Die beliebteste Erklärung dafür, dass Organisationen und die Menschen in ihr entwicklungsfaul sind, lautet: Sie haben Angst vor Veränderung. Nun ist Angst aber dafür da, um mit ihr umzugehen: um etwas aus und mit ihr zu lernen, um die Kräfte, die mit ihr verbunden sind, nutzbar zu machen. Angst ist vor allem ein Antrieb. Das haben wir gründlich vergessen. Wir haben Angst vor der Angst. Wir lassen uns vor allem von ihr lähmen. Und das, obwohl die Ursachen für lähmende Angst heute so gut wie ausgestorben sind in unseren Breiten.
Wir sind in unseren hochgezüchteten, westlichen Versorgergesellschaften in keinem Moment mehr Gefahren ausgesetzt, die einen Totstell-Reflex von uns verlangen würden. Dennoch praktizieren wir vor allem diesen Reflex: Nicht bewegen, bis alles vorbei ist.
Die Angst vor der Veränderung
Wer keinen Grund sieht, sich und die Umstände, in denen er lebt zu verändern, verändert sich nicht – und auch nicht die Umstände. Soweit alles klar. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass er oder sie gleichzeitig verhindern sollte, dass um ihn oder sie herum Entwicklung stattfindet. Warum also sorgen jene Menschen, die sich selbst nicht verändern wollen, dennoch systematisch dafür, dass in ihrem Umfeld Veränderung unterbleibt? Der Grund dafür hat wieder mit Angst zu tun: Wenn ich zulasse oder zumindest nicht verhindere, dass um mich herum Entwicklung möglich wird, dann muss ich mich auch (irgendwann) verändern – und das will ich nicht. Soweit der Status Quo – vor allem dort, wo Führung im Spiel ist. Leadership:
Faul ist nicht gleich untätig: Simulation strengt ziemlich an
Ein weiterer Grund für Entwicklungsfaulheit ist: Ständig entwickelt sich alles überall irgendwie. Da mache ich doch nicht mit. Je mehr sich die Welt und alles in ihr verändert, umso mehr will ich Kontinuität. Mann muss doch nicht jeden Scheiß mitmachen! Deshalb haben wir eine souveräne Strategie entwickelt: Wir simulieren Veränderungsbereitschaft, damit wir „dahinter“ alles beim Alten lassen können. Eine der beliebtesten Simulationen ist übrigens das „Arbeiten bis zum Umfallen“. Das ist eine besonders geschickte Form der Faulheit, denn sie versteckt sich hinter Aktionismus.
Ich habe da so eine Vermutung: Dass all die mehr oder weniger schlüssigen Erklärungen dafür, warum Menschen sich nicht verändern wollen, selber ein Teil dieser Entwicklungsfaulheit sind. Es sind Ausreden auf hohem Niveau. Etwas genauer gehe ich auf unsere Ausredenkultur in diesem Blogpost ein. Wir haben uns mit Erklärungen darüber eingedeckt, warum es völlig normal ist – und deswegen eben auch total ok, dass wir veränderungsscheu sind. Die Begründungen, die wir uns dafür liefern, bilden den Freibrief dafür, um entwicklungsfaul bleiben zu dürfen. Das ist hoch effizient.
Die rationalisierte Angst vor dem Lernen
Hinter all diesem Theater haben wir tatsächlich vor allem Angst – vermutlich vor dem Lernen. Angst davor, diese gewaltige Macht und auch Lust des Lernens in mir selbst – spielend – wieder zu entdecken, die mir durch einen kulturell definierten Bildungs- und Erziehungsprozess systematisch und gründlich ausgetrieben worden ist.
Wir haben Angst vor dem Lernen. Einerseits Angst davor, als Erwachsene wieder in diese Strukturen zurückversetzt zu werden, in denen wir als Kinder und Jugendliche „zu lernen“ hatten. Andererseits fürchten wir, an die Energie dahinter erinnert zu werden, die uns einstmals mit dem Leben bekannt machen wollte: Die Lernkraft.
Wir haben Angst vor dem Lernen. Dadurch schneiden wir uns von der einzigen Kraft ab, mit deren Hilfe allein wir einer Chance hätten, diese gewaltigen Herausforderungen anzugehen, vor denen wir heute stehen – und die uns nur deshalb so Angst machen, weil wir verlernt haben zu lernen.
Aus dieser Situation gibt es – wie immer und aus jeder – nur einen Ausweg: Den, den wir nehmen.