
Entgegen der Annahme, dass der Lehrerberuf einer der wenigen sei, die der Digitalen Transformation nicht zum Opfer fallen, gehe ich davon aus, dass es ihn in der jetzigen Form nur deswegen noch gibt, weil er staatlich geschützt ist wie nichts anderes. In diesem Blog-Post geht es mir deshalb um die Frage: Was kommt nach dem Lehrer? Der Coach?
Wenn ich Bildung im Digital Age auf den Punkt bringe, dann geht es nicht mehr darum, was gelehrt wird, sondern wie gelernt wird. Es geht nicht mehr um Inhalte, Fächer und Lernziele, sondern um das Lernen selbst. Alles andere steht immer, überall und jeder zur Verfügung. Der Raum, in dem wir lernen, ist nicht mehr das didaktische Gehege und das pädagogische Reservat, sondern der Digital Space, der überall ist, wo Menschen jeden Alters leben und arbeiten – und also lernen. Wir benötigen keine künstlichen Lernräume mehr, aus denen Menschen am Ende ihrer Bildungskarriere ausgewildert werden müssen, um dann später für punktuelle Weiterbildungen dorthin zurückzukehren wie an eine Ladestation. Die Organisation von Bildung und Lernen vollzieht sich vielmehr in dezentralen Netzwerken, wie ich sie hier beschrieben habe. Um es mit einem Begriff des spanischen Soziologen Manuel Castells zu benamsen: im „Space of Flows“.
In diesem Setting ist der Beruf der Lehrenden in seinen vielen Facetten, Ausbildungs- und Gehaltsstufen nicht mehr gefragt. Die Omnipräsenz und mythisch überhöhte Alternativlosigkeit des Lehrerberufs verdankt sich im Moment nur noch der Tatsache, dass „der Staat“ das Bildungsmonopol hält. Er bestimmt über Inhalte, Ziele, Lehrerausbildung, Zulassung, Zertifizierung und Zugänge zu Berufen. Solange der Staat die Oberhand der Regulierung hat und Bildung ein derart geschlossenes System ist, wird die Lehrerprofession als geschützter Beruf problemlos überleben.
Die Dynamik der Digitalen Transformation weiß dieses Monopol jedoch täglich besser zu umgehen. Menschen, Firmen und Institutionen organisieren Bildung und Lernen um dieses Monopol herum, weil es nicht mehr anders geht. Leben und Arbeiten im Digital Age erfordern ein so hohes Maß an Wissen und Fähigkeiten, die im Bildungssystem nicht entwickelt werden können, dass sich derzeit rund um den Globus völlig neuartige, digital vernetzte, auch vom Kapital getragene Lernformen und Lernformate entwickeln – und zwar sehr erfolgreich.
Was bedeutet das für Menschen, die in lehrenden Berufen unterwegs sind bzw. sich dafür entschieden haben, einen auszuüben?
Sie müssen sich bald einmal weiterbilden. Und zwar selbstverantwortet, dezentral, digital vernetzt und außerhalb ihres eigenen Systems. Ganz wichtig dabei: Das wird ein „Umbilden“ sein. Ein durchaus schmerzhaftes und unausweichliches Verlernen tiefsitzender Rollen- und Menschenbilder, ein Verlernen von Beziehungsmustern im Sinne von „Lehrer und Schüler“. Ein Abschied nehmen von der Mär der eigenen Unverzichtbarkeit – nicht als Mensch, sondern als Profession.
Meine Vermutung ist: Das wird nur Wenigen gelingen.
Solche Prozesse des Umlernens und Umbildens werden nicht mehr in den bekannten Formen und Formaten der Lehreraus- und weiterbildung stattfinden. Nicht mehr in exakt umzirkelten Kursen, die mit Bolognapunkten behängt sind. Diese Formate haben ja ausgedient – bis auf den derzeit noch entscheiden Aspekt der Zertifizierung. Wenn der einmal fällt, fällt das System in sich zusammen. Was mache ich dann, wenn ich ein Lehrer bin? „Dann“ ist es womöglich zu spät, denn du musst den Löwen hören. Wenn du ihn siehst, ist es zu spät.
Welche Perspektiven bieten sich da für lehrende Berufe?
Diese Frage kann ich von zwei Positionen aus beantworten. Erstens: Welche Profession tritt an die Stelle des Lehrerberufs? Zweitens: Wie und wohin entwickle ich mich als Lehrer*in oder Dozent*in weiter?
Zuerst: Eine neue Profession wird es vorderhand nicht geben, weil die Kernfunktionen der alten hinfällig sind. Es wird die alte Profession geben, solange sie „geschützt“ ist. Der Beruf als solcher läuft jedoch langsam aus. Umso absurder ist es IMHO, eine milliardenschwere Industrie am Leben zu erhalten, die ein Professions-System alimentiert, das in einer digital transformierten Kultur nicht mehr gebraucht wird.
Was es hingegen massiv geben wird, sind neue Aufgaben und Funktionen, die sich aus den sich völlig neu formatierenden Bildungsbiografien von uns Menschen entwickeln. Das geschieht ja schon heute in zügigem Tempo. Solche Funktionen platzieren und verteilen sich vor allem in digitalen Kontexten, wo sie ohne Zeitverzögerung („instantan“), in hoher Qualität und in neun von zehn Fällen kostenlos aufgerufen werden können. Von lernenden Individuen jeden Alters ebenso wie von lernenden & arbeitenden Teams: als Text, als Video, in Form einer Community, als Helpline, als MOOC, Tutorial, Online-Kongress, als Online-Forum, und mehr und mehr als „Personal Learning Network“, das sich heute immer mehr Menschen jeden Alters zusammenbauen. Unerreicht ist für mich in diesem Kontext nach wie vor Anja C. Wagners entsprechender Video-Post.
Funktionen, die angesichts dieser rasanten Entwicklungen in den nächsten Jahren wichtig werden, sind begleitende, unterstützende und beratende – und zwar vor allem an den Schnittstellen und Übergängen ins Digitale Zeitalter, und gerade was das Lernen und Arbeiten in diesen neuen technischen, ökonomischen und kulturellen Kontexten betrifft. Diese Übergänge und das „Auswildern“ sind von den allermeisten lernenden und arbeitenden Menschen noch nicht annähernd erreicht, auch nicht von den Angehörigen lehrender Berufe, ihrer Ausbilder und Ausbildungsstrukturen. Aus eben diesem Grund sind lehrende Berufe auch nicht für beratende und unterstützende Aufgaben im Kontext der Digitalisierung geeignet, ungeachtet der Tatsache, dass es in diesen Berufen vereinzelt Menschen gibt, die digital affin sind. Aber Hand aufs Herz: Wie viele vegetarische Fleischer kennen Sie?
Warum aus dem Lehrer kein Coach wird
Wird aus dem Lehrer also in Zukunft ein Coach, wie hier und da zu hören ist? Immerhin weisen das ja (sehr) viele Lehrer vehement zurück. Ich denke auch nicht, dass es so kommen wird. Zum einen ist der ausgebildete und professionell arbeitende Coach nicht wirklich ein Beruf, sondern eine hoch differenzierte Funktion, die weder an Lehr-Lern-Settings gebunden ist noch an sie gebunden werden kann. Sie bezieht ihren Nutzen gerade daraus, dass sie in allen erdenklichen beruflichen Kontexten wirksam wird, wenn es um menschliche Entwicklung geht – und sie wird von Menschen aus freien Stücken nachgefragt.
Der Hauptgrund, warum Lehren und Coachen nicht zusammengehen und sich auch nicht ergänzen, hängt eng mit dem Menschenbild zusammen, dem sich – exemplarisch – das Beratungsverständnis des Schweizerischen Berufsverbands (bso) verpflichtet, der als verantwortliche Institution für die (u.a. eidgenössische) Anerkennung aller diesbezüglichen Ausbildungen und deren Wirksamkeit steht. Im professionellen Coaching trägt der Klient und trägt die Klientin die volle Verantwortung für die Inhalte und Ergebnisse, während der Coach in größtmöglicher Offenheit, Transparenz und in ausnahmslosem Respekt vor den Entscheidungen der Klientin „lediglich“ für den Prozess und seinerseits für die Wahrung der Klienten-Autonomie verantwortlich zeichnet.
