Vier Schritte in die Zukunft des Lernens

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Foto: Moritz Frankenberg. Quelle: Hannoversche Allgemeine

Über den Wandel wird viel gesprochen. Digitalisierung und so. Klima. Wir müssen dringend etwas tun. Also tun wir besorgt. Die „FridaysForFuture“ entlarven das Ganze als Geschwätz und machen klar: Wir müssen uns neu erfinden. Uns nicht weiter unendlich ausdehnen, und sei es durch Künstliche Intelligenz, sondern unser Menschsein neu erfinden. Das reden wir weder herbei noch weg. Wir lernen es – und zwar in vier Schritten.

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Erster Schritt: Loslassen ist der Anfang von Allem

Unser Bildungssystem ist am Ende. Es atmet nur noch, weil und solange es an teuren Maschinen hängt. Dies zu realisieren, ist unumgänglich und schmerzhaft. Wir sagen zwar, wir könnten viel eher loslassen, wenn wir wüssten, was danach kommt. Die Erfahrung zeigt jedoch: erst durch das Loslassen wird mein Blick frei und offen für das, was kommt. Wenn wir uns das eingestehen und wirklich Trauerarbeit leisten, lassen wir los und werden frei für einen neuen Anfang. Ohne dieses Loslassen bleibt jede Vision eine Schimäre, ein Abklatsch der Gegenwart. In meiner Arbeit mit sterbenden und trauernden Menschen wurde mir vor allem dies klar: Loslassen ist der Anfang von Allem. 

Zweiter Schritt: Das Lernen neu erleben und neu beschreiben

To create a new mindset of what we mean when we say learning. Wenn es um radikale Veränderung geht, ist Lernen alles, was uns bleibt. Wenn wir das Alte losgelassen haben, gibt es nur noch Lernende. Jetzt orientieren wir uns am Unbekannten und allein das Lernen bringt uns voran. Dieses Lernen der Zukunft ist nicht mehr auf Phasen und Orte beschränkt. Es ist auch keine Fähigkeit, sondern eine Eigenschaft, wie das Atmen. Wir entdecken das Lernen neu und gehen bei denen in die Schule, die es seit Jahrzehnten praktizieren: Summerhill, Sudbury Valley, Democratic Schools. Einen klaren Blick darauf gibt es hier. Vier Übergänge zum Neuen Lernen werden jetzt relevant: 

Vom Using zum Performing

Keine Bühnenshows & Keynotes, sondern Flow. Psychologisch beschrieben hier – philosophisch hier. Keine inszenierten Lerngelegenheiten mehr. Kein kaltes Buffet der Unterrichtsmethoden und kein didaktischer Bauchladen. Lernen ist nicht mehr das Nutzen (halb-)fertiger Angebote, kein Ausbacken kleiner Brötchen aus Lehrerhand. Stattdessen jetzt das eigene Tempo finden und den eigenen Rhythmus. Die eigene Struktur. Lernen ist nicht mehr ein Anwenden und Einsetzen von Methoden, sondern das Erfinden des eigenen Spiels. Performing als Spiel. Spiel als Ernstfall des Lernens. Konkret beschrieben wird das hier. Auf den Punkt gebracht: 

„Gibt man Kindern die Freiheit (sic!) zu spielen, dann gibt man ihnen die Freiheit, die Natur innovativer Prozesse unmittelbar zu entdecken. Sie erhalten damit unmittelbar eine Umgebung, die erahnen lässt, welche Haltungen ihnen lebenslang nützlich sein werden, im Zeitalter von Innovation, Muße und Kreativität“ (Quelle). Das gilt nicht nur für Kinder – sondern für jedeN von uns.

