
Unser Ziel ist nicht die Digitalisierung des Lernens und Arbeitens. Unser Ziel ist es, gemeinsam eine neue Kultur des Lernens und Arbeitens zu entwickeln, die uns befähigt, die Möglichkeiten und Herausforderungen der Digitalen Transformation aktiv zu gestalten. Es geht jetzt darum, dass wir uns neu erfinden. Als Menschen, als Gemein- und Gesellschaften. Die Frage, welchen Sinn individuelle Existenz und das Zusammenleben von Menschen haben, stellt sich gerade radikal neu.
Unter zunehmendem politischem Druck interpretieren Schulen die Digitalisierung rein technologisch und fangen damit an, Klassenzimmer und Infrastrukturen digital aufzurüsten – während sie den Einsatz individueller Devices großflächig untersagen. Sie importieren digitale Tools und Medien in die klassischen Unterrichtsformate und stiften dadurch mehr Verwirrung als sie Unterstützung bieten – bei allen Beteiligten. Zugleich reduzieren sie den dringend nötigen Diskurs über die Zukunft des Lernens auf Fragen und Probleme der technischen Infrastruktur.
Was Schulen und andere Bildungsinstitutionen übersehen, ist der kulturelle Impact der Digitalisierung. Der wird mit dem Begriff „Digitale Transformation“ erfasst. Hier geht es nicht mehr um technische Auf- und Ausrüstung, die mittlerweile völlig selbstverständlich ist. Es geht um eine tiefgreifende (!) Veränderung unserer Kultur: Kommunikation, Abläufe und Prozesse, Projekte, Organisation, Zusammenarbeit, das alles verändert sich im Moment und in Zukunft radikal. Digitale Transformation bedeutet, dass alle Formate, in denen wir als Menschen unterwegs sind, dass das Framing unseres individuellen, sozialen und ökonomischen Handelns sich völlig verändert – und damit auch die Spiel- und Handlungsfelder.
Unser Dasein in Raum und Zeit verändert sich
Die Ansprüche an unser Menschsein (Lernen, Arbeiten, Gesellschaft gestalten) und die Art, wie wir damit umgehen: beides verändert sich durch digitale Technologien völlig. Wir entwickeln z.B. eine ganz andere Beziehung zum Raum, in dem wir leben, lernen und arbeiten, in dem wir uns aufhalten und bewegen, in dem wir „sind“. Auch unsere Beziehung zur Zeit verändert sich. Warum wir in welcher Zeit wohin fahren oder gehen sollten, im Stau stecken oder in überfüllten Zügen, um uns hier oder dort aufzuhalten, um Dienstleistungen zu erbringen, um etwas zu kaufen, um Wissen zu generieren, um uns aus- und weiterzubilden, um unsere Arbeit zu machen: diese Notwendigkeiten fallen nach und nach weg. Der Grund dafür liegt in den Gelegenheiten, die uns die Digitalisierung als technologisches Phänomen gibt, es anders zu machen: menschlicher, verträglicher, ökologischer. Durch die Digitalisierung verändert sich unser Verhältnis zu physischen Räumen, weil wir sie jetzt und in Zukunft anders nutzen können: viel offener, spontaner, vielfältiger. Zwei besonders eindrückliche Beispiele für Orte, die sich in ihrem Wesen radikal verändern, sind der „Arbeitsplatz“ und der Ort, an dem wir lernen.

Zuerst einmal fallen mit diesen neuen Gelegenheiten bestimmte Notwendigkeiten weg. Wir müssen nicht mehr an einen eigens gestalteten Arbeitsort fahren, dort ein- und wieder auschecken. Lernende müssen nicht mehr an einen eigens dafür gestalteten Lehrort fahren, nicht an eine Uni, an eine Schule oder an ein Seminarzentrum. Warum nicht? Weil derzeit in den beiden zentralen gesellschaftlichen Funktionen des Lernens und des Arbeitens das für die Digitale Transformation charakteristische Phänomen der Dezentralisierung greift. Dadurch wurde zuerst eine Flexibilisierung möglich: entweder am Arbeitsplatz oder zuhause arbeiten. Mittlerweile werden die Alternativen immer vielfältiger – „Zentralen“ und zentrale Orte werden von Netzwerken abgelöst.
Zentren und Zentralen werden durch Netzwerke abgelöst
In wenigen Jahren schon ist es nicht nur für die Arbeit selbst einigermaßen irrelevant, wo ich sie erledige. Die Art von Arbeit, die für Menschen übrig bleibt oder neu entsteht, ist nicht mehr an Orte gebunden und auch nicht an fixe Zeiten. Vielmehr kann ich an jedem beliebigen Ort jederzeit „meine Zelte aufschlagen“, weil ich jederzeit Zugang zum Internet oder zu physischen Netzwerkknoten habe, wo ich meine Arbeitskolleginnen und Geschäftspartner finde. Den Takt geben dabei nicht mehr die Büro- oder andere Öffnungszeiten vor, sondern die Absprachen, die Menschen miteinander treffen, wann sie welche Aufgaben miteinander bearbeiten. Exakt darauf müssen Schule und Ausbildung vorbereiten – und das können sie nur, wenn sie selber nach diesem Prinzip funktionieren – und das können sie nur, wenn sie das Prinzip verstanden haben. Dass unsere Schulen hier noch nirgends sind und völlig in ihren alten Mindsets gefangen, wird langsam aber sicher zu einem echten Problem – jenseits der Frage nach digitaler Aufrüstung.
