken des eigenen Weltbildes. So bleibt allen nichts als die Loyalität mit der eigenen Gruppe. Das Ergebnis ist eine sich selbst potenzierende Angst – und zwar voreinander.

Wir sind nur noch loyal. Es kann uns nur noch um uns gehen. Solidarität ist ein Mittel zu diesem Zweck geworden. Zementiert durch die kontradiktorische Omnipräsenz der Bilder. Währenddessen nehmen die Dinge ihren Lauf. Exponentiell.

Warum es digitale Geschäftsmodelle so schwer haben

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Quelle: https://centreforaviation.com/

Sechs von zehn deutschen Firmen gehen davon aus, die kommenden drei Jahre ohne jegliche Digitalisierungsmaßnahme zu überstehen. Neue Geschäftsmodelle stehen auch nicht im Fokus. Und nur wenige sehen in Google, Amazon & Co. die stärksten Wettbewerber. Das zeigt eine aktuelle Studie.

Die tatsächlichen Themen und Herausforderungen der Digitalen Transformation werden in den Führungsetagen nicht realisiert. Nicht in ihrer Dimension als disruptive, radikal kulturverändernde Entwicklungen, die in immer kürzer werdenden Sprüngen die Wirksamkeit von Führungs- und Managementhandeln außer Kraft setzen – und erst recht traditionelle Geschäftsmodelle.

Meine konkrete und tägliche Erfahrung ist: Menschen in Führungsverantwortung lassen diese grundsätzlichen und sehr konkreten Disruptionen nicht an sich heran. Sie setzen sich nicht damit auseinander. Wenn überhaupt, dann delegieren sie das komplette Paket an ihr untergeordnetes Umfeld, lassen Assistenzstellen erfinden und leiten Organisationsentwicklungsmaßnahmen ein, die das wirkungslos gewordene, klassische Organigramm noch einmal erweitern um Stabstellen, Abteilungen und Zuständigkeiten, die in den herkömmlichen Mindsets, Strukturen und Prozessen diese Digitalisierung irgendwie neutralisieren sollen.

Rückwärtsgewandte Change-Prozesse als Besitzstandswahrung

Es ist überhaupt erstaunlich, wie viele Strategie- und Change-Prozesse es im Moment auf breiter Ebene gibt, die an den entscheidenden Punkten die Digitalisierung konsequent ausblenden und umschiffen: als eine neue Form der Organisation aller Funktionen, Aufgaben und Zuständigkeiten. Auch fällt mir auf, dass im Kontext der Digitalisierung vor allem solche Stellen geschaffen, ausgeschrieben und besetzt werden, die auf die operative Ebene ausgerichtet sind. Ähnlich wie in früheren Zeiten die Human Resource Partner wenig anderes waren als Handlanger des Finanzchefs, nicht wirklich befugt und in der Lage, die Floskel vom Mitarbeiter als wertvollster Ressource des Unternehmens auch nur annähernd umzusetzen, verfährt das Management heute mit dem Thema Digitalisierung praktisch identisch.

Diesen Delegations-Reflex erlebe ich im Moment als besonders dramatisch, denn überall in Organisationen und Institutionen, wo Menschen mit der realen Welt in Kontakt kommen, ist die digitale Transformation ja vollzogen. Alle Funktionen und Aufgaben, die Menschen dort haben, sind geprägt durch die Merkmale dieser Transformation: Ignoranz gegenüber traditionellen Hierarchien und Zuständigkeiten, dezentralisierte Netzwerke wohin mann und frau schaut: in der Kommunikation, in der Entwicklung, in der Forschung, in jeder erdenklichen Form von Dienstleistung, in der Organisation von Wissen, Information, Produkten und Prozessen. Überall.

Dadurch entsteht ein doppelter Schaden: Immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden zerrieben zwischen den Ansprüchen der Märkte, Kunden und Partner und den Prügeln, die die eigene Organisation ihnen pausenlos zwischen die Beine wirft über nochmals zunehmende Kontrollfetischismen, hierarchische Überwachungsmechanismen und Maßnahmen der Organisationsentwicklung, die den verbleibenden Rest an zeitlichen und mentalen Ressourcen fressen. Das ist der Sache nach nichts Neues. Es verstärkt sich im Moment einfach.

Digitale Geschäftsmodelle sind keine digitalisierten Neuauflagen

Zum anderen unternehmen Unternehmen und Organisationen nichts oder viel zu wenig, um digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln. Stattdessen digitalisieren sie lediglich ihr herkömmliches Modell. Zwischen diesen beiden „Strategien“ ist ein himmelweiter Unterschied. Dieser Unterschied wird aber auf Führungsetagen nicht gemacht – und auch nicht bei Weiterbildungsangeboten für Führungskräfte, denn „mann“ will ja seine Cash Cows nicht (v)erschrecken. Niemand will sich die Finger an diesen heißen Eisen verbrennen.

