Der demographisch bedingte Fachkräftemangel wird die Schulen besonders hart treffen bis zu Beginn der 30er-Jahre. Die Pensionierungswelle wird in den Schulen in den nächsten Jahren besonders hoch ausfallen, weil hier überdurchschnittlich viele Angehörige der “Boomer-Jahrgänge” beschäftigt sind.
Die Konkurrenz um Arbeitskräfte
Gleichzeitig steht Schule als Arbeitgeberin in einem realen Konkurrenzkampf nicht nur und nicht erst um Arbeitskräfte, sondern zuvor schon auf dem Ausbildungsmarkt: Die Attraktivität des Lehrberufs macht sich ja nicht erst am Arbeitsplatz Schule fest, sondern bereits früher in der Art der Ausbildung.
Es geht also – wie in anderen Branchen auch – nicht einfach darum, “genügend junge Leute” aus diesem immer kleiner werdenden Kuchen für sich zu ergattern. Es geht zuerst um die Frage – wie in allen anderen Bereichen in Gesellschaft und Ökonomie auch:
Welche Berufs-Profile werden in Zukunft im Bildungsbereich z.B. der Volksschule benötigt, und wie kann bereits die Ausbildungsphase so gestaltet werden, dass sie als sinnvoll erlebt wird, und dass sie tatsächlich befähigt für einen Beruf, der den Anforderungen an Bildungsarbeit mit jungen Menschen im zweiten Drittel des 21. Jahrhunderts gerecht wird?
Was ist und was tut zeitgemässe Schule in den nächsten zehn bis 20 Jahren?
Was brauchen ihre Klient:innen und wie richtet sich Schule deshalb aus?
Erst anhand der Antworten auf solche Fragen lässt sich aufzeigen, welche wie ausgebildete Mitarbeitenden mit welchen Haltungen Schule dafür braucht, und wie sie diese ausbildet.
So kann zumindest von der Anbieterseite her gewährleistet werden, dass die immer weniger werdenden jungen Menschen, die auf den Arbeitsmarkt kommen, sich ein zutreffendes Bild von “Schule als Arbeitsort und Arbeitgeberin“ machen können.
Die Schüler:innen von heute und die Lehrpersonen von morgen
Nicht zu vernachlässigen ist dabei: Die “Lehrpersonen der Zukunft” gehen ja bereits heute zur Schule und werden dort geprägt in ihrem grundsätzlichen Bild und Verständnis von Schule.
Aktuell gibt es Stimmen, die sagen, dass auch die gegenwärtige Schule nicht mehr zeitgemäss sei.
Womöglich brauchen wir also schon heute Massnahmen in der Schulentwicklung, die relativ kurzfristig greifen, um Schule in die Gegenwart zu bringen.
Ansonsten stehen wir weiterhin vor dem Problem, dass alle jungen Menschen in unserer Gesellschaft in einem Schulsystem geprägt werden, das die Grundzüge aus dem 19. und 20. Jahrhundert trägt, wodurch sie dieses Grundverständnis von Schule und Bildung verinnerlichen.
Jene, die sich dann entscheiden, einen Beruf als Lehrperson zu ergreifen, stehen dann vor der Herausforderung, erst einmal diese fest verankerte Prägung durch die eigene Schulzeit als Kind und Jugendliche zu verlernen, statt bereits am eigenen Leib ein Design von Bildungsarbeit erlebt zu haben, das im 21. Jahrhundert angekommen ist.
Wenn es um die Aus- und Weiterbildung lehrender Berufe geht, steht im Zentrum, was Schüler*innen, Auszubildende und Studierende wissen & können sollten – und was dementsprechend Lehrende wissen & können sollten, damit sie es vermitteln können. Das wird den Lehrpersonen dann vermittelt. Das alles geschieht im Wissen um das „pädagogische Paradox“, dass Wissen & Kompetenz nicht vermittelt werden können. Das ist lange bekannt.
Sämtliche Varianten von Unterricht – derzeit ein Synonym für Schule – erweisen sich auf dem Hintergrund dieses Paradoxons als ungeeignet für Bildungsarbeit; ebenso wie die Fixierung auf Inhalte und deren Wiedergeben. Dennoch sind diese beide Aspekte bis heute tragende Säulen von Bildungsarbeit – neben Fächerwesen, Benotungskultur, (Jahrgangs-)Klassen und synchroner Präsenz, die für sich und zusammen dem Irrtum erliegen, Wissen und Kompetenz könnten vermittelt werden; und nach wie vor bilden wir Menschen in & zu etwas aus, das noch nie funktioniert hat, und das nie funktionieren wird: Die Vermittlung von Wissen und Kompetenz.
Welches Wissen und welche Kompetenz braucht es stattdessen für Bildungsarbeit – und wie kommt die auf den Weg, da Wissen und Kompetenz nicht vermittelt werden können? Welche Fähigkeiten brauchen dann Bildungsarbeiterinnen und Bildungsarbeiter?
Wir klären Bedürfnisse und Bedarfe
Zuerst realisieren wir erneut oder zum ersten Mal, dass wir im Kontext von Bildung, Schule und Lernen ausnahmslos Menschen begegnen, die – egal in welcher Rolle, Funktion oder Aufgabe sie unterwegs sind – pausenlos am Lernen sind. Der Bubblesprech vom „Lebenslangen Lernen“ meint eben dies. Nun ist Lernen nicht gleich Bildung: Ich kann aufhören mich zu bilden, aber aufhören zu lernen kann ich nicht. Damit mein Lernen nicht im Auswendiglernen und Aneignen von Skills und Tools steckenbleibt, mache ich es immer auch zu Bildungsarbeit.
Wenn wir also etwas anderes wollen als eine Schule, die lediglich „willfähriges, biologisches Material produziert“ und „lebendige Prozesse unterdrückt“, wie der Autoritätsforscher Frank H. Baumann schreibt, dann ist es sinnvoll, dass auch Bildungsarbeit lebenslang bleibt, wenn also alle in Bildungsarbeit Involvierten in eigener Sache Bildungsarbeiter*innen sind und bleiben.
