„Ich habe keine Mitmenschen. Ich bin ein Meteor.“

Titelbild: DALL-E. „Ein Labyrinth, in dessen Mitte eine leuchtende Glühbirne als Symbol für Ideen und Innovationen steht. Menschen versuchen, zur Glühbirne zu gelangen, werden jedoch durch die Wände und Hindernisse, die Verdrängung symbolisieren, blockiert.“

Immer mehr Menschen in meinem beruflichen und privaten Umfeld sagen mir: „Ich blende alles Negative um mich herum aus, damit es mir dort, wo ich lebe und arbeite, weiterhin noch einigermassen gut geht.“ Doch eine Gesellschaft, die auf Verdrängung basiert, kann die Herausforderungen nicht anpacken, die ja nicht nur ständig zunehmen. Vielmehr kommt die Verdrängung als Problem noch oben drauf – und wird dadurch zur grössten Hürde. Wie lösen wir diesen Mechanismus auf und komme an jene Ressourcen, an jene Wahrnehmungs- und Empathie-Kompetenzen, die durch Verdrängung gebunden sind – und die wir so dringend für die Veränderung da draussen brauchen?

Wie finden wir aus dem „Überlebensmodus“, der uns zum Ausblenden zwingt?

Ich erlebe in den letzten Monaten, eigentlich schon Jahren eine Zunahme dieser Strategie, bei ganz vielen Menschen und auch Organisationen. Je schlimmer die Situation wird, in der wir uns befinden, umso mehr wächst sich diese Strategie zu einem Überlebensmodus aus: Ausblenden und verdrängen, um überleben zu können, um dem Leben noch eine gewisse Qualität geben zu können. Um die Überforderung nicht mehr wahrnehmen zu müssen und auch all das nicht, was mich überfordert – in einer Kultur der Entwertung, der Ignoranz, der Abgrenzung und Abschottung, der materiellen Verarmung.

Verdrängung absorbiert Lebensenergie

Aber das alles ist halt durch seine Ausblendung nicht weg. Es ist nur abgedunkelt. Und die Energie, die wir bräuchten, um an unserer Zukunft zu arbeiten, wird absorbiert durch die Notwendigkeit der Verdrängung, denn: Verdrängung bindet alle Energie, noch bevor du entscheiden könntest, woran du sie eigentlich binden möchtest.

Je mehr die kritischen Lagen in den Organisationen, aber auch in Beziehungen, in Diskursräumen, oder bei der Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen zunehmen, umso mehr nimmt auch die scheinbare Notwendigkeit zu das alles auszublenden und sich auf das zu konzentrieren, was ich als gut erlebe.

Diese Verdrängung wird für ganz viele notwendig, weil sie ihren Einfluss als vernichtend gering wahrnehmen – bis gar nicht vorhanden. Wenn ich eh nichts ändern kann, weder im kleinen noch im grossen, dann halte ich das auf Dauer nur aus, indem ich „abdunkle“. Nicht nur meinen fehlenden Einfluss sondern zuerst das, worauf ich ihn nicht habe.

Das ist eine der letzten Coping-Strategien, die uns der Neoliberalismus noch lässt, nachdem jede und jeder auf sich selbst zurückgeworfen ist und bleibt.

Weil wir mit den Gegebenheiten völlig überfordert sind, und weil sie uns energetisch runterziehen, blenden wir sie aus. Alleine, zu zweit oder als Gruppe.

Ausblenden als Überlebensstrategie

Das ist eine menschliche Strategie. Komplexitätsreduktion ist eine Fähigkeit, die uns überhaupt erst handlungsfähig macht. Es scheint allerdings die einzig verbleibende Strategie geworden zu sein.

Sowohl auf der individuellen Ebene, wo mir ganz viele Menschen erzählen, dass sie ihren Beruf nur deshalb noch machen können, weil und solange sie ganz vieles ausblenden, nicht nur in der Bildung oder in der Kirche, sondern auch an vielen anderen Orten.