Eine erfolgreiche digitale Zukunft für Unternehmen und institutionelle Dienstleister hebt in dem Moment an, in dem sie diese Unterscheidung machen können. Dann erst erkennen sie das Potenzial der Plattform-Ökonomie, der Digital Eco Systems, und sie werden digital handlungsfähig. Sie starten das dezentrale Networking und eine Kollborations-Offensive über die engen Grenzen der ehemaligen Silostrukturen hinaus.

Oder sie gehen sang- und klanglos unter.

 

 

 

Wider die digitale Spaltung (in) der Gesellschaft

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Anja C. Wagner diskutiert in ihrem Video Blog „Anja Time“ die digitale Spaltung in der Gesellschaft. Sie liefert eine messerscharfe Analyse: In der deutschen Debatten-Kultur ist die Motivation, sich als kritischer, konstruktiver Geist aktiv im Netz einzubringen, nur schwach ausgebildet. Kein Wunder, denn diese Motivation muss erst einmal aufgebaut werden. Weil dies nicht geschieht, weder in Schule und Hochschule, noch in Aus- und Weiterbildung, passiert gerade dadurch sehr viel „Digital Devide“ – also digitale Spaltung zwischen einer sehr großen Zahl von Menschen, die digitale Analphabeten sind und bleiben, und einer sehr kleinen Anzahl, die das Netz für sich zu nutzen wissen.

Warum ist das so und wie gehen wir dagegen an?

Ein entscheidender Grund für diese digitale Spaltung sieht Anja C. Wagner hier: Zu wenig Leute trauen sich „ins Netz“, weil in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit gegen die Möglichkeiten der Sozialen Medien Stimmung gemacht wird. Stichwort: „digitale Demenzdebatte“, so Anja. Schlagzeilen wie „Ein Zuviel an digitalem Engagement ist schädlich“, beherrschten in vielen Varianten den öffentlichen Diskurs – vor allem, so meine eigene Wahrnehmung, im Bildungssystem. Gerade dort ist der reflexartige Vorbehalt gegen die Möglichkeiten des Digitalen Netzes übermächtig.

Für Anja gibt es eine Menge einflussreicher Leute & Institutionen, die diesen kulturpessimistischen Reflex konsequent zu einer Propagandamaschine gegen das Netz aufrüsten. Erstens weil sie davon ganz gut leben, und zweitens weil sie damit auch Gehör finden. Anja spricht hier von „bashing“ gegenüber Sozialen Medien: „Die wollen doch nur an eure Daten, die wollen euch nur ausnehmen“.

Diesen Refrain hält sie für fatal, weil die sozialen Netzwerke einfach nicht mehr wegzudenken seien. Deshalb müssten wir lernen, sie zu bespielen. Wir müssen sie laut Anja nicht gut finden, aber wir müssen lernen, sie zu nützen. Hingegen dominiere derzeit vor allem das Bashing die Diskurse und verhindere eine echte Auseinandersetzung. Im Ergebnis prägen Menschen & Institutionen damit den Diskurs auf eine Weise, dass sich ganz viele Menschen davon abhalten lassen, selber ins Netz zu gehen und netzwerkfähig zu werden, weil sie das Phänomen noch gar nicht einschätzen können, und sich dann sagen: „Dann lass ich das lieber bleiben, wenn alle sagen, dass es nichts ist, denn die müssen sich ja auskennen.“

Für Anja sind das die fatalen Signale, und sie fordert, dass wir unbedingt an diesem gesellschaftlichen Diskurs arbeiten müssen. Dass wir nicht nur die Machtinteressen zum Thema machen, die den Internet-Konzernen und ihren Geschäftsmodellen ritualartig unterstellt werden, sondern dass wir auch die hinterfragen, die ein Interesse daran haben, dass die Mehrheit der Leute digitale Analphabeten bleiben.

In Deutschland, so Anja, sind wir viel zu zurückhaltend, um dieses gigantische Potenzial, das früher nur großen Medienanstalten zur Verfügung stand, für uns zu nutzen. Wir dürfen das nicht länger brach liegen lassen.

Ihr Vorschlag: Menschen befähigen sich selbst & gegenseitig, diese Instrumente und ihre Wirkmechanismen einzusetzen – sie für sich zu nutzen.

Darum geht es in ihrem Video-Blog-Beitrag, den Sie hier abrufen können.