Dann realisieren wir erneut oder zum ersten Mal: Professionelle Bildungsarbeiter*innen (aka „Lehrende“) zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie etwas wissen, was andere Bildungsarbeiter*innen (aka „Lernende“) nicht wissen, sondern dass sie über Fähigkeiten verfügen, mit denen sie Menschen bei der Konstruktion von Wissen und bei der Entwicklung von Kompetenz kompetent begleiten und unterstützen können.
Selbstverständlich ist es schön und gut, wenn Mathematiklehrer*innen sich in Mathematik auskennen. Doch wenn wir nicht mehr mit dem Konzept des/der Mathematiklehrer*in arbeiten (und nicht mehr mit dem Konzept des Mathematikunterrichts bzw. mit dem Fach Mathematik), öffnen sich lernenden und sich bildenden Menschen jene Informations-, Lern- und Bildungsräume, die bisher eingeengt waren auf das, was sie „vor Ort“ als Mathematik erleben. Was gute Mathematik ist, hängt bis heute für alle (!) Menschen davon ab, welche Mathematiklehrer*innen sie hatten – statt umgekehrt.
Die Alternative: Wir orientieren uns in der Bildungsarbeit zuerst an den Bedürfnissen jener Menschen („auf der anderen Seite des Pults“), die von professionellen Bildungsarbeiter*innen begleitet werden – ohne dabei die Bedürfnisse dieser Bildungsarbeiter*innen („Lehrpersonen“) auszublenden, zu vernachlässigen oder in Konkurrenz zu setzen.
Im Gegenteil: Wir fokussieren und klären die Bedürfnisse aller in Bildungsarbeit Involvierten. Warum? Weil die Arbeit an und mit Bedürfnissen Bildungsarbeit ist, wie uns Protagonist*innen in entsprechenden Disziplinen aufgezeigt haben (etwa Ruth C. Cohn und Arno Gruen).
Erste Konsequenz: Bedürfnisse & Bedarfe unübersehbar machen
Deshalb institutionalisieren wir den als eher mühsam erlebten und bis heute oft vermiedenen bzw. diffamierenden „Diskurs“ über Bedürfnisse lernender und sich bildender Menschen. Das ist ein im gegenwärtigen Bildungsbetrieb sträflich vernachlässigtes Anliegen.
Zu diesem Zweck machen wir einerseits diese Bedürfnisse sichtbar. Nicht einmal (1x), auch nicht in Form einer didaktischen Analyse, auch nicht bezogen auf die Vermittlung von Wissen und Kompetenz, die gar nicht möglich ist (was wir lange wissen), sondern, ich wiederhole mich gerne, weil die Arbeit an und mit Bedürfnissen Bildungsarbeit ist.
Wir machen auch kein Fach, kein Unterrichts- und kein Projektthema draus, weil wir damit den Versuch starten würden, Wissen über „Bedürfnisse und Kompetenz im Umgang mit ihnen“ zu vermitteln, was gar nicht geht, wie längst bewiesen ist.
Stattdessen tragen wir gemeinsam Sorge, dass alle an Bildungsarbeit Beteiligten immer besser in der Lage sind, ihre Bedürfnisse zu erkennen und zu artikulieren, solche ihrer Mitmenschen in nah und fern zu realisieren, wertzuschätzen und immer wieder neu in Beziehung zu setzen. Sie weder zu ignorieren noch abzuwerten. Wir machen Bedürfnisse unübersehbar. Das tun wir transdisziplinär. So gelingt es uns, die faszinierende Fülle an Wissen & Erfahrung, die wir dazu heute schon haben, im Sinne sich bildender Menschen zu nutzen – für meine Befähigung als Bildungsarbeiter*in, ob ich nun in herkömmlicher Lesart „LehrendeR“ oder „LernendeR“ bin.
Welche Bildungsarbeit braucht die Lebens- und Arbeitswelt?
Zugleich orientieren wir uns in der Entwicklung des neuen Berufs des und der Bildungsarbeiter*in an den gesellschaftlichen und ökononomischen Bedarfen einer sich in einem tiefgreifenden Wandel befindlichen Lebens- und Arbeitswelt. Wir machen auch diese Bedarfe unübersehbar – das ist heute ein wesentlicher Teil von Bildungsarbeit – und gestalten sie so offen wie möglich. Wir engen sie nicht länger ein auf das, was in Bildungsplänen festgehalten ist, denn die sind nur eine Momentaufnahme, ein mühsam erarbeiteter Kompromiss aus dem, was von den Herausforderungen, in denen wir heute stehen, noch nichts wusste.
Bildungsarbeit bedarf heute eines komplett anders aufgestellten Wissensmanagements als über Moodle und Bildungspläne. Glücklicherweise können wir über die Alternativen mehr und anderes wissen als je zuvor. Die Ressourcen liegen uns mit dem Internet zu Füssen – und auch hier gilt es als erstes dem Versuch Einhalt zu gebieten, den Umgang mit diesen Ressourcen irgendwie irgendwem zu vermitteln – und ihn stattdessen zu lernen.
Ein neuer Beruf braucht eine neue Ausbildung
Zugleich klären und entscheiden wir, wie Ausbildungsinstitutionen und -prozesse für Bildungsarbeiter*innen gestaltet sind, sodass Institutionen & Bildungsarbeiter*innen die benötigten Fähigkeiten auf dem Plan & Schirm haben – und zwar 24/7. Die aktuelle Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern – ein aussterbender Beruf – muss zu diesem Zweck nicht auf den Prüfstand. Wir erfinden sie komplett neu. Wir entwickeln einen neuen Beruf und einen neuen Weg hinein, der mit den alten Funktionen, Rollen und Aufgaben nichts mehr zu tun hat.
Ein wichtiger Aspekt dieser Entwicklungsarbeit ist die Auseinandersetzung mit den fundamentalen Veränderungen und Neuerungen der Berufswelten: Wie verändern sich Berufe? Was bedeutet es heute im Unterschied zu anderen Zeiten, einen Beruf zu erlernen, einen zu haben, ihn auszuüben? Die zahlreichen Szenarien, Alternativen und Möglichkeiten, die es da heute gibt, spiegeln sich im neu zu entwickelnden Beruf der Bildungsarbeiterin und des Bildungsarbeiters ganz selbstverständlich: Wer sich als LernendeR Gedanken macht über seine bzw. ihre zu entwickelnde Berufsbiografie, findet im Gegenüber einer Bildungsarbeiterin ein Beispiel für diese Vielfalt, im Unterschied zum heute noch weit verbreiteten „einmal Lehrer immer Lehrer“.
Eine Bildungsarbeiterin wirkt dann nicht länger „vorbildlich“ bei meiner Suche nach Antworten auf die Frage, was ich einmal werden will (oder nicht), sondern eher auf die Frage, wie ich etwas werden und sein möchte.
Diese Entwicklungsarbeit hin zum neuen Beruf des/der Bildungsarbeiter*in ist also bereits der erste Schritt im neuen Konzept und im neuen Beruf. Sie bereitet das nicht vor. Es gibt keine „Vorbereitung“ mehr, keine Vermittlung von Zukunftskompetenz, nur das reale Leben & Lernen und unsere Reflexion auf beides.
Neu ist damit auch: Was Studierende lernen, die einen Bildungsberuf anstreben, korreliert nicht mit dem, was „später einmal“ die Bedingungen sind, unter denen sie dann Bildungsarbeit machen, weil sich die Bedingungen von Bildungsarbeit pausenlos verändern. Bildungsarbeit ist immer im „Hier & Jetzt“, und sie bringt die Bedingungen, unter denen sie zur Sache geht, hervor.
Es gibt kein „vor und nach“ der Ausbildung, weil beide auf eine professionelle Weise zirkulär funktionieren – nicht in dem Sinn von „zirkulär“, wie sie im Bildungssystem funktionieren:
Nicht zirkulär also im Sinne eines „mehr vom Selben“, sondern „mehr von Unterschiedlichem“: Lern-Fortschritt als Zunehmen und Unterstützen von Unterschiedlichkeit, wie Remo Largo nicht müde wurde einzufordern:
Wie finden sich bereits berufstätige Lehrer*innen darin zurecht?
Flankierend entwickeln wir attraktive, hochwertige Angebote für aktive Lehrerinnen und Lehrer, in denen sie sich fit machen für diese riesigen Herausforderungen, indem sie lernen (!), sich in ihnen souverän zu bewegen. Wir lassen dabei jedem und jeder völlig und vorbehaltlos frei, ob sie diese Angebote annehmen, oder ob und wie sie sich anderweitig für die neuen Herausforderungen qualifizieren, oder ob sie (als ein mögliches Ergebnis dieser Entwicklungsarbeit) auf einen anderen Beruf umsteigen. Auch dabei unterstützen wir nach Kräften.
Was wir dabei ganz sicher nicht tun: ihnen irgendetwas vermitteln.
Klammern wir also die Diskussionen darüber, „was junge Menschen heute können und wissen müssen“, für einen Moment ein (nicht aus sondern ein, denn da wissen wir ja schon recht viel drüber) und klären ganz grundsätzlich, wie der neue Beruf des Bildungsarbeiters und der Bildungsarbeiterin aussieht: welche Haltungen er bei denen voraussetzt, die ihn praktizieren (wollen) – deren Reflexion ein wesentlicher Teil der gesamten Berufsbiografie ist.
Wir laden über alle kulturellen Bereiche hinweg aktiv dazu ein, diesen Prozess auf Augenhöhe mitzugestalten. Als ein zivilgesellschaftliches Projekt.
Erstens entwickeln wir einen Beruf, der für jene eine anziehende und nachhaltige berufliche Möglichkeit darstellt, die wir gerne für diese Arbeit hätten, und die wir brauchen. Wir, die wir uns lebenslang bilden. Ich hätte gerne Bildungsarbeiter*innen, die sich als Partner*innen begreifen, die an (ihrer eigenen und jedweder) Entwicklung interessiert sind, an Entfaltung von Potenzial, die grundlos neugierig sind, lernbegierig, expeditionsfreudig.
Wir tun also nicht länger etwas „gegen Lehrermangel“, um den Lehrerberuf (wieder) attraktiv zu machen, sondern wir entwickeln schleunigst einen neuen, attraktiven Beruf – und wir tun es nicht in den (digitalen) Hinterzimmern von Schulverwaltungen und Pädagogischen Hochschulen, sondern dort, wo Menschen gemeinsam Bildungsarbeit machen, denn Bildungsarbeit bringt die Bedingungen, unter denen sie sich ereignet, jeweils mit.
Zweitens eröffnen wir Menschen, die aktiv im Lehrberuf stehen, Möglichkeiten, sich neu zu entscheiden und zu professionalisieren; und zwar für das und auf das hin, was ihnen entspricht. Sie finden Unterstützung, die an keine Bedingungen oder Ergebnisse geknüpft ist – analog zu einer Hochform des BGE, wie sie hier reflektiert wird.
Drittens entwickeln wir dadurch kontinuierlich eine Bildungsarbeit auf der Höhe der Zeit, die Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gerecht wird. Wir bereiten ab jetzt nicht mehr „durch die Ausbildung auf Bildungsarbeit vor“, sondern praktizieren durchgehend Bildungsarbeit: Wir entwickeln uns an jedem Punkt unserer Bildungsbiografien und Lebensgeschichten weiter und unterstützen und begleiten uns gegenseitig in und mit all unserem Entwicklungspotenzial, unseren Bedürfnissen, Bedarfen und Sehnsüchten.
Der vielbejammerte Lehrermangel ist gar keiner. Ebensowenig wie z.B. der Priestermangel in der katholischen Kirche. Es gibt davon immer weniger, weil diese Berufe aussterben. Wir sollten das akzeptieren und möglichst heute anfangen, uns entsprechend zu organisieren. Auch und gerade als Lehrer.
Wir sind ausnahmslos alle in der “Sagen-sie-uns-wie-das-geht-und-was-wir-tun-müssen“-Kultur aufgewachsen. Jetzt finden wir uns in einer Kultur wieder, in der nicht einmal mehr die Expertinnen und Experten wissen, wie es weitergeht – wir müssen das also selber herausfinden und wissen erst einmal nicht, wie.
Besonders augenfällig und dramatisch erleben wir den Kulturwandel derzeit also beim Lernen. Wir, die wir in einem Bildungssystem groß geworden sind, in dem Expert*innen zu wissen vorgaben, wie Lernen geht, und wie wir zu lernen haben. Dabei weiß keiner wirklich, wie Lernen geht: „Lernen ist nicht zu verstehen“ (Andreas Sägesser).
Bei hoch komplexen, technischen Vorgängen wie beim Operieren von Menschen oder beim Fliegen von Flugzeugen sind Experten ziemlich nützlich. Aber bei der Grundfunktion menschlicher Existenz, dem Lernen, gibt es außer dem Menschen, der oder die jetzt gerade lernt, keine andere Expertin als sie oder ihn – und diese Expertise ist auch nicht delegierbar, weil jeder Mensch total individuell lernt.
Lernen bis der Lehrer kommt
Mit dieser Erfahrung kommen Menschen auf die Welt und sind von Anfang an in diesem Flow unterwegs, bis er ihnen ausgetrieben wird von zertifizierten Expert*innen des Lernens, die ab jetzt die Steuerung, die Inhalte, die Strukturen, die Organisation und den Outcome bestimmen und überwachen. Ein absurdes Unterfangen – und doch bildet es bis heute die Grundlage einer Kultur und deren Reproduktion, die jetzt abgehakt ist – außer in den Köpfen derer, die vorgeben, das Lernen anderer zu organisieren.
Die Aufgabe, in der wir im Moment stecken, scheint mir klar: Das Lernen zuzulassen, um jene Fähigkeiten zu entwickeln, die uns helfen die Kultur zu gestalten, in die wir uns hineinkatapultiert finden – und in der es z. B. darum geht, Alternativen fürs Fliegen von Flugzeugen zu finden und verrückt präzise und erfolgreiche Operationsmethoden, die von Künstlicher Intelligenz gesteuert und von Maschinen durchgeführt werden.
Welche Aufgabe dabei ausgebildete und zertifizierte Lehr- und Lernexpertinnen und -experten noch spielen: da sehe ich eher schwarz. Sie selber womöglich auch, und das könnte ein Grund dafür sein, dass sie sich so hartnäckig gegen eine Kultur der Digitalität wenden. Weil sie (und ihre Arbeitgeber*innen und ihre Ausbilder*innen) intuitiv realisieren, dass Lehrsysteme mitsamt den Angeboten, Funktionen und Aufgaben, die sie heute erfüllen,
erstens für lernende Menschen womöglich gar nie wirklich gebraucht wurden, weil all das, was sie didaktisch und methodisch zaubern, Menschen eher von ihrem Lernen abhält als es sie je hätte (hätte Fahrradkette) darin fördern können;
und weil sie merken, dass solches Expertentum in der kulturellen Zukunft nicht mehr gefragt sein wird.
Und was brauchen wir jetzt?
Was es womöglich noch viel mehr brauchen wird, sind Menschen, die eine Ahnung haben von dem, was sich heute in Fächern und Lehrplänen versteckt – aber nicht in dieser Form: Kein Lehrplan und kein Fach kann formal oder inhaltlich mithalten mit dem, was im Internet qualitativ zu finden ist, wenn ich zu suchen weiß. Fächer und Lehrpläne sind bereits heute eine ganz und gar anachronistische Form der Wissensorganisation. Für das Gestalten individueller Lernprozesse taugen sie nicht.
Es braucht womöglich Menschen, die für ihr Anliegen und ihre Sache brennen, die es lieben mit jungen Menschen unterwegs zu sein auf Lernexpedition in eine Welt, in der wir uns gerade auf technologischen Wegen riesige Möglichkeiten und Freiheiten erschaffen, um gemeinsam immer weiter auf Entdeckungstour zu sein – mit der Frage im Gepäck, wie wir das alles nachhaltig und menschlich nützen. Das weiß kein Lehrplan, der ja zukünftig bereits in dem Moment veraltet ist, in dem er ratifiziert wird.
Es braucht Menschen, die all den pädagogisch-methodisch-didaktischen Schnickschnack eines durchstrukturierten Command-and-Control-Systems hinter sich gelassen haben. Die stattdesssen häufiger mal tief ein- und wieder ausatmen, und die dann einfach da sind, wenn junge Menschen auf sie zukommen, weil sie auf ihrer Expedition in die Welt festgestellt haben, dass sie jetzt einen Experten brauchen. Oder eine Expertin. Sehr konkret, aktuell, situativ.
Und natürlich wird jetzt der eine oder andere sagen: Genau! Solche Lehrer brauchen wir! Und ich sage dir: Wir brauchen sie nicht. Denn Lehren gehört einer Kultur an, die tot ist. Aus und vorbei – und leider sind es bis heute vor allem jene, die hauptberuflich mit Lehren beschäftigt sind, die diesen radikalen Kulturwandel noch nicht einmal bemerkt haben. Deshalb halten sie so kraftvoll und manchmal auch verbissen daran fest, dass es das Lehren und den Lehrer in alle Zukunft brauchen wird. Dabei ist es ein Beruf, der der Kultur der Digitalität zum Opfer gefallen ist.