Als auch bei Institutionen, Unternehmen, Organisationen, die systematisch ausblenden, was den Rest Funktionalität und Funktionieren womöglich gefährden könnte.

Das Bildungssystem ist hier ein Paradebeispiel.

Vor dreissig Jahren hat der Philosoph Peter Sloterdijk eine Beobachtung formuliert, die hoch aktuell ist:

Wie geht Bejahung ohne Ausblenden?

Sloterdijk spricht (damals) für die Gegenwart von einer zunehmenden Zersetzung unserer Fähigkeit, uns selbst und unser Leben zu bejahen. Der Satz „Ich bin da“ tritt immer öfter „unabhängig von zustimmenden Zusätzen auf“. Stattdessen hängen über dem Satz „Ich bin da“ für viele Menschen bereits so dunkle Wolken, „dass die Zumutung eines Übergangs zu positiven Zusätzen wie eine Überforderung wirken muss“.

Da hilft nur Ausblenden. Doch keine:r kann für oder aus sich allein heraus gut sein. Und so kommt die Herausforderung, das eigene Dasein gutzuheißen, irgendwann der Bejahung einer Katastrophe gleich. Sloterdijk spricht von einem „Zynismus, der von dem Daseins-Satz [direkt] übergeht zu der heroischen Pose: „Ich übernehme das Verhängnis, ich zu sein“ oder „Ich zelebriere die Katastrophe, die ich bin“. Der positive Kommentar fehlt, so die These.

Der Wille zum Gutsein

erscheint, dem wilden Selbst wie eine schale Maske, eine ekelhafte Gemütlichkeit. Durch den Mund zahlloser Individuen verkündet das Dasein: ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit; ich bin kein Staatsbürger, ich bin Müll; ich bin kein Subjekt, ich bin eine begehrende Maschine; ich habe keine Mitmenschen, ich bin ein Meteor.

Peter Sloterdijk, Was heißt: sich übernehmen? Versuch über die Bejahung, in: Weltfremdheit, Frankfurt 1993, S. 282f
„Ich habe keine Mitmenschen. Ich bin ein Meteor.“ (DALL-E)

Das Verrückte und Gefährliche daran ist, dass am Ende keine gemeinsame Handlungsfähigkeit mehr zustande kommen kann, kein: „Wir ziehen an einem Strang in eine Richtung.“ Überforderung, Resilienz und eine Coping-Kultur sind ja keine nur individuellen Phänomene, denn

auf Dauer kann ich nicht resilient sein in einer ausbeuterischen, auch sich selbst ausbeutenden und völlig verindividualisierten Welt.

Umgekehrt kann eine gesunde, lebendige, und reflektierte Gemeinschaft durchaus Menschen auffangen und nähren, die temporär den Kontakt zu sich selbst und zu ihrer Energie verloren haben.

Darum beschäftigt mich im Moment auch so sehr die Frage: welche Formen von Gemeinschaft und Gemeinschaftlichkeit brauchen wir, um aus diesem Teufelskreis der Vereinzelung von Individuen und Gruppen herauszufinden? Und wie können wir diese Formen stärker unterstützen?

Damit wir als Individuen und als Gemeinschaften, die aus mehr als zwei oder drei Menschen bestehen, nicht das meiste ausblenden müssen, um zu überleben.

Autor: Christoph Schmitt PhD, Bildungsdesigner, Colearner, Coach & Supervisor ZFH

Bildungsaktivist | LinkedIn Top Voice | Colearner | TEDx Speaker | Bildungsdesigner | Bildungsethiker | systemischer Coach & Supervisor | Rituals Expert | Blogger | Nörgler | Ressourcenklempner. Ich unterstütze alles, was mit Aus- und Aufbrechen aus Beschulung zu tun hat. Für Jung UND Alt. Meine Kernkompetenz: Entwicklung ganzheitlich begleiten, moderieren, inspirieren.

2 Kommentare zu „„Ich habe keine Mitmenschen. Ich bin ein Meteor.““

    1. … und womöglich ist die Ideologie des täglich an sich Arbeitens und Änderns Teil dieses neoliberalistischen Narrativs …

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