Die Medien quellen über vor inhaltlichen Auseinandersetzungen und Szenarien darüber, was angesichts der Digitalisierung alles anders werden muss an Strukturen, Abläufen und technischen Ausstattungen. Ich vermute jedoch stark, dass die Prozesse, die uns in Richtung einer Arbeits- und Lebenswelt 4.0 bewegen, viel mehr von unserem Vorstellungsvermögen und von unseren Mindsets abhängen, als von technischen und strukturellen Herausforderungen.

Fast nie kommt in den Debatten zur Sprache, dass sich die Ziffer „4.0“ in erster Linie auf neue Haltungen gegenüber Strukturen, Abläufen und technischen Neuerungen bezieht. Das gilt es meines Erachtens als Erstes zu begreifen: Bei „4.0“ handelt es sich um veränderte Einstellungen zu Phänomenen wie Arbeit, Bildung, Gesellschaft und Ökonomie. Was ist damit gemeint?
Wir leben derzeit in technischen, ökonomischen und sozialen Übergangszeiten. Wir erleben einigermaßen radikale Übergänge von der Schrift zum Bild, Erweiterungen des Realen um das Virtuelle, eine rasante Entwicklung hin zur Automatisierung nahezu aller menschlichen Handlungsarten – und die Globalisierung lässt uns im Prinzip nicht mehr zur Ruhe kommen. Im Windschatten dieser Übergänge sind wir deshalb herausgefordert, neue Haltungen zu entwickeln, damit wir in diesen Revolutionen gestaltungsfähig bleiben oder werden. Es geht also nicht nur unseren Handlungsroutinen an den Kragen, sondern vor allem unseren inneren Einstellungen; den Mindsets, mit denen wir unsere sozialen Wirklichkeiten konstruieren.
Erster Übergang: Vom Besitzen zum Teilen
Gemeint ist das Teilen von Wissen, Erfahrung, Infrastruktur und Ressourcen. Die Schnelligkeit, die Komplexität und die Radikalität des Wandels machen erfolgreiches Handeln von der Fähigkeit abhängig, offen und großzügig mit materiellen und anderen Werten umzugehen. Das bedeutet oftmals, dass ich „etwas gebe“ ohne auf einen direkten „return on invest“ zu spekulieren. Die network economy funktioniert nicht nach „reward patterns“, nicht nach Belohnungsmustern. Wann und wie mein Engagement in Netzwerken sich auszahlt, ist nicht vorhersehbar. Gleichwohl kann ich damit rechnen. (Quelle Foto: Bild antippen)
Zweiter Übergang: Vom Herrschen zum gemeinsamen Gestalten
Auch das Herrschen und Beherrschen von Menschen, von Gütern und Prozessen, ist ein Auslaufmodell. „Macht“ im Sinne der Fähigkeit, Einfluss auszuüben, hat in Zukunft nur Sinn, wenn ich sie konsequent teile statt sie bloß über andere und über anderes auszuüben. Konkret:
Durch die Digitalisierung nehmen die Komplexität und die Dynamik von Prozessen weiter zu. Unsere traditionellen Vorstellungen von Beherrschbarkeit können diese Entwicklungen nicht mehr fassen oder gar steuern. Letztlich sind in komplexen Kontexten nur transparente Netzwerke gestaltungs- und damit auch überlebensfähig. Nur digitale, soziale und ökologische Netzwerke verfügen potenziell über die notwendige Transparenz und Flexibilität, um in ständig sich verändernden Umwelten adäquat agieren zu können. Hierarchische Kulturen und Strukturen werden aufgrund ihrer Trägheit diesen Anforderungen nicht mehr gerecht. Sie isolieren sich deshalb zunehmend selbst und trocknen dadurch regelrecht aus, bzw. sie werden auf disruptivem Weg versenkt. Sie verlieren bereits heute zunehmend an Glaub- und Vertrauenswürdigkeit, weil immer mehr Menschen in ihrem Alltag erfahren, dass sie mit alternativen Haltungen und Einstellungen weiter kommen. Mit anderen zusammen.
Dritter Übergang: Vom Delegieren zur Selbstverantwortung
Eine nächste, ziemlich radikale Verwandlung erfährt auch das Phänomen der Verantwortung. Sie liegt in Zukunft immer mehr direkt bei denen, die in Prozesse und Entscheidungen involviert sind. Verantwortung lokalisiert sich in Zukunft immer öfter innerhalb von Interaktionen, also dort, wo Menschen situationsgerecht mit anderen Betroffenen entscheiden müssen, weil der berühmte Zug sonst ohne sie abfährt. Verantwortung wird also bei denen liegen, die in volatilen, oftmals unvorhersehbaren Situationen nächste Schritte planen und gehen. Auch Führung als Funktion wird deshalb in Zukunft situativ organisiert sein: projekt- und aufgabenbezogen und nicht mehr definiert als Sprosse auf der Leiter. (Quelle Foto: Bild antippen)
Vierter Übergang: Vom Kontrollieren zum Vertrauen
Einer der folgenreichsten Übergänge ist der von der Kontrolle zum Vertrauen. Die Arbeits- und Kommunikationsformen der Zukunft sind Kollaboration, Kokreativität, ist das „sharing values“. Diee drei sind nicht anders zu ha(ndh)aben als durch die konsequente Entwicklung einer Haltung des Vertrauens und des Zutrauens. Hier liegt der womöglich größte und anspruchsvollste Übergang, denn wir sind bis in die Wurzeln unseres Denkens und Vorstellens hinein durch Kontrolle geprägt. Nicht nