Heute schon gelernt? Eine kurze Analyse unserer wichtigsten Fähigkeit

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Zuerst die Bombe zünden: Selbststeuerung und Selbstorganisation sind ebenso wenig „in Teilen“ oder „partiell“ möglich wie „Autonomie“. Ein Prozess ist entweder selbst- oder fremdgesteuert, er ist entweder selbstorganisiert oder er ist es nicht. Auch „Teilautonomie“ ist ein semantisches Unding. Prozesse, die in der Annahme durchgeführt werden, dass es Teilautonomie gibt, geraten ausnahmslos zu bizarren Unterfangen. 

Ein Beispiel: Schulen werden in der Schweiz gerne als „teilautonom“ bezeichnet. Sie erfahren aber immer und ausgerechnet dann, wenn sie sich autonom verhalten, wie sehr sie „unter fremden Gesetzen“ stehen, also heteronom unterwegs sind. Das teilautonome Moment schlägt immer dann in Heteronomie um, wenn es sich selbst autonom anwendet. Diese Erfahrung ist nicht auf das Schulsystem begrenzt. Wir können sie praktisch in jeder Form von Organisation machen: „Autonomie“ hast du nur so lange, bis du sie benutzt.

So ist das auch mit dem Phänomen der Selbstorganisation – ausgerechnet beim Lernen. Erstens gilt – mit gesichertem neurologischem und systemischem Wissen im Gepäck: „Selbstorganisiert lernen kann ich nur selbstorganisiert lernen.“ Das pädagogische „Kann“ kann ich aus dieser Formel übrigens streichen, denn Lernen ist immer ein Prozess der Selbstorganisation, der in jedem möglichen Fall vom lernenden System oder Organismus (Mensch, Klasse, Familie, Abteilung, Unternehmen,) selbst gesteuert wird. Es gilt also: „Selbstorganisiert lernen“ lerne ich nur selbstorganisiert, oder: Lernen ist selbstorganisiert. Auch Phänomene wie Abhängigkeit, Überforderung, Unterforderung, Demütigung, Leistungsdruck, Langweile, Diskriminierung, Lob und Tadel, Belohnung und Strafe – und was wir sonst noch in institutionell organisierten Lernprozessen erfahren, das alles integrieren wir selbstorganisiert in unsere Lernprozesse (!). Insofern ist z.B. auch die Rede von der „intrinsischen Lernmotivation“ höchst unscharf, weil jeder Lernprozess intrinsisch motiviert ist. Die Konstruktion „intrinsische Motivation“ ist ein Pleonasmus – und dieses Konstrukt verdanken wir einer Disziplin mit Namen Pädagogik.

Der Unterschied zwischen Lernprozessen, die intrinsisch, selbstorganisiert, selbstgesteuert und autonom „sind“ und solchen, die es „nicht sind“, besteht nicht darin, dass die Lernenden im einen Fall selbstorganisiert, selbstgesteuert, intrinsisch und autonom unterwegs sind und im anderen nicht. Der Unterschied besteht darin, dass die Lernprozesse im einen Fall so organisiert sind, dass ich aufgrund der immer währenden Selbstorganisation und Autonomie meines Lernens expansiv lerne – und im anderen Fall (selbstorganisiert) defensiv. Denn auch dann, wenn ich destruktive Prozesse abwehre (Angst vor schlechten Noten, vor sozialer Deklassierung, vor Scham usw.), verlasse ich nicht das selbstorganisierte Lernen, weil das gar nicht geht.

Mein Lernen ist also in jedem möglichen Fall selbstorganisiert und selbstgesteuert. Die Prozesse und Strukturen, die von Bildungssystemen drumherum gebaut werden („Didaktik“), machen nichts anderes, als solches Lernen zu manipulieren. Nicht selten missbrauchen sie es für „übergeordnete Zwecke“, hinter denen sich Anliegen verbergen, die nichts mit dem eigenen Lernen zu tun haben, sondern mit seiner schulischen Organisation: Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit, aufstrecken, auswendiglernen, Prüfungen vorbereiten und schreiben, Hausaufgaben machen, zusammenfassen, anstreichen, mich auf Dinge konzentrieren, mit denen ich überhaupt nichts anfangen kann u.v.m.

Was eine positive und gestaltende Entfaltung unseres autonomen, intrinsischen und selbstorganisierten Lernens also jederzeit gefährdet, ist die Ausrichtung an künstlichen, fremdgesteuerten Formen der Organisation. Das führt zu einer Desavouierung von Selbstorganisation und Autonomie, weil die ja vom Schulsystem als eine grundsätzliche Gefahr für die schulische Organisation des Lernens wahrgenommen werden: Wenn ich meinem selbstorganisierten Lernen freien Lauf lasse, aktiviere ich umgehend die schulischen Sanktionsmechanismen. Niemand hat das schlauer analysiert als Klaus Holzkamp.

Anstatt junge Menschen auf soziale und kollaborative Weise ihrem Lernen zu überlassen (nicht sich selbst, liebe Lehrer, sondern ihrem Lernen), statt sie nur dort sanft zu unterstützen, wo sie sich selbst Hilfe holen (weil sie erst dann expansiv lernen, wenn sie ganz von selbst an Grenzen kommen, die keine curricular konstruierte Grenzen sind), betten wir ihre Entwicklung in heteronome, fremdgesteuerte pädagogische Systeme ein. Das tun wir mit der Begründung, dass sie, die jungen Menschen, noch nicht in der Lage sind, das zu „tun“ oder zu „können“, was sie über den Umweg des pädagogisch-didaktischen Systems zu lernen haben. Was wir dabei völlig außer Acht lassen, ist das, was ich oben beschrieben habe: Wir versuchen Menschen durch Schule etwas beizubringen, was sie sich nur selbst (her)beibringen können – und wundern uns dann regelmäßig über das Mittelmaß, in dem diese pädagogischen Versuche steckenbleiben – und immer öfter scheitern.  In einem Kommentar zu diesem Artikel klingt das so:

Wir dürfen also NICHT zu der Erkenntnis gelangen, dass es am pädagogischen System liegt, wenn Lernprozesse „ins Chaos führen“. Wir müssen die Ursachen bei den Lernenden finden, die nicht wissen, was sie lernen sollen. Darüber hinaus sind sie zu heterogen, zu gescheit, zu dumm, falsch zusammengewürfelt, zu viele von denen, zu wenig von den anderen, haben die falsche Herkunft, das falsche Geschlecht für Mathe, einen Migrationshintergrund, den falschen Vornamen (z.B. Kevin oder Wibke), haben Lernschwächen und Verzögerungen, leiden unter Asperger und ADHS, unter überfürsorglichen oder vernachlässigenden Eltern – und brauchen deshalb ein sich immer weiter differenzierendes pädagogisches System.

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Ein Klassiker zu dieser Thematik ist übrigens ein Vortrag des großen Pädagogen Klaus Holzkamp aus dem Jahr 1992. Sie finden das Transskript hier.

(Quelle)

Autor: Christoph Schmitt, Bildungsdesigner, Coach & Supervisor ZFH

Bildungsaktivist, Bildungsdesigner, Ressourcenklempner, Ethiker, Rituals Expert. Ich unterstütze Menschen und Organisationen beim "Digital Turn" - systemisch & lösungsfokussiert. Ich coache Menschen in ihren Entwicklungsphasen und begleite in einschneidenden Lebensmomenten durch die Gestaltung von Ritualen.

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