Sicherheit sei ein wichtiges Bedürfnis, sagen wir uns pausenlos. Ist sie aber nicht. Auch befriedigt sie kein Bedürfnis. Sicherheit hält lediglich in Schach. Eher würde ich von Verlustangst sprechen, zuvörderst vor dem Verlust der Kontrolle. Wir fischen hier im Innerpsychischen, und zwar nach unserem Umgang mit Instabilem und Unwägbarem, das wir mit Fetischen zu kompensieren versuchen, wie Erich Fromm beschrieben hat – durch Religion, Konsum, Autorität, Kontrolle.
Die Wortgeschichte zeigt, worum es eigentlich geht: Das lateinische „securitas“ (sinnigerweise der Name einer schweizweit sehr erfolgreichen, privaten Überwachungsfirma) geht auf „securus“ für sorglos zurück. Heute wird das interpretiert als „frei von unvertretbaren Risiken und Gefahren“. Soweit so wikipedia.
Unsere einzige Sorge: Die Sorglosigkeit
Der Widerspruch, der unsere Wahrnehmung in Sachen Sicherheit belagert, ist das Leugnen der (Erfahrungs-)Tatsache, dass Sicherheit ein definitiv und brutal vorläufiger Zustand ist. Und ein extrem öder dazu. Metaphorisch: Wir sind nur solange in Sicherheit, wie der Löwe satt ist. Oder wenn er ausgestorben ist. Da arbeiten wir ja dran.
Wir erheben die Sorglosigkeit zur größten Sorge. Wir sind ständig darum besorgt, keine haben zu müssen. Das ist pervers. Es hält pausenlos vom Leben ab. Es macht das Leben selbst zum Risiko, statt anzuerkennen, dass das Leben eben auch aus Risiken besteht. Und damit sind nicht die selbst gemachten gemeint. Wie Sex ohne Gummi, Skifahren abseits der Piste oder zu spät zur Arbeit kommen. Schon eher gemeint sind nicht zu zähmende Phänomene wie Unvorhersehbarkeit und Emergenz.
Ein Nächstes: Durch unser maßlos übersteigertes Bedürfnis nach Absicherung erkaufen wir uns eine Form von merkwürdiger Ereignislosigkeit (alles, was passiert, geschieht geplant) und Kontrollillusion. Wenn sich dann flüchtende Menschen auf den Weg zu uns machen, oder wenn sich Schüler’innen regelwidrig auf die Strasse schicken, um für ihr Recht auf Zukunft zu kämpfen, dann ticken wir aus. Wir erschaffen und erhalten ein ausgeklügeltes System von Sicherheiten, das eine Hermetik erreicht hat, die uns von dem abschneidet, was Leben ursprünglich ist: Exploring & Discovering. Neue Möglichkeiten, neue Begegnungen, neue Wege, neue Lösungen.
Zu diesem Zweck erklären wir die Phänomene des realen Lebens (Risiko, Scheitern, Misslingen, abgewiesen werden, neu anfangen, Loslassen, Sterben) zu Symptomen und verlagern sie in mediale Inszenierungen. Das Risiko findet in Geschichten statt, die wir uns erzählen lassen, um uns zu gruseln, abzuschrecken und bei Laune zu halten. Die exportierten Nebenwirkungen dieser Inszenierungskultur von Freiheit, Wohlstand und Sicherheit, die sich nichts mehr traut und keine wirkliche Verantwortung kennt, fallen im Moment brutal auf uns selbst zurück: durch politische Insolvenz, durch palliative Didaktik, durch globale Migration, durch das Versiegen von Ressourcen, durch aussterbende Tier- und Pflanzenarten, durch die Klimakatastrophe u.v.m.
Der Fetisch des Störungsfreien
„Störungsfreiheit“ ist ein aus dem Technologischen entliehenes Synonym für Sicherheit, das unsere Lebenswelt komplett durchdrungen hat. Allein sie soll noch erreicht werden: verkehrs- und datentechnisch, versorgungstechnisch, medizinisch, bei Organisationsabläufen u.v.m. Die Ironie dabei: Je mehr wir uns auf das Störungsfreie fokussieren, umso weiter rückt es in die Ferne. Flugzeuge stürzen zwar kaum noch ab, sie haben sich aber zu einem wichtigen Teil der (Ver- und Zer-)Störung zahlloser Systeme des Planeten gemausert. Natürlich wünschen wir uns sichere, störungsfreie Flugzeuge. Flugzeuge, die abstürzen, töten Passagiere. Doch Flugzeuge, die nicht abstürzen, töten den Planeten. Welches Element würden Sie also aus dieser „Gleichung“ heraus kürzen um das Töten zu stoppen?
Der hohe Preis der Sicherheit: Konformismus und Vergleichgültigung
Im Sozialen ist es der Zwang zu konformem Verhalten, das unsere Gesellschaften durch normative Vergleichgültigung an den Rand der Implosion bringt. Das Narrativ dazu: „Scheißegal, wie es dem Anderen so geht – dafür ist jeder selber zuständig, und darüber hinaus gibt es Krankenhäuser, Sozialämter, Versicherungen, Gerichte und Gefängnisse.“ Zuständig für anderes sind immer Andere. Auch das gehört zum Fetisch der Störungsfreiheit. Anders soll es gefälligst nur Anderswo gehen. Individualität und Verschiedenheit sind komplett zu einer Sache des Konsums geworden. Vielfalt ist auf die unbedingte und rücksichtslose Vielfalt eines Angebots reduziert: Leben als (Um-)Buchen.
Selbst was der Künstlichen Intelligenz unterstellt wird, nämlich die lückenlose Kontrolle unserer Lebensvollzüge, ist lediglich eine technologisch möglich gewordene Übersteig(er)ung einer längst üblichen kulturellen Perversion: Sicherheit durch Kontrolle. Ein guter Film dazu: Das Leben der Anderen. Die Angst vor Künstlicher Intelligenz richtet sich also nicht gegen mehr Kontrolle, sondern auf den Verlust der Kontrolle über die Kontrolle.
Der Lohn der Sicherheit: Hauptsache Arbeit
Um diesen „Teufelskreis der Sicherheiten“ am Laufen zu halten, gibt es ein ausgeklügeltes System der Be-lohn-ung: Saläre, Karrieren, Renten, Pensionen, Boni, Renditen, Gehaltserhöhungen. Die erniedrigendste Auswirkung aller Sicherheitssimulationen ist in diesem Teil der Welt die, dass wir uns als Arbeitssklaven halten lassen – zynischer Weise auch dann, wenn wir keine haben. Wir tun und unterlassen alles, um nicht aus jener materiellen Absicherung zu fallen, durch deren Aufrechterhalten wir zugleich der Mehrheit der planetaren Mitbewohner’innen ein Minimum an Lebensqualität verunmöglichen.
Wir sind so fest und tief in dieses System der Ausbeutung verstrickt, dass wir jeden Vorschlag, es auszuhebeln, wie die Sau durchs Dorf jagen: „Bedingungsloses Grundeinkommen? Nur was für faule Säcke“ (anders: Rudger Bregman). Wir ergehen uns in Gleichgültigkeit, Ignoranz und nicht selten Hass gegenüber allem, was diesen Status Quo, der ja mittlerweile fast nur noch aus seinen Nebenwirkungen besteht, ins Wanken bringen könnte, und wir nennen es unser Sicherheitsbedürfnis.
Teilen als Risiko und Ursprung einer neuen Wirklichkeit
Was wir verloren haben (vielleicht nie wirklich hatten), ist das Vertrauen in die Möglichkeiten des Menschen und des Menschseins. Vor allem hier sehen wir vor allem Risiken. Darum sichern wir uns ab. Völlig wurscht, ob es sich um flüchtende Menschen handelt, um Schüler’innen, die wegen des Erhalts ihrer Lebensgrundlagen auf die Straße gehen, oder um irgendein Mitglied irgendeiner Gegenpartei. Sie alle sind einzudämmende Sorglosigkeitsrisiken.
Weil wir dieses Vertrauen nicht haben, können wir nicht teilen. Auch nicht unter- oder miteinander. Wir verteilen, teilen zu, aus und mit – kontrolliert, zertifiziert und durchreguliert. Teilen geht nicht. Nur tauschen: Leistung führt zu Gegenleistung. Dabei entstünde erst aus der Haltung des Teilens Zukunft im Sinne eines Projekts, das wir als „gemeinsames Drittes“ erkennen. Wenn ich zu teilen beginne, entsteht sofort eine neue Wirklichkeit, in der als erstes die Erwartung verschwunden ist, der und die andere mögen es mir gleich tun. Teilen ist immer asymmetrisch – wie das Leben.
Das Teilen löscht den Argwohn. Wenn ich teile, setze ich mich einem Risiko aus. Ich weiß nicht, was damit geschieht, weil ich keinen Anspruch mehr auf das erhebe, was ich geteilt habe. Teilen hat immer zur Folge, dass genügend zur Verfügung steht. Erst dort, wo jemand oder eine Gruppe nur noch für & an sich denkt, entsteht ein Mangel. Erst im Teilen tritt an die Stelle von Sicherheit die Gewissheit – eine Schwester des Vertrauens.
Geteiltes Wissen halbiert sich nicht, es vermehrt sich. Ebenso die Zeit, die ich teile. Und immer ist und bleibt unvorhersehbar, was mit dem Geteilten geschieht. Dennoch gibt es keine andere Haltung unter Menschen, die mehr Menschlichkeit in die Welt bringt, als die Haltung des Teilens – im Sinne eines Gegenentwurfs zu Kontrolle und Sicherheit. Teilen ist die praktische Seite des Vertrauens und zugleich seine Nagelprobe.
Teilen setzt ungeheure humane Kräfte frei. Es löst Abhängigkeiten in Luft auf und öffnet der Emergenz Tür und Tor. Es ermöglicht sogar konkrete Freiheit, weil durch das Teilen Ressourcen in Umlauf kommen, die ungeahnte Gestaltungsspielräume eröffnen.
Teilen eröffnet und ermöglicht das, was wir durch Sicherheit und Kontrolle vergeblich zu finden hoffen. Oder mit den Worten einer lieben Freundin: Wenn du einen Freund auf einer Insel halten willst, dann schenke ihm (d)ein Boot.