Die alles entscheidende Kulturtechnik
Was muss eine Absolventin an erster Stelle wissen, wenn sie eine Schule bzw. eine Hochschule abschließt? Sie muss wissen, wie sie mit Wissen umgeht. Aber das alleine wird nicht reichen. Sie muss das auch können. Sie muss mit Wissen umgehen können. Das ist die entscheidende, es ist die wichtigste Kompetenz des 21. Jahrhunderts im Zusammenhang mit schulischer Bildung. Sie bildet die Grundlage für jede andere Fähigkeit, die ein Mensch ausüben kann.
Wer die „Vermittlung von Wissen“ gegen eine „Entwicklung von Kompetenzen“ ausspielt, wie das Untergangspropheten pädagogischer Provenienz gerne tun, der hat deshalb nicht begriffen, dass sich Wissen und Können gar nicht gegenüberstehen. Ein Beispiel für die Zelebration dieses Irrtums liefert Konrad Liessmann in seinem Buch „Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung“.
Der Umgang mit Wissen ist nämlich eine Kompetenz. Sie kann zwar nicht gelehrt, aber ganz sicher gelernt werden. Es handelt sich dabei um die zentrale Kulturtechnik, die wichtigste Kompetenz der Zukunft. Für die Frage, wie erfolgreich sich ein Mensch in Kultur, Ökonomie und Gesellschaft zu Recht finden wird, ist dieses Können der entscheidende Maßstab.
Wissen ist Information in Bewegung
Ein Zweites: In vielen Köpfen herrscht hartnäckig die Überzeugung, Wissen sei ein „Bestand“. Viel zu wissen, heißt für allzu viele immer noch, Wissen auf Halde zu haben. Volle Speicher. Aber das ist ein Irrtum. Was in diesen Speichern wirklich lagert, ob es sich nun um Gehirne oder um Clouds handelt, sind Nullen und Einsen. Es sind Daten, im besten Fall Informationen. „Wissen“ ist das alles nicht, denn Wissen lässt sich nicht speichern, sondern nur fortlaufend gewinnen – und zwar gerade aus dem unschätzbar riesigen Kosmos an Informationen, die in den Speichern dieser Welt angelegt sind. Und aus dem Kontext, in dem es gebraucht wird. Wissen ist nicht der Rohstoff, sondern ein Produkt. Gregory Bateson: Dieser Unterschied macht den Unterschied – was aber offenbar nur die Wenigsten wissen.
Wissen ist Information in Bewegung, im Kontext, in Anwendung. Wissen entsteht im Austausch, im Einsatz, im Diskurs, durch Unterscheidung. Deshalb ist Wissen immer auch auf eine Situation bezogen, in der es gebraucht, vermisst oder erfolgreich angewendet wird. Wissen ist nicht ewig, sondern höchst situativ. Je situativer desto hochwertiger. Alles andere sind Daten. Big Data.
Brisant: Schulisches Wissen ist Herrschaftswissen
Dort, wo sich Wissenskönnerschaft bilden müsste, in Schule und Hochschule, in Aus und Weiterbildung hat Wissen jedoch immer die Funktion von „Herrschaftswissen“. Es ist ein Wissen, das vor allem die haben, horten und „verteilen“, die dort „herrschen“, also an der Macht sind; die über „das Wissen“ bestimmen, es verwalten, vermitteln und über seine korrekte Anwendung urteilen. Solches Wissen dient dem Erhalt des Status quo. Es erhält Hierarchien, es garantiert Herrschaft.
Wissen hat in schulischen Kontexten die Funktion, soziale Hierarchien aufrecht zu erhalten. Es dient dazu, dieses „Hierarchie-Mindset“ in den Köpfen und Bäuchen der Lernenden zu manifestieren. Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist das Urbild sozialer Abhängigkeit, die sich vor allem im Zuteilen und Verwehren von Chancen manifestiert. Deshalb hat schulisches Herrschaftswissen immer auch die Aufgabe der Selektion, denn es entscheiden ja jederzeit die Lehrenden darüber, wer von den Lernenden nun wirklich „etwas weiß“. Gerade diese Kompetenz darf bis heute nicht wirklich auf die Lernenden übergehen. Deshalb produziert Schule vor allem Unwissende. Das ist eine Katastrophe.
Warum ist das so? Weil Wissen in der Schule vor allem eine erziehende Funktion hat. Es zielt drauf ab, dass junge Menschen sich die damit verbundenen Menschen- und Gesellschaftsbilder einverleiben. Ein hierarchischer Umgang mit Wissen formt andere Bilder von Menschsein in mir als ein demokratischer und kollaborativer Umgang damit. Je nachdem, in welcher dieser Dimensionen ich „zu wissen lerne“, entwickle ich ganz andere Bilder von mir selbst, von meinen Mitlernenden und vom sozialen Feld.