Da kommen jetzt nicht andere Aufgaben und Funktionen auf den Beruf der Lehrerin und des Lehrers zu. Der Beruf verschwindet. Wenn Flugzeuge von Maschinen geflogen werden, ändert sich nicht der Beruf des Piloten, und wenn Maschinen operieren, verändert sich nicht der Beruf der Chirurgin. Es braucht dann diese Berufe nicht mehr. Es entstehen andere und neue.
Das wird ja seit einiger Zeit rauf- und runtergebetet angesichts der Digitalen Transformation. Es mag halt keineR so richtig glauben. Am wenigsten die Angehörigen der Berufe, um die es geht. Niemand sieht freiwillig dabei zu, wie sein oder ihr Beruf verschwindet. Und doch würde ich allen, die sich da aktiv auf den Weg machen wollen, ans Herz legen: Geht davon aus, dass ihr tatsächlich einen neuen Beruf erlernt und nicht den alten irgendwie anders gestaltet.
Der vielbejammerte Lehrermangel ist keiner. Ebensowenig wie z.B. der Priestermangel in der katholischen Kirche. Es gibt davon immer weniger, weil diese Berufe aussterben. Es gilt also auch nicht, „den Lehrerberuf neu zu erfinden“. Wir sollten das akzeptieren und möglichst heute anfangen, uns entsprechend zu organisieren. Auch und gerade als Lehrer.
Der Schweizerische Verband für Weiterbildung (SVEB) hat mit der PH Zürich zusammen im Herbst 2018 Inhaberinnen und Inhaber des eidg. Fachausweises Ausbilder/in zur Nutzung Digitaler Technologien befragt. Die lesenswerte Studie kann hier geladen werden. Ihre Ergebnisse zeigen: Digitale Transformation findet nach wie vor woanders statt.
(Titelbild: wikipedia)
41 % der Befragten setzen ihren Schwerpunkt in der Weiterbildungspraxis auf technologiefreien Präsenzunterricht, 46 % auf digital begleiteten Präsenzunterricht, wobei hier nach Aussage der Autoren „ausser Lernplattformen, Sozialen Medien und Web bzw. Computer Based Training (…) kaum Technologien genutzt werden“. (S. 7)
Die Studie zeigt auch, wie wenig sich das traditionelle Mindset von Erwachsenenbildung mit den kulturellen Veränderungen auseinander setzt, die mit der Digitalisierung für Bildung und Lernen einhergehen. Das wird z.B. deutlich, wenn die Ausbilder‘innen befragt werden, welche Kompetenzen ihrer Meinung nach für ihre Arbeit nötig sind (die Grafik dazu auf S. 11). Weniger nötig bis nicht relevant sind nach Überzeugung der Befragten:
Kenntnisse über neue Entwicklungen (VR, Crowdsourcing etc.): 46 %
Programmierkenntnisse: 78 %
Entwicklung von Online Angeboten: 61 %
Soziale Medien: 44 %
Umgang mit „BYOD“: 50 %
Erstellen von Videos: 49 %
Entwicklung und Nutzung von OER: 49 %
Diese Zahlen zeigen meiner Ansicht nach einen großen Aufholbedarf an Bewusstseinsbildung im Kontext der zertifizierten Erwachsenenbildung. Denn hinter diesen Faktoren verbergen sich ja zentrale Zukunftsthemen von Bildung im Digitalen Zeitalter, die um Empowerment, Selbststeuerung, Ownership, Open Source, Kollaboration, Bildungsnomadentum und User Experience (UX) kreisen. Hingegen fokussieren Ausbilder‘innen bis heute offenbar vor allem das klassische Mindset von „Lehre und Vermittlung“, innerhalb dessen Digitalisierung lediglich als methodisches Hilfsmittel figuriert, wie auch der folgende Befund nahelegt.
Selbst wer sich selber für digital fit hält, unterrichtet mehreitlich lieber ohne digitale Technologie
Bei den Befragten, die von sich selber sagen: „Ich besitze die Kompetenzen, um digitale Technologien systematisch zu nutzen“, liegt der Anteil derer, die (dennoch) selten auf Digitales im Unterricht setzen, durchgehend über 50 %. „Die Gründe für den seltenen Einsatz digitaler Technologien sind also nicht allein bei den fehlenden Kompetenzen zu suchen. Es ist anzunehmen, dass dahinter zumindest teilweise bewusste didaktische Entscheidungen stehen“ (S. 9) – oder aber, sit venia verbo, ein Mindset, das Digitalisierung auf technische Mittel und Methoden reduziert, um den Hegemonieanspruch der Alten Schule aus der Gefahrenzone heraus zu halten.
