Der Algorithmus des Bildungssystems, oder: „Für die Schüler sind wir das Internet!“

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Ein Lehrergehirn springt immer in dem Moment in den Habacht-Modus, wenn es von draußen etwas hört, das (s)einer Korrektur und Richtigstellung bedarf. Darauf ist das Lehrerinnengehirn konditioniert. Erstens dadurch, dass es, als es selbst noch ein Schülergehirn war, sehr gründlich die Auffassung verinnerlicht hat, dass Korrektur und Richtigstellung, dass Gewissheit und die Unterscheidung von richtig und falsch nur durch eine Autorität geleistet werden kann. Zweitens dadurch, dass es diese Lernerfahrung später in seinem Leben mit Hilfe eines Lehramtsstudiums in eine Lehrerfahrung zu transformieren lernte. Jetzt ist aus dem Schülergehirn also ein Lehrergehirn geworden, das jedoch in seiner Grundhaltung ein Schülergehirn geblieben ist.

In Aus- und Weiterbildung sind also Menschen tätig, die nicht das System gewechselt, sondern die lediglich einen anderen Platz eingenommen haben, von dem aus sie jetzt für die Reproduktion dieses Systems sorgen – eines Vermittlungssystem, das durch diese Vermittlungsarbeit dafür zu sorgen sorgt, dass Zutreffendes und Richtiges vermittelt wird und Nichtzutreffendes und Falsches nicht vermittelt. Die dafür sorgen, dass es zu diesem Zweck im Prozess der Vermittlung identifiziert und korrigiert wird („Habacht-Modus“) unter Rückgriff auf Unterlagen (Lehrpläne, Curricula, Lehrmittel usw.), in denen nicht nur die wirkliche Wirklichkeit festgeschrieben ist, sondern auch die Art, wie diese vermittelt wird und wie nicht – um tunlichst zu vermeiden, dass die Wirklichkeit des Bildungssystems und damit die der wirklichen Wirklichkeit falsch vermittelt wird.

Konkret

Ein Mathematiklehrer des Gymnasiums sagte zu mir: „Die Mathematik hat sich die letzten 100 Jahre nicht verändert. Warum also sollte sich der Mathematikunterricht verändern?“

Das Bildungssystem vermittelt und prüft also nicht nur pausenlos wirklich Richtiges in Abgrenzung von wirklich Falschem. Es vermittelt auch ganz fundamental und hermetisch ein Welt- und Menschenbild, sprich: Lernende Gehirne lernen in Aus- und Weiterbildung, dass dies die einzig wirkliche Wirklichkeit ist: dass Lernen immer die dankbare Erkenntnis und Annahme von vermittelt Richtigem ist und nur dann richtig funktionieren kann, wenn es von einer Autorität kontrolliert wird, die den Übergang von einem defizitärem Wirklichkeitszugang zu einer wirklichen Wirklichkeit garantiert, denn nur dann hat das lernende Gehirn einen ordnungsgemäßen Zugang zu dieser Wirklichkeit.

So entsteht ein Welt- und ein Menschenbild.

Konkret

Ein Berufschullehrer um die Vierzig meinte in vollem Ernst während einer Weiterbildung im vergangenen Winter vor versammelter, sich weiterbildender Mannschaft: „Wir brauchen kein Internet. Für die Lernenden bin ICH das Internet.“

Ohne Lehrperson also kein Weltzugang. Zumindest kein richtiger.

In diesem, vom Bildungssystem vermittelten Welt- und Menschenbild, ist der Weltzugang des lernenden Gehirns und der Zugang zu sich selbst jederzeit defizitär. Sowohl formal als auch inhaltlich. Das ist in diesem System „die Wirklichkeit“. Der Grund für das „Man(n) lernt nie aus“, hängt also nicht damit zusammen, dass es für ein lernendes Gehirn unendlich viel zu entdecken und zu kombinieren gibt. Es hängt damit zusammen, dass das lernende Gehirn (in diesem Welt- und Menschenbild) fundamental defizitär ist und ohne Anleitung durch korrigierende Autoritäten schlicht in die Irre geht – angesichts dessen, was es alles zu entdecken und zu kombinieren gibt. Das ist es, was ein lernendes Gehirn in Bildungssystemen als erstes und vor allem lernt.

Deshalb rennen im Moment auch alle wie wild in Weiterbildungen zum Thema „Digitalisierung“, statt sich einfach aufzumachen ins Netz und gemeinsam zu lernen, wie das geht. Wie soll das auch gehen, ganz ohne Lehrer? Ohne jemanden, der mir einen Plan macht und mich an der Hand nimmt und durchs Labyrinth führt?

In diesem Welt- und Menschenbild versteht das lernende Gehirn immer irgendetwas nicht richtig oder falsch und bedarf der Korrektur – und zwar immer durch korrigierende Systeme in der so genannten Außenwelt. Navigationssysteme, die mir sagen, wo es langgeht.

Immer wenn es um Bildung und Lernen geht (also immerimmer), sind diese Navigationssyteme zuerst durch Autoritäten repräsentiert, die in Bildungssystemen vorfindlich sind und durch diese zertifiziert. Im weiteren Verlauf des Lebens haben Vorgesetzte und PolitikerInnen dann ähnliche Funktionen – im Sinne einer Ableitung von der Ursprungsautorität des Bildungssystems.

Das lernende Gehirn (ein Pleonasmus, ich weiß) hat gelernt, dass es lebenslang Systeme braucht, die ihm (also dem lernenden Gehirn) die zutreffenden und richtigen Informationen über die Welt und den Zugang zu ihr vermitteln, nicht zuletzt, indem diese Systeme ständig richtig von falsch unterscheiden, denn das lernende Gehirn hat ja gelernt, dass es diese Funktion des Unterscheidens von Richtig und Falsch ohne eine korrigierende Autorität nur defizitär auszuüben in der Lage ist.