Ziel eines jeden Coachings ist, dass der Klient auf selbstbestimmte Weise zu seinen Ressourcen und zu seinen Lösungen findet. Der Coach repräsentiert in keinem Moment gegenüber der Klientin einen Lehr- oder Lernplan. Er vermittelt keinerlei Inhalte und veranstaltet schon gar keine Kontrollsettings, in denen der Klient gegenüber dem Coach Rechenschaft abgibt über seine „Lernfortschritte“. Coaching ist Befähigung zur Selbstführung und zur Selbstorganisation. Bedürfnisse von Klientinnen nach Ratschlag und Unterweisung nimmt der Coach stets zum Anlass, um mit ihnen darüber zu reflektieren, diese Bedürfnisse zu klären und sich klar dagegen abzugrenzen, ohne solche Bedürfnisse dadurch zu entwerten. Coaching ist also ein äusserst anspruchsvolles Setting – und gerade deshalb hoch wirksam.
Wie werde ich ein Coach?
Wer sich also als Lehrende*r über eine offizielle Ausbildung oder auf anderen Wegen zum Coach entwickelt, nimmt sukzessive Abschied von den Kernannahmen des pädagogisch-didaktischen Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler – und überhaupt zwischen Menschen. Wenn ich mich dafür entscheide, Menschen als Coach auf professionelle Weise in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung zu begleiten, kommen folgende Themen und Entwicklungsschritte auf mich zu:
- Ich mache mich kundig über die drei fundamentalen, theoretischen Bezugspunkte des Coachings: (I) Den systemischen Zugang zum Menschsein und zu unseren Kommunikationen, (II) zum Wirklichkeitsmodell des systemischen Konstruktivismus, und (III) zur Theorie der Selbstorganisation von Mensch und Gemeinschaft.
- Auf diesem Hintergrund entwickle ich ein Verständnis vom Lernen als Selbstorganisation von Individuen, von Gruppen und Organisationen. Ich setze mich intensiv mit der eigenen Lernbiografie auseinander, mit den vielfältigen Zusammenhängen von Lernen und Krise und mit der Reflexion auf meine persönlichen Krisenmuster.
- Ich lerne nach und nach zu unterscheiden zwischen kausalen und systemisch-konstruktivistischen Grundlagen der Beratung (sprich: von der Fachberatung zur Problemlösekompetenz), indem ich diese Unterschiede praktiziere und mit anderen zusammen auf diesem Lernweg reflektiere. Ich entwickle eine eigenständige Ethik des Beratens.
- Ich finde immer mehr heraus über den Sinn von und den Umgang mit Lernstrategien.
- Ich übe und reflektiere mit anderen zusammen – manchmal durchaus unter professioneller Anleitung
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- die Moderation von Lerngruppen aus der Perspektive des systemischen Coachings,
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- das Konfliktmanagement in Lerngruppen,
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- Digitale und analoge Methoden und Instrumente des Coachings mit einzelnen Personen und mit Lerngruppen.
- Ich vernetze mich im Verlauf dieser Prozesse immer mehr mit Menschen aus ganz unterschiedlichen Berufsgruppen und Arbeitsfeldern, die ähnlich interessiert sind an diesem Phänomen des Coachings.
- Ich entdecke mehr und mehr Angebote zur Reflexion, zur Vertiefung, zur Verknüpfung von Coaching-Kompetenz: digital und im Meatspace.
Wenn Sie sich für einen solchen Weg interessieren, empfehle ich Ihnen zwei Anbieter: Das Institut für Angewandte Psychologie, und das Institut für Systemische Impulse – beide in Zürich. Wenn Sie sich einen Überblick über das Beratungsverständnis des Schweizer Berufsverbandes verschaffen möchten, empfehle ich Ihnen die Homepage des bso. Sehr wertvolle Erfahrungen habe ich auch mit dem nach wie vor kostenlosen MOOC „Leading from the Emerging Future“ vom Team um Otto Scharmer am MIT gemacht. Auch hier geht es an vielen Stellen um waschechte Coaching-Kompetenz – die beim Auswandern nach Digitalien äußerst wertvolle Dienste leisten kann.
Brauchen wir denn dann auch keine Schulpflicht oder Lern- bzw. Unterrichtspflicht mehr? Meines Erachtens muss es zumindest das System Schule und in gewisser Weise eine „Bildungspflicht“ noch geben, wenn wir erreichen wollen, dass alle Menschen ein grundlegendes Bildungsniveau erreichen. Aber vielleicht ist ja gar nicht mehr gewollt, dass ein Großteil der Bevölkerung Lesen und Schreiben kann. Smartphone bedienen und Geld verdienen können reichen ja zum Überleben völlig aus…
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