Dringender Handlungsbedarf in Sachen Digitaler Kompetenz
Diese Bestandsaufnahme ist aus Kundensicht besorgniserregend, weil der Markt der Erwachsenen- und Weiterbildung ja über den Fachausweis als eidgenössisch anerkanntem Berufszugang reguliert wird. Allein deshalb ist es hoch problematisch, wenn die Ausbildung diesen Markt weiterhin – via Zertifizierung – mit Ausbilder‘innen flutet, die sich ausgerechnet in dem Bereich unzureichend befähigen, der den umfassenden Kulturwandel unseres Lebens antreibt, bestimmt und gestaltet. Auch die Ausbildenden selbst schätzen ihre „eigene Vorbereitung auf die Digitalisierung durch Aus- und Weiterbildungen … eher mittelmässig oder schlecht ein: 19 % sehen sich gut oder gar sehr gut vorbereitet. 37 % bezeichnen die eigene Vorbereitung als mittelmässig und weitere 44 % als ungenügend oder nicht vorhanden“. (S. 8)
Digitale Technologie weiterhin nicht im Fokus
Die AutorInnen fassen zusammen: „Einerseits zeigt sich, dass erworbene digitale Kompetenzen in einem Zusammenhang mit deren Einsatz in Lehrveranstaltungen stehen. Aber ein Umkehrschluss gilt nicht: Der Verzicht auf digitale Lehrmethoden kann nicht alleine mit fehlenden Kompetenzen in Zusammenhang gebracht werden. Gleiches gilt für den Stellenwert, welcher der Digitalisierung zugeschrieben wird, und die Nutzenerwartungen an digitale Unterrichtsmethoden: Wenn diese hoch sind, geht damit oft auch ein häufiger Einsatz einher. Gleichzeitig gibt es aber auch eine Vielzahl Ausbildender, die beides als hoch betrachten, aber auf den Einsatz digitaler Technologien im Unterricht dennoch verzichten. Hierzu ist festzuhalten, dass ein stärkerer Einsatz von digitalen Methoden nicht per se ein Ziel für Ausbildende ist. Nicht zuletzt der starke Fokus auf Präsenzunterricht zeigt, dass Digitales oft eher als Ergänzung eingesetzt wird.“ (S. 10)
Das Konzept „Unterricht“ radikal überdenken
Für mich wird das Grundproblem nicht erst auf der Ebene von Didaktik und Methodik sichtbar. Es zeigt sich bereits dort, wo das Studiendesign in der Formulierung seiner Fragen ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass Prozesse der Erwachsenenbildung heute und in Zukunft im Format des Unterricht[en]s stattfinden werden, denn nur auf dieses Format und sein Mindset hin wurde befragt. Dadurch suggeriert die Studie, dass Digitalisierung den „Unterricht“ zwar in irgendeiner, noch nicht so recht absehbaren Weise verändert, nicht aber lässt sie den Gedanken zu, dass das Konzept selbst im Rahmen der Digitalisierung durch andere Konzepte abgelöst werden könnte. Genau hier liegt aber die Herausforderung für Bildung.
Der nächste Schritt: Weiterbildung an die Entwicklungen von Mensch und Gesellschaft anpassen
Diese Beobachtungen zeigen, wie tiefgreifend die Problematik im Bildungswesen wirklich ist, weil die Anbieter von Erwachsenen- und Weiterbildung und weil die Ausbilder der Ausbilder das kulturelle Mega-Phänomen der Digitalisierung lediglich durch eine (zudem veraltete) didaktisch-methodische Brille betrachten, statt diesen Rahmen zu verlassen und zu fragen, welchem Wandel unsere Lern-, Arbeits- und Lebenskulturen aufgrund der längst vollzogenen Digitalisierung eigentlich unterworfen sind – und wie Bildung und Lernen darauf zu antworten haben. Die Unfähigkeit des Bildungssystems, die Ebenen der Technologie in größere Zusammenhänge einordnen zu können (und zu wollen), ist wohl die eigentliche Herausforderung. Die Frage ist nur für wen, denn die Kundinnen und Kunden haben schlicht keine Zeit mehr, um auf den längst fälligen Turnaround im Bildungssystem zu warten.
Ein Blick über den Horizont: In welche Richtung wir uns bewegen
In einem spannenden Podcast betont Andreas Schleicher, Leiter des Direktorats für Bildung bei der OECD, dass es bei der Digitalisierung vor allem um kognitive Fähigkeiten gehe, und führt als Beispiel die Lesekompetenz an: „Im Print-Zeitalter ging es darum, aus Büchern Informationen zu extrahieren, in Lexika nachzuschlagen im Vertrauen, dass die Antwort richtig ist. Heute schau ich bei Google nach. Ich bekomme 100 000 Antworten auf meine Frage. Ich muss jetzt selber Informationen miteinander verknüpfen, neues Wissen konstruieren. Diese Konstrukte haben sich verändert. Das ist digitale Kompetenz. Auch bei der Arbeit im Team. Früher konnte ich auf Insel-Lösungen setzen, heute geht es darum, Wissen zu vernetzen, Disziplinen übergreifend zu denken. Das hat mit der Fähigkeit zu tun, die künstliche Intelligenz durch menschliche Fähigkeiten zu ergänzen.“
Auf einer nächsten Stufe spricht Schleicher eine zentrale Chancen der Digitalisierung für das Lernen an: „Warum soll ich als Schüler von einer Lehrkraft lernen, die gerade zufällig vor mir steht, wenn ich gleichzeitig von einer Lehrkraft lernen könnte, die genau auf meinen persönlichen Lernstil zugeschnitten ist? Das ist die Digitalisierung. Sie schafft uns den Zugang zum Wissen der Welt. Verschiedene Menschen lernen unterschiedlich. Das ist in einem traditionellen Lernumfeld sehr schwer umzusetzen. Individuelle Lernförderung heißt dann ‚Klassengröße 1‘.“
Es ist höchste Zeit, dass das Bildungssystem selbst anfängt zu lernen. Und zwar von Grund auf neu.
Bildung sieht ihre Aufgabe und ihr Kerngeschäft bis heute darin, Wissen und allenfalls Kompetenzen zu vermitteln. Egal, in welcher Schul- und Unterrichtsform ein Mensch unterkommt: der komplette Apparat ist darauf ausgerichtet, ihm und ihr etwas zu vermitteln. Bis heute hängen wir stärker als der Gläubige an seinem Gott an der irrigen Vorstellung, in der Bildung tatsächlich Wissen zu vermitteln. Und so sieht denn auch die Bildungspraxis aus – vom Kindergarten bis ins Doktorandenseminar: Menschen inszenieren mehr oder weniger lust- und glanzvoll „ihr Wissen“ vor Publikum.
(Wenn Sie übrigens keine Lust haben, diesen elend langen Blog Post zu lesen: Wir veranstalten zu exakt dieser Thematik ein barcamp am 7.6. im Tram-Museum in Zürich. Hier gibt’s mehr darüber.)