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Vol de deux

Vom Teaching zum Discovering 

Lernen ist keine Ableitung von Lehren mehr, denn sowohl der Lehrer als auch die Künstliche Intelligenz nehmen mir ja bis heute die fundamentale Aufgabe des Lernens ab: Selbststeuerung und Selbstermächtigung. Wenn Lernen bis heute „being taught“ meint, steht es in Zukunft für das Entdecken – und zwar gerade nicht im Reservat, sondern in der Welt, die kein Lehrmittel ist, wie Christof Arn vermutet, sondern ein Lernort. „Discovering“ meint nicht das Lupfen des Deckels vom Kochtopf oder das Auspacken eines Geschenks. Es setzt nicht am Fließband des Erwartbaren an, es sitzt nicht am (Gaben-)Tisch und harrt der Lüftung eines inszenierten Geheimnisses. Discovering ist im Gegenteil eine Suchbewegung, keine Erwartungshaltung.

Vom Executing zum Exploring 

Lernen kennen wir als das Ausführen von Aufgaben: Ausmalen, Abfahren, Ausfüllen. Das Durchgehen und Abarbeiten von Listen: Executing.

Exploring hingegen ist eine Dynamik, die bei Expeditionen ins Unbekannte gebraucht wird: Der Wille zu erforschen. Sich nicht auf ein nächstes Kapitel gefasst zu machen, das schon geschrieben ist, sondern auf das Neue, das geschrieben werden will. Jeden Stein umdrehen, noch einen Schritt weiter gehen. Sich alle Zeit der Welt nehmen, um in das Unbekannte und nicht Gewusste einzutauchen, um es dadurch für sich zu erschaffen. Nichts, wodurch du eine Expedition vorbereitest, ist dir in dem Moment eine Hilfe, wenn dir das Neue begegnet. Oder Martin Walser: „Das fänd ich gemein, vorbereitet zu sprechen zu unvorbereiteten Menschen“ (Quelle).

Vom „Following Plans“ zur Serendipity

Serendipity bezeichnet eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist (Quelle). Sie ist ein Grundprinzip des Lernens, des Fortschritts, jeder Form von Entwicklung. Serendipity braucht völlig andere Umgebungen als die curricular und diaktisch umzäunten Lernräume des Bildungssystems. Sie braucht die zufällig eingeschlagene Richtung, den unabsichtlich gewählten Weg. Das Abseits, die Abweichung, durch die der neue Weg entsteht: die „unerwartete Entdeckung, die durch einen glücklichen Zufall möglich wird. ‚Serendipity‘ tritt in unser Leben, wenn wir in einem Buchladen plötzlich ein Buch in der Hand haben, das durch seinen Umschlag unsere Aufmerksamkeit geweckt hat, das wir eigentlich nie gelesen hätten, aber in dem wir nun plötzlich stöbern. Zu ‚Serendipity‘ gehört es, wenn ich plötzlich eine Zeitungsreportage anlese und gefesselt bin, obwohl ich dachte, ich interessiere mich nicht für das Thema. ‚Serendipity‘ liegt in der Begegnung mit einem Menschen, in den ich mich verliebe, obwohl er nicht meinen ‚Idealvorstellungen‘ entspricht. Und ‚Serendipity‘ liegt auch darin, dass ich plötzlich einem unbekannten Thema begegne, das mich politisch aktiv werden lässt, weil es mir so wichtig erscheint“ (Quelle).

Dritter Schritt: In den Learnflow kommen

Was ist ein Flow? 

Das „als beglückend erlebte Gefühl eines mentalen Zustandes völliger Vertiefung (Konzentration) und restlosen Aufgehens in einer Tätigkeit („Absorption“), die wie von selbst vor sich geht.“ (Quelle) 

Warum ist der Flow für das Lernen so wichtig? 

Weil Lernen nie nachhaltiger ist und nie folgenreicher, weil es nie beglückender und verbindlicher ist, als im Flow. Wenn Klaus Holzkamp das von ihm so genannte expansive Lernen beschreibt, das ein Maximum an Selbst- und Welterschließung ermöglicht, dann beschreibt er den Flow (Quelle). Es ist, wie Daniel Greenberg es beschreibt, unaufhaltbar. Es bedeutet: Ich bin ganz in etwas vertieft, dem ich mich selber verpflichtet habe (Quelle/Seite 89f). 

Wie fühlt es sich an im Flow zu sein?

  • Wir sind vollständig in das verwickelt, was wir tun: zielgerichtet und konzentriert.
  • Ein Gefühl der Ekstase – außerhalb der alltäglichen Realität zu sein.
  • Große innere Klarheit – zu wissen, was getan werden muss und zu wissen, wie gut wir darin sind.
  • Zu wissen, dass die Aktivität machbar ist – dass unsere Fähigkeiten der Aufgabe angemessen sind.
  • Ein Gefühl der Gelassenheit – keine Angst mehr um sich selbst und ein Gefühl, über die Grenzen des Egos hinauszuwachsen.
  • Zeitlosigkeit – durchweg auf die Gegenwart ausgerichtet, scheinen Stunden in Minuten zu vergehen.
  • Intrinsische Motivation – was auch immer Flow erzeugt, wird zu seiner eigenen Belohnung.

(Quelle: TED Talk von Mihaly Csikszentmihalyi) 

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Flow

Den oder einen Learnflow kann ich nicht vorhersagen, vorbereiten oder abrufen. Es gibt allerdings Haltungen, mit denen die Wahrscheinlichkeit steigt, „in den Flow zu kommen“, die das schiere Gegenteil sind von Besorgtsein, Apathie und Langeweile. In Anlehnung an ein Konzept, das Tim Leberecht entwickelt hat, sind es vor allem vier Haltungen, die diesen Schritt erleichtern. Ich habe die Formulierungen von Tim übernommen, von dem es dazu einen wunderbaren TED-Talk gibt (Quelle). Es sind Haltungen, die wir als Menschen einnehmen, die aber auch von Umgebungen gespiegelt werden können, von Räumen, die diese Haltungen fördern; die dazu einladen, in diesen Haltungen unterwegs zu sein, sie einzunehmen. Es sind nicht die Haltungen der wenigen, die lehren oder führen. Es sind die Haltungen aller:

Doing the unnecessary

Das nicht Notwendige tun. Die Spielräume des Lernens entstehen überall dort, wo das Notwendige aus dem Blick gerät, wo mein Interesse jenseits der Nützlichkeitslogik mäandern kann. Dadurch entdecke ich erst den Überfluss an Lerngelegenheiten. Als ich (m)einer achten Klasse in Luzern vorschlug, über ein verlängertes Wochenende nach Berlin zu reisen, und diesen Event selbst zu organisieren, begann ein nicht enden wollendes Feuerwerk an Dynamik, Solidarität, Selbstverantwortung, Energie, Durchhaltewillen, Geschäftssinn. Es entwickelte sich eine völlig neue Form der Klassengemeinschaft. Was in Wochen der Vorbereitung und während der Reise selbst möglich wurde, war eine neue Form der Vertrautheit, weil junge Menschen anfingen, miteinander das nicht Notwendige zu tun. 

Creating intimacy

Vertrautheit schaffen. Nicht als Angebot, sondern als gemeinsam gestaltete Kultur. Eine Kultur, in der Menschen Vertrauen fassen in die Tragfähigkeit und Belastbarkeit der Beziehungen; in der sie sich hervortrauen, in der sie den gemeinsamen Boden pflegen, auf dem sie ihre Beziehungen gestalten; in der eine Kultur der wertschätzenden und verbindlichen Kommunikation auf Augenhöhe wächst. 

Being ugly

Die dunkle Seite des Unzureichenden ausagieren. Unzulänglichkeit anerkennen, adressieren und künstlerisch artikulieren statt sie zu ignorieren oder zu tabuisieren. Sie zelebrieren statt zu stigmatisieren. Sie dramatisieren statt sie zu unterdrücken. Selbstironie als kollektive Ausdrucksform und Ventil etablieren. 

Staying incomplete

Damit ich überhaupt anfange zu lernen, muss meine Umgebung unvollendet sein und bleiben. Als unauslöschliches Merkmal. Irgendetwas muss immer fehlen, unvollständig sein, offen, unpassend und unangepasst, mehrdeutig, widersprüchlich unbeständig und vergänglich – und zwar gewollt, nicht geduldet. Eine Umgebung, die am Perfekten orientiert ist und an der Vollständigkeit, lädt nicht zum Lernen ein. Sie schreckt ab. Staying incomplete bedeutet, dass mich die Welt und meine Beziehungen in ihr hungrig machen, nicht satt. Sie wecken meine Neugier, sie befriedigen sie nicht – letzteres ist ja meine Aufgabe als Lernender. 

Emergenz
Zusammenspiel

Vierter Schritt: Communities bilden. Damit aus Nomaden keine Monaden werden

Communities sind nicht einfach „gegeben“. Sie wollen erschaffen werden. Erst recht in den digitalen Netzwerk- und Plattformstrukturen der Zukunft. Wenn Lernen und Arbeiten immer mehr „nomadisch“ werden, wächst das Risiko, das Menschen immer mehr „monadisch“ funktionieren. Die Gig-Economy birgt die Gefahr der Vereinsamung, wie Marco Jakob, Mitgründer des Coworking-Space Effinger in Bern, im Interview betont. Zwei Herausforderungen stellen sich ein: Lernen, Communities zu bilden und in Communities zu lernen. 

Menschen lernen nicht allein. Üben vielleicht schon. Lernen nicht. Lernen ist immer ein soziales Phänomen. Es ist immer eingebunden in menschliche Gemeinschaft, denn Lernen bedeutet immer auch: Ich erschließe mir die Welt. Lernen ist das sukzessive Ausbauen und Verdichten von Netzwerken mit der Welt. Es lebt aus der Kommunikation – auch dann, wenn es sich Schleifen des Rückzugs oder der einsamen Expedition erlaubt. Es ist, wenn nicht gleichzeitig, so doch jederzeit verbunden mit lernenden Systemen und im Austausch mit ihnen. Deshalb lernen nie nur einzelne Menschen, sondern immer ganze Systeme. Was tun wir, wenn wir Communities bilden?

connecting

Wer ist noch da mit mir? Verbindung aufnehmen. Einen gemeinsamen Raum der Möglichkeiten und der Verbindlichkeit eröffnen durch echte Anwesenheit, durch Aufmerksamkeit. Ankommen ermöglichen.

sensing

Mit welcher Geschichte, mit welchen Geschichten und Anliegen sind wir da? Was beschäftigt uns? Was treibt uns um? Wer sind wir? Welche Themen sind im Raum? Bedürfnisse realisieren. Gemeinsamkeiten entdecken. 

caring

Interesse entwickeln und zeigen. Mich zuwenden. Zuhören. Bei unseren Themen sein. 

sharing

Erkennen, was gebraucht wird. Eine Haltung des Teilens entwickeln. 

co-creating

An den Themen arbeiten. Lösungen entwickeln. Gemeinsam konstruieren, bauen, experimentieren, erforschen.

emerging

Den Mehrwert von Community nutzen. Im Zusammenspiel neue Eigenschaften, Strukturen und Möglichkeiten entwickeln, die nicht auf die Eigenschaften Einzelner zurückzuführen sind.

Diese Elemente bilden zum Beispiel in der ‚Theory U‘ von Otto Scharmer und in der Themenzentrierten Interaktion von Ruth C. Cohn die Grundlage jeder Form menschlicher Entwicklung. Beide Konzepte haben mich in meiner Biografie stark geprägt, und ich profitiere täglich von ihnen.

Community
Emergenz
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Autor: Christoph Schmitt, Bildungsdesigner, Coach & Supervisor ZFH

Bildungsaktivist, Bildungsdesigner, Ressourcenklempner, Ethiker, Rituals Expert. Ich unterstütze Menschen und Organisationen beim "Digital Turn" - systemisch & lösungsfokussiert. Ich coache Menschen in ihren Entwicklungsphasen und begleite in einschneidenden Lebensmomenten durch die Gestaltung von Ritualen.

3 Kommentare zu „Vier Schritte in die Zukunft des Lernens“

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