aktualisiert am 9.1.2023
Pädagogische Berufe und deren Ausbilder, aber auch Bildungspolitiker und Bildungsmanager sind bis heute der Ansicht, Lehren & Unterrichten seien die ureigenen Aufgaben von Schule. Damit stellen sie zwischen die Lernprozesse junger Menschen, in denen die sich die Welt erschließen könnten, und dem, was sie (die Pädagogen) als Bildung bezeichnen, einen scheinbar unverzichtbaren Apparat an Didaktik und Struktur. Auf diesen Apparat müssen sich lernwillige Menschen erst einmal ganz grundsätzlich einstellen. „Einfach so mal lernen“, das ist nicht vorgesehen im System Schule. Das Meiste und das Schönste am Lernen geht deshalb in dem Moment bachab, wenn Menschen zur Schule kommen.
Die eigentliche „Lernenergie“ eines lernenden Menschen geht genau dafür drauf: Für das Verstehen und Durchschauen dieser im übrigen selbstreferenziellen Abläufe, Hierarchien, Rollen und Funktionen von Schule. Nur wenn der lernende Mensch diese durchschaut und sich an sie anpasst, kommt er oder sie in diesem System weiter. In der Folge ist es z.B. nicht entscheidend, wie gut jemand in der Schule die französische Sprache lernt, sondern wie gut er oder sie es schafft, dem schulischen Apparat zu entsprechen: Französischprüfungen prüfen immer nur die Fähigkeit, Französischprüfungen zu schreiben. Im Ergebnis ist „Französisch“ eines der unbeliebteren Schulfächer in der Schweiz. Die Sprachkompetenz der Schulabgänger ist entsprechend mau. Ähnliches gilt für die Fächer Deutsch, Englisch und Mathematik.
Ein besonderes Problem ist die Tatsache, dass sehr viel mehr Jungen als Mädchen das Fach mögen. In Deutschland ist dieses Geschlechtergefälle stärker ausgeprägt als in vielen anderen Ländern. (Quelle)
Diese Absurdität geht soweit, dass auch jene pädagogischen Erfindungen, die seit Jahrzehnten (!) als innovativ daher kommen, allen voran das selbstorganisierte Lernen (SOL), mehrheitlich nichts anderes tun, als die Vorgänge des Lehrens einfach anders zu portionieren; Der und die Lehrer*in soll sein und ihr Lehren portionsweise an die Lernenden abgeben. Diese sind ab jetzt zeitweise „ihre eigenen Lehrer“. Kein Wunder, wenn viele Pädagog*innen damit gröbere Probleme haben. Entstehen dadurch doch bizarre Formen der Konkurrenz zwischen ihnen und „ihren“ Schülern. Eine Art Wettkampf, den übrigens immer die Lehrenden gewinnen.
Schüler werden heißt heute: Lernen, was Schule ist
Die schulische Pädagogik baut also enorme Hürden um die Gegenstände und Prozesse des Lernens herum auf, die sie regelmässig reformiert. Menschen, die in die Fänge einer Schule geraten, und das sind noch immer alle, müssen sich in diese Prozesse „einlernen“ und einordnen. In Prozesse und „Plausibilitäten“, die dazu da sind, um schulische Abläufe und ihre organisatorischen Bedürfnisse zu befriedigen.
Je besser lernenden Menschen diese Anpassung gelingt, um so eher werden sie als beschulbar wahrgenommen – und umgekehrt: je weniger es ihnen gelingt, umso weniger werden sie als beschulbar taxiert. Der soziologische Begriff dahinter lautet „doing student“. Die Schlagzeile dazu: Was ein Mensch in einem Klassenzimmer lernt, ist „ein Mensch in einem Klassenzimmer zu sein“ (Clark Aldrich). Mehr steckt nicht dahinter. Es geht für Lernende gar nicht darum, die Mathematik zu begreifen, sondern den Mathematikunterricht und den Mathematiklehrer und das dann noch zusammenzubringen mit der Klassendynamik und der Konkurrenz mit den anderen Fächern, Lehrern, Unbterrichtsstilen, Anforderungen usw. Wie gut einem lernenden Menschen das gelingt, das wirkt sich dann direkt auf seine oder ihre Schulkarriere aus, und damit auf ganz viele zentrale Aspekte seines und ihres zukünftigen Lebens.
Pädagogische Hochschulen: Wo Lehrer lernen, Menschen zu Schülern zu machen
Auch in der Ausbildung der lehrenden Berufe geht es nicht um das authentische Lernen junger oder erwachsener Menschen. Ein*e zukünftige* Lehrer* in lernt in seiner/ihrer Ausbildung, Unterricht so zu gestalten, dass Lernende diesen Unterricht verstehen und mit diesem Unterricht zurecht kommen. Darum geht es. Die gute Lehrerin ist die, der es gelingt, lernende Menschen möglichst effizient und nachhaltig zu Schüler*innen zu machen. Dabei darf immer nur eine gewisse Anzahl von ihnen „gute Schüler“ werden. Sonst kollabiert das System. Es geht darum, dass Anwärterinnen und Anwärter auf lehrende Ämter lernen, die selbstreferenziellen Strukturen und Prozesse des Schulsystems „schülergerecht“ zu gestalten. Daraufhin werden sie zertifiziert.
Umgekehrt gilt aber hoffnungsvoller Weise auch: Je weniger Bildung ein pädagogisch-didaktisches Vorgehen ist, je weniger Lernen in jeder erdenklichen Form ein schulisch dirigiertes und organisiertes Lernen ist, um so mehr kommen Mensch zu sich selbst, zu ihren Potenzialen, Ressourcen – und „auf die Welt“. Auch wenn solche Visionen und Anliegen – vor allem in traditionellen Schulkontexten – nach wie vor (!) als elitär, esoterisch oder nicht organisierbar bezeichnet werden, nimmt die Zahl der erfolgreichen und eindrücklich dokumentierten Projekte des entschulten Lernens und der entschulten Bildung dennoch unaufhaltsam zu.
Besonders beeindruckt hat mich jüngst wieder die Grundacherschule in der Schweiz, die ich in einer umfangreichen Untersuchung begleitet habe. Sie hat bereits zum zweiten Mal den Lissa-Preis gewonnen:
Aber auch Learnlife in Barcelona ist eine faszinierende, junge Learning Community, die eindrücklich unter Beweis stellt, was Lernen für junge Menschen sein kann jenseits seiner schulischen Verkürzung und Verdrehung.
„Schule“ und „Lehren“ sind bis heute als Systeme folgenschwere Irrtümer, die sich seit der Industrialisierung in unseren Kulturen eingenistet und festgesetzt haben. Schule dient nicht der Mensch- und Personwerdung. Sie dient dem Erhalt einer Gesellschafts- und Wirtschaftsform und einem diesen zugrunde liegenden Menschenbild, das letztlich eine Mischung aus Taylorismus, preussischer Diszipingläubigkeit und einem Rest protestantischer Wirtschaftsethik im Windschatten eines Max Weber ist.
Lernen beginnt dort, wo Lehren aufgehört hat. Endgültig.
Woran erkennen wir nun, dass Bildung damit begonnen hat, sich aus dieser Vergangenheit zu lösen und neue Wege zu beschreiten? Daran, dass sie aufgehört hat zu lehren. Daran, dass das Paradigma des Lehrens aus den Prozessen des Lernens verschwunden ist. Es geht dann nicht mehr darum, „andere“ Formen des Lehrens zu finden oder „neue“, alternative, innovative. Es wird darum gehen, das Lehren zu vergessen und dann bei denen in die Schule zu gehen, die bereits heute erfolgreich damit sind, Kinder, Jugendliche und Erwachsene durch alle erdenklichen Möglichkeiten dabei zu unterstützen, sich zu bilden; sich – und niemanden sonst.
Wir erkennen es aber auch daran, dass niemand mehr von leistungsstarken und leistungsschwachen Lernenden spricht, von auffälligen und unauffälligen, von lernschwachen und lernstarken, von hoch- und minderbegabten Lernenden, und was es da sonst noch an Stigmatisierungen gibt. Denn wenn das Lehren aufgehört hat, werden die Gründe dafür weggefallen sein, Menschen in solche Schubladen einzuordnen. All diese „Aufkleber“ betrachten den lernenden Menschen nämlich nur unter einer einzigen, ihn völlig reduzierenden Perspektive: wie gut oder wie schlecht er oder sie in der Lage ist, sich in dieses Bildungssystem einzuordnen, das ein lehrendes System ist. Sie definieren den Menschen am Ende bloss unter dem Aspekt seiner Belehrbarkeit.
All diese Stigmatisierungen, unter denen lernende Menschen und Eltern immer häufiger leiden, dienen einzig dazu, das Monopol des Lehrens aufrecht zu erhalten – und damit den Beruf des Lehrenden. Sie reduzieren einen lernenden Menschen auf seine und ihre Fähigkeit, sich in diesem Schulsystem zurecht zu finden und sich einzuordnen. Dabei realisieren die Akteure dieses Systems womöglich gar nicht, wie sehr dadurch bei lernenden Menschen absurde Selbstbilder entstehen, die sie ein Leben lang nicht mehr loswerden. Das ist eine der erdrückendsten Nebenwirkungen dieses Selekionsapparates – und es ist purer Zynismus.
Wo das Lehren weggefallen ist, braucht es im selben Moment keine Didaktik mehr und keine Fächer. Beide braucht es allein für lehrende Berufe, nicht für lernende Menschen. Es braucht dann keine (elektronischen) Wandtafeln mehr und keine Lehrbücher, keine Lehrmittel, keine Lehrvideos – nichts dergleichen. Auch die Digitalisierung wird dann nicht mehr dafür missbraucht, um die Kultur des Lehrens mit technischen Mitteln einfach weiterzuführen.
Stattdessen entwickeln sich unmittelbar (und sofort) neue Formen des Lernens, die von den lernenden Menschen selbst ausgehen – mitsamt ihrer Organisation. Dann ist es ein lebendiges und authentisches Lernen, das sich selbst zu organisieren beginnt – in dem Moment, in dem es die Gelegenheit dafür bekommt. Das ist für mich eine der eindrücklichsten Eigenschaften unseres Lernens: dass es sich völlig selbst organisiert und zum Erfolg führt. Daran werden wir erkennen, dass es aufwärts geht: dass Menschen selbstorganisiert zu lernen beginnen, und zwar nicht das, was man ihnen zum Lernen vorgibt sondern das, wofür sie sich entscheiden – und dabei glücklich sind.
Lernen statt Lehren – try this:

Aber warum „Eine Polemik“? Da ist doch nichts polemisches in deinem Text.
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🙂 im diesem Sinne: „…bezeichnet einen meist scharfen Meinungsstreit im Rahmen politischer, literarischer oder wissenschaftlicher Diskussionen. Der Begriff hat historisch einen Wandel erfahren, die ursprüngliche Bedeutung von Polemik war Streitkunst, ein literarischer oder wissenschaftlicher Streit, eine gelehrte Fehde.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Polemik)
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Geschwätz
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Ich nenne solche Texte darum gern dekadent, weil sie eine Thematik behandeln, welche auf Abgrenzung beruht.
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Hat dies auf Ich sag mal rebloggt und kommentierte:
Sehr lesenswert
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