Und das, obwohl wir nicht erst seit gestern sehr ausführlich, präzise und empirisch abgesichert darüber informiert sind, dass Mann und Frau Wissen weder vermitteln noch teilen (noch lehren!) können. Auch Kompetenzen und Fähigkeiten können nicht vermittelt werden. Gleichwohl hält das gesamte Bildungssystem in seiner Praxis und Zertifizierungskultur unbeirrt daran fest. Die Forschungslage zu dieser komplexen Thematik findet sich übrigens in ihrer ganzen Breite und Tiefe hervorragend aufgearbeitet und interpretiert in den Publikationen von Rolf Arnold.
Die Überzeugung von der Wissensvermittlung wird also in sämtlichen gesellschaftlichen Diskursen über Bildung weiterhin verwendet. Gegen alle Empirie. Über das eigentliche Kernproblem einer angesichts der kulturellen, wirtschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen täglich scheiternden und gescheiterten Bildung denken wir also gar nicht nach. Stattdessen doktern wir an vielfältigen, zumeist technischen Symptomen herum, schrauben an Lehrplänen und verkürzen und verlängern und verkürzen die Schulzeit. Und dann verlängern wir sie wieder. Wir diskutieren uns die Köpfe wund, wie viel digitale Technologie es nun wirklich braucht oder nicht – und das alles mit dem unveränderten Ziel, „auch in Zukunft eine professionelle Vermittlung von Wissen und Kompetenzen zu garantieren“. Dabei geht es, nach allem, was die Faktenlage zeigt, nicht darum, Vermittlungsprozesse zu modernisieren, sie klientenorientiert zu gestalten, sie zu digitalisieren und zu modularisieren. Es geht darum, sie abzuschaffen.
good old Banksy…
Nicht einmal teilen kann ich mein Wissen
Weder deins noch meins, noch irgendeins. Wissen kann nur konstruiert werden, dekonstruiert und rekonstruiert. „Teilen“ und „mitteilen“ sind Begriffe, die insinuieren, dass ein empirischer, materiell greifbarer Gegenstand, ein „Inhalt“ (Content) portioniert und verteilt wird. Wie bei Gummibärchen: Ich habe eine Packung, und die teile ich jetzt mehr oder weniger fair mit dir und mit dir. Was da hin und hergeht, verändert dadurch nicht seine Qualität. Und genau das ist, wenn es um Wissen geht, die grandiose Täuschung. Wissen ist niemals „faktisch“, niemals „empirisch“, nie objektiv oder unveränderlich. Es steht zu keinem Zeitpunkt „fest“, und es kann nicht transportiert werden. Transportiert, also höchstens übermittelt werden Daten oder Informationen. Die unterscheiden sich aber so grundsätzlich von Wissen wie der Teig vom Kuchen.
Dass Wasser bei soundsoviel Grad Celsius zu kochen beginnt oder zu Schnee wird, oder dass Flugzeuge ab einem bestimmten Steigungswinkel vom Himmel fallen wie ein Stein, dass wilde Tiere gefährlich sind, und manche Schlangen giftig, das alles ist kein Wissen. Wissen ist die Fähigkeit, solche – je nach Anwendungskontext wertvollen – Informationen nutzbar zu machen. Wissen zeichnet sich dadurch aus, dass es immer nur in einem konkreten Kontext konstruiert wird, in dem Menschen absichtsvoll und zielgerichtet kommunizieren und interagieren, in dem sie Probleme erfassen und lösen. Zu zweit, zu zehnt oder alleine. Im Netz, am Lagerfeuer, in der Geschäftsleitung, im Cockpit. Dabei ist „konstruiert“ nicht das Gegenteil von „real“, sondern die Voraussetzung für Tragfähigkeit. Nicht nur bei Brücken.
Kein Wissen ist objektiv oder ewig, weil jeder Kontext zu jeder Zeit unwiederholbar ist. Kein Wissen ist in seinen Kontexten a priori „richtiger“ oder weniger richtig als anderes. Genau aus diesem Grund ist Wissen jederzeit auf qualifizierte Informationen angewiesen. Wer den Zugriff darauf nicht hat, sitzt deshalb womöglich einem „falschen Wissen“ auf, weil ihm wichtige Informationen fehlen (was er oder sie aber nicht merkt, da er oder sie „felsenfest glaubt zu wissen“). So ergeht es zum Beispiel im Moment dem Bildungssystem selbst. Ständig konstruiert es falsches Wissen über das Wesen und das Zustandekommen von Wissen, weil es als System nicht in der Lage ist, wertvolle Informationen zu kontextualisieren. Wer Wissen mit Informationen gleichsetzt, wird den Möglichkeiten und dem Wert des Phänomens „Wissen“ also in keiner Weise gerecht.
Was nützt, weiterhilft, zur Lösung beiträgt, entscheidet sich immer im Kontext und dadurch, wie die Beteiligten diesen Kontext nutzen und gestalten. Ist das, was ich hier schreibe, also ein Wissen? Nein, es ist meine persönliche Erfahrung, und es ist für Sie als LesendeN eine Information, die Sie, in dem Moment, in dem Sie sie lesen, interpretieren, verneinen, bejahen, verwerfen, kontextualisieren, ignorieren, der Sie heftig widersprechen oder etliches mehr. Indem Sie und alle anderen Menschen jederzeit so vorgehen, ganz von alleine, machen Sie aus Informationen kontextbezogenes Wissen. Deshalb können wir Wissen nicht vermitteln. Wir können es nur – mehr oder weniger erfolgreich miteinander konstruieren. Von Fall zu Fall.
Der hierarchische Vermittlungszirkus verhindert kompetente Wissensbildung
Eine nächste, sehr große Herausforderung für unsere Bildungskultur liegt hier: In Kontexten der Wissensarbeit sind wir nach wie vor einem Konzept von Hierarchie verhaftet, das die Bedeutung von Wissen an die Strahlkraft einer entsprechend dekorierten Person oder Institution heftet. Vortrag, Vorlesung, Referat, Buch, Artikel und Beststeller, Key-Note Speech und Podiumsdiskussion sind die Formate, in denen sich diese Kultur niederschlägt.