Soweit der Algorithmus des Bildungssystems

Das lernende Gehirn hat gelernt, dass es zeitlebens Lehrerinnen (und irgendwelche andere Vorgesetzte oder Politikerinnen) braucht, die ihm jederzeit mit der entsprechenden („diplomierten“) Autorität „sagen“, was richtig und was falsch ist. Und nicht zu vergessen: Ein lernendes Gehirn lernt in eben diesem System, dass es zeitlebens von diesem System abhängig sein wird, denn es lernt während seiner gesamten Lern-Biografie, also quasi lebenslang, dass es selbst immer nur korrekturbedürftige Bilder, Vorstellungen und Begriffe von der Welt (und auch von sich selbst als Teil dieser Welt) wird „herstellen“ können, die nur durch ein fortlaufendes, systematisches Korrekturwesen, repräsentiert durch korrigierende Autoritäten, richtig gestellt werden können.

Sicherheit gewinnt das lernende Gehirn (ein Pleonasmus, ich weiß) also in unsicheren Situationen nur, so hat es gelernt und lernt es pausenlos von Neuem, wenn es sich, je größer die Unsicherheit umso sicherer, an korrigierende, weil besserwissende Autoritäten wendet, die ihm sagen, was richtig und was falsch ist, und was jetzt wie zu tun ist, sprich: wie es weitergeht.

Das lernende Gehirn hat gelernt und ist tief und fest davon überzeugt, dass es ohne diese Autoritäten verloren ist. Deshalb ruft es nach ihnen. Deshalb googelt es sie.

Sicherheit gibt nur die Autorität

Das ist so ziemlich der einzige Grund, warum die Mehrheit der Menschen ganz tief davon überzeugt ist, dass es Autoritäten braucht, die über richtig und falsch bestimmen und dafür sorgen, dass das wahrlich Richtige auch getan wird. Das ist nicht die Natur des Menschen, liebe Frau Lehrerin, das haben er und sie aus der Schule.

Schule infantilisiert fürs Leben.

Es ist auch der Grund dafür, dass sehr, sehr viele Menschen pausenlos nach solchen Autoritäten rufen, damit jetzt endlich mal etwas geschehen möge. Es ist auch der Grund, warum die wenigsten Menschen realisieren, was ihr eigener Anteil am Lauf der Dinge und der Welt ist – denn dafür können sie ja (in diesem Welt- und Menschenbild) aufgrund ihrer defizitären Daseins- und Denkstruktur gar nicht zuständig sein, und ihre lernenden Gehirne haben sehr früh gelernt, dass alles, was sie wahrnehmen und fühlen, was sie zu sehen und zu denken glauben, ohne die Prüfung einer korrigierenden, äußeren Autorität gar keine Geltung erlangen kann.

Wenn wir also wollen, dass mehr Menschen als bisher ihr Leben, ihr Entscheiden, ihr Handeln und die Verantwortung für das, was sie sagen und denken und tun übernehmen, sich in dieser Haltung zusammenfinden und mehr und mehr in Prozesse gestaltend und visionär eingreifen, wenn wir wollen, dass sie zusammen dafür sorgen, dass sich die Spiralen des Wahnsinns wieder abflachen, verlangsamen und sich in andere, humane und nachhaltige Richtungen entwickeln, dann müssen wir uns von diesem Algorithmus des Bildungssystems verabschieden, der uns an diesen Punkt gebracht hat, wo wir heute stehen.

Dann müssen wir aufhören mit der Infantilisierung des Menschen durch lehrende und erziehende Systeme. Dann müssen wir dem Menschen (dir, mir und uns) jene Verantwortung zumuten, die ihm und ihr von Alters her von den großen Denkerinnen und Denkern zugesprochen und unterstellt wird.

Dass wir aufgehört haben, an die Kraft und die Möglichkeiten zu glauben, die im Menschen schlummern, ist ein Effekt des Bildungssystems, das diese Regel zur Ausnahme erklärt hat und systematisch dafür sorgt, dass es eine bleibt.

Es ist an der Zeit, diese Kiste über Bord zu werfen und neu anzufangen – und zwar so.

Autor: Christoph Schmitt PhD, Bildungsdesigner, Colearner, Coach & Supervisor ZFH

Bildungsaktivist | LinkedIn Top Voice | Colearner | TEDx Speaker | Bildungsdesigner | Bildungsethiker | systemischer Coach & Supervisor | Rituals Expert | Blogger | Nörgler | Ressourcenklempner. Ich unterstütze alles, was mit Aus- und Aufbrechen aus Beschulung zu tun hat. Für Jung UND Alt. Meine Kernkompetenz: Entwicklung ganzheitlich begleiten, moderieren, inspirieren.

2 Kommentare zu „Der Algorithmus des Bildungssystems, oder: „Für die Schüler sind wir das Internet!““

  1. Auf den Punkt gebracht! Vielen Dank Christoph. Ich staune immer wieder wie nervös die Studierenden werden, wenn ich meine, wir machen uns auf den Weg und sehen, wo er uns hinführt. „Ja, aber welche Lernziele müssen wir können?“ „Vergessen Sie die Lernziele, sie sollen denken!“ Offene Münder, Schockiertheit und teilweise Panik. Nach ein paar Wochen mit mir finden sie es dann cool, selbst zu denken, zu entdecken, zu diskutieren, gemeinsam zu forschen, zu hinterfragen, zu produzieren und einfach sich selbst zu sein. Und ich lerne selbst wahrscheinlich am meisten – von meinen Studierenden.
    Herzlichst Miriam

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