Was für die Arbeit der Zukunft gilt, gilt also auch für das Phänomen des Lernens. Bis heute binden wir es an fixe Zeiten und Zeitrhythmen, an Räume (Klassenzimmer, Hörsäle). Das Lernen ist also bereits heute viel stärker hierarchisch determiniert als das Arbeiten, weil es durch Lernziele, Lerninhalte (Curricula), eng gefasste Prüfungsformate, Bewertungskriterien ohne echte Aussagerelevanz, und am Ende durch Zertifikate (Zeugnisse, Diplome) strukturiert ist. Während sich die menschliche Arbeit mehr und mehr den gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen der Digitalen Transformation anzupassen weiß, ziehen sich Lehren und Lernen immer mehr zurück in die traditionellen Formate und beharren darauf, dass es sie genau so geben muss, wie es sie immer gegeben hat: In physischer Präsenz, zu fixen Zeiten, nach Jahrgängen und Fächern getrennt, durch Prüfungsrhythmen getaktet, von Wissensvermittlern überwacht. Doch genau diese Phalanx, diese Architektur von Lernen ist durch die Digitale Transformation hinfällig geworden.

Reaktionäre Reaktionen sind verständlich aber brandgefährlich
Die zunehmende Nomadisierung von Arbeit und Lernen spült im Moment krasse Gegenreaktionen an Land. So genannte Experten führen die Trägheit des Menschen und seine „analogen Bedürfnisse“ gegen offene Formen des Lernens ins Feld. Die Unverzichtbarkeit des physischen Raumes wird lautstark betont und mit der „Beschaffenheit“ arbeitender und lernender Menschen begründet. Es wird davor gewarnt, Arbeiten und Lernen „ins Internet“ zu verlegen.
Das übelste Argument lautet, dass sowohl arbeitende als auch lernende Menschen „das alles gar nicht können“: Arbeitsräume und -zeiten selbstverantwortet gestalten, Arbeits- und Lernprojekte kollaborativ organisieren. Aber gerade dieses Argument ist nichtig, weil sich Lernen ja gerade dadurch auszeichnet, dass Menschen lebenslang in Situationen kommen, in den sie etwas „noch nicht können“ und sich neue Fähigkeiten und Wissen anzueignen. Das ist Lernen!
Und woher sollen Menschen diese Kompetenz, ihr Lernen selbstverantwortlich und kollaborativ zu gestalten, heute bereits nehmen, wenn das staatliche Bildungswesen alles dafür tut, die Entwicklung dieser Kompetenzen zu vernachlässigen? Dass also „einige Menschen dann nicht (oder schwer) lernen, wenn man wenig Vorgaben macht, sondern vor allem Räume und Anregungen bietet, ist kein Freipass dafür, Fremdsteuerndes im Bildungssystem weiterzupflegen, sondern Anlass dazu, gemeinsam herauszufinden, wie Menschen Selbststeuerungsfähigkeit und Selbststeuerungsfreude auf- und ausbauen“ (Christof Arn in einem Beitrag auf agiledidaktik.ch)
Wie lösen wir das Problem statt es zu verstärken?
- Wir individualisieren das Lernen radikal. Damit ist keine Isolierung des Lernens gemeint, sondern eine technische, räumliche und zeitliche Erweiterung der Gelegenheiten: Wir nehmen lernende Menschen als Individuen wahr und ermöglichen ihnen, ihr Lernen gemäß ihren Bedürfnissen, Potenzialen, Interessen und Grenzen zu gestalten, Ihr eigenes Lerntempo zu finden und ihre Lernprozesse eigenverantwortlich zu gestalten. Schon diese Individualisierung führt zu einer fundamentalen Humanisierung des Lernens, weil lernende Menschen in ihren prägenden Lebensphasen nicht mehr jahrelang über einen Kamm geschoren werden und gemeinsam durch ein einziges Nadelöhr kriechen.
- Wir ermöglichen und fördern Strukturen, Räume und Orte, „die Scheitern zulassen und in Lernen überführen, weil sonst offene Prozesse nicht gewagt werden können. Qualitätsmanagement, Evaluation, Kontrolle in herkömmlichen Formen sind überwiegend schädlich. Es braucht dafür neue Ideen“. (Christof Arn)
- Kollaboratives Lernen: Wir vernetzen Lernen von Grund auf, indem wir Lernnetzwerke bilden: Colearning-Spaces und Colearning-Labs phyischer und digitaler Art (konkret: hier).
- Wir ersetzen Lehren durch reziproke Formen des Coaching. Wenn wir im Rahmen einer neuen Kultur des Lernens entsprechende Prozesse und Projekte etablieren, dann treten Funktionen des Coachings und der systemischen Beratung und Begleitung des Lernens an die Stelle des Lehrens. Unterstützung beim Lernen erhält dadurch den Charakter der Gegenseitigkeit. Begleitung beim Lernen und (Er-)Arbeiten von Lösungen erfolgt bedarfs- und situationsorientiert. Lernende lernen, sich Hilfe zu holen und selber als Coaches sichtbar zu sein.
- Lehrpläne, Modulbeschriebe, Prüfungsreglemente werden – wenn man denn unbedingt an ihnen festhalten muss – „so formuliert, dass die Lernenden eigene Ziele setzen und sie auf selbstgewählten Wegen anpacken können“ (Christof Arn).