In solchen Inszenierungen wird jedoch auch kein Wissen geteilt, mitgeteilt oder vermittelt. Auch wenn der Chef, der Vorgesetzte, der Lehrmeister, der Korrespondent oder Innenminister in einem Meeting seine schwergewichtige Meinung kundtut, teilt er oder sie nicht Wissen mit, sondern mehr oder weniger relevante Informationen innerhalb eines bestimmten Kontextes. Hier werden (wie in diesem Artikel, den Sie gerade lesen) ausnahmslos Informationen in den Raum und den Anwesenden zur Verfügung gestellt. Verbal, über Bilder, Töne, Gesten, durch soziale Rollen und Hierarchien – eben durch Kontext. Obwohl wir bis heute ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass das, was von so genannten Autoritäten (Lehrern, Hochschulen, Forschungsinstituten) produziert wird, hoch qualifiziertes Wissen ist, handelt es sich dabei allenfalls um wertvolle Informationen. Ob und in wie weit diese Informationen etwas zur Lösung einer Aufgabe beitragen oder ob sie ein Projekt weiterbringen, das hängt von der Fähigkeit des Lieferanten ab, seine Informations-Ware anschlussfähig zu machen, sprich: einen ko-kreativen und und kollaborativen Beitrag zur Wissenskonstruktion zu leisten.
Gleichzeitig gilt: Was Sie und alle anderen, die diese und alle Informationen „empfangen“, daraus in welchem Kontext und in welcher Absicht auch immer machen, wie Sie es einsetzen, umformen, vernetzen, ins Gegenteil kehren oder einfach wieder vergessen – das entscheiden allein Sie.
Wissen ist nicht das Ergebnis von Konstruktion. Es ist Konstruktion.
Wissen wird also in keinem Fall vermittelt oder geteilt. Es wird immer mehr oder weniger erfolgreich konstruiert – aus einem Meer an Informationen, die uns mehr oder weniger attraktiv zur Verfügung gestellt werden. Diese Fähigkeit, diese zentrale Kompetenz im Zeitalter der Digitalisierung, wird in unseren Bildungseinrichtungen nicht gelernt.
Genau hier müssten wir in der Bildung ansetzen. Denn in den äußerst agilen Prozessen der Auseinandersetzung mit Informationen aus allen Ecken und von allen Enden der Welt, konstruieren wir uns unser ganz persönliches, in unserem individuellen Kontext (Leben, Lieben, Arbeiten …) bedeutsames Wissen. Das Subjekt dieser Prozesse sind allein wir. Sie und ich, wir sind unsere eigenen Wissensproduzenten. Außerhalb der Grenzen unserer ganz persönlichen Lebens-, Arbeits-, Lern- und Ideenwelt gibt es kein Wissen. Es gibt nur Informationen und Daten.
Auch wenn Menschen zusammen in Projekten engagiert sind (Regieren, Bauen, Verkaufen, Planen), ist das nicht anders, nur komplexer. Dann muss aus mehreren solcher Wissenswelten eine gemeinsame Basis konstruiert werden, die Kooperation und Kollaboration ermöglicht. Wissen ist dann ein für dieses konkrete Projekt entwickeltes, „kollektives Konstrukt“, an dessen Konstruktion alle Beteiligten beteiligt sind. Eine Zusammenarbeit, die sich dieser Unterschiede zwischen Wissen und Information bewusst ist, und die die irrige Meinung hinter sich lässt, dass es irgendwo auf der Welt oder im Netz objektives Wissen gibt, das nur gefunden und angewendet werden müsste, eine solche Kooperation hat viel mehr Chancen auf Gelingen als eine Gruppe von Menschen, die diesem Irrtum erliegt
Das Vermittlungsmärchen
Vermittler vermitteln Wohnungen, Versicherungen, Partner. Aber niemals Wissen. So wenig wie Erfolg, oder Liebe, oder Sinn vermittelt werden können. Es gibt ein paar Phänomene auf diesem Planeten, die sind nicht vermittelbar. Ich kann Ihnen keinen Sinn vermitteln. Nur Sie können sich den Sinn für Ihr Leben selbst erarbeiten. Und der gilt dann auch nur für Sie. Und wenn sie das mit Ihrem Partner zusammen angehen, dann gilt dieser „Sinn ihrer Partnerschaft“ für Sie beide – für niemanden sonst. So ist das auch mit Phänomenen wie Erfolg, Glück, Liebe und Wissen. Wissen gehört in die Reihe jener Phänomene, die einerseits für unsere Orientierung, für unser Handeln und für unser Gestalten von Welt völlig unverzichtbar sind, die aber andererseits nicht vermittelbar sind. Wir müssen es selber „machen“. Und selbstverständlich gehören da auch eine Menge Informationen dazu, die wir uns von überall herholen – sowie auch die unschätzbar wertvolle Dimension der Erfahrung.
Vermittler stehen deshalb immer dazwischen. So auch wenn sie pädagogisch tätig sind, oder didaktisch und lehrend. Ihnen ist klar, dass sie weder Stoff noch Wissen vermitteln, ja nicht einmal Informationen. Sie vermitteln zwischen dem, was es alles zu sehen, zu entdecken, zu finden, zu prüfen und zu verknüpfen gibt und denen, die sich auf diesen Weg machen. Vermittler vermitteln nicht „etwas“ sondern „zwischen etwas und jemand“.
Sie sind Realitätenkellner, Ressourcenklempner, Coaches. Sie sind Neo-Generalisten, um mit Kenneth Mikkelsen zu sprechen. Das sind relativ neue und sehr interessante Jobs, die gerade erst im Entstehen sind – und die dummerweise weder gelehrt noch vermittelt werden können.