Schulisches „Lernen“ verhindert Wissenskompetenz
Ein wichtiges Argument zur Stützung des Herrschaftswissens lautet, dass jedem kompetenten Handeln immer ein bestimmtes Wissen vorauszugehen habe. Mit diesem Argument begründen lehrende Berufe und ihre Administratoren ihr Dasein: „Diese jungen Leute müssen doch zuerst einmal etwas wissen, bevor sie dann ans Werk können“. Vorausgesetzt das stimmt, ist damit aber noch in keiner Weise gesagt, wie sie sich dieses dem Handeln anscheinend vorausgehende Wissen aneignen. Wie sie es suchen, organisieren und konstruieren. Da gibt es ja heute viel kreativere und eigenständigere Wege als das Absitzen von Lebenszeit in Studierstuben – oder vor Lernvideos.
Nun ist es aber so: Auch Wissen ist ein Handeln. Deshalb folgt das Handeln gar nicht auf oder aus Wissen, so wenig das Leben auf die Schule folgt. Hier wirkt in Bildungskontexten unablässig der Irrtum fort, dass man zuerst „etwas“ wissen müsse, bevor man zur Tat schreiten könne. Das ist falsch. Wissen, vor allem solches, das ich brauchen kann, entsteht ausschließlich im Handeln und durch Handeln. Von daher kann ich sogar sagen: Was ich wirklich weiß, das weiß ich durch Handeln – nicht durch Stillsitzen, Zuhören, Anstreichen und auswendig Lernen. Ich weiß es durch die Praxis von Versuch, Irrtum, Austausch, Fragen, Ausprobieren, Schlussfolgern, Konsequenzen ziehen, Reflektieren, neue Anläufe nehmen, mit einem Wort: durch Lernen im ursprünglichen Sinne des Wortes.
Das Leibniz Institut für Wissensmedien ist übrigens ein Ort, an dem dieser Umgang mit Wissen intensiv erforscht wird:

Es ist also gerade der traditionelle schulische Kontext, der die Entwicklung entscheidender „Wissenskompetenzen“ verhindert, weil wir dort lernende Menschen mit Informationen beschallen, betexten und bedampfen. Dieses „Mästen“ verhindert a priori, dass Lernende sich die Wissenskompetenzen des 21. Jahrhunderts erwerben können, die heute immer auch „digital literacies“ sind: Wissen eigenständig zu generieren statt Informationen aneinander zu hängen und zu repetieren. Lernende müssten dringend lernen Methoden zu entwickeln, mit deren Hilfe sie das Gewicht, die Qualität und die kontextuelle Brauchbarkeit von Informationen einschätzen und beurteilen lernen, um sie kombinieren und verknüpfen zu können und zu gewichten. Darauf ist Schule leider nicht ausgelegt. Und die universitäre Lehre über weite Strecken auch nicht.
Vielmehr betreiben sie Informationslogistik durch die Art und Weise, wie sie Daten und Informationen hin- und her transportieren, mit dem Ziel, die mächtige Selektionsmaschinerie am Laufen zu halten. Deshalb lernen Lernende auch nicht den kreativen und nachhaltigen, den produktiven und wertschöpfenden Umgang mit Wissen. Sie lernen für den nächsten Test.
Die Rettung der kognitiven Libido
Warum ist das heute noch so? Der Philosoph Peter Sloterdijk sagt, es habe zweifellos damit zu tun, dass die Pädagogen heute auch nicht mehr wüssten, wohin sie die Kinder erziehen sollen. „Die Desorientierung der modernen Gesellschaft über ihre eigenen Ziele spielt sich im Irritationssystem Schule ab wie nirgendwo sonst“ (Peter Sloterdijk, in: McK Wissen 14 (http://www.brandeins.de/wissen/mck-wissen/bildung.html, 17.1.2017). Deshalb würden sich viele darauf beschränken, die Dinge zu erklären, statt etwas zu tun.
Sloterdijk schlägt eine Schule vor, „die den Eigensinn junger Menschen betont und sie nicht im Blick auf den Ernstfall kolonialisiert“. Er möchte Schule als einen Lebensraum entwickeln, „in dem Menschen mit ihrer eigenen Intelligenz in ein libidinöses Verhältnis treten“. In einer solchen Schule würde es also ganz klar um Lust gehen: um Wissenslust, Lernlust, Gestaltungslust; um Lust an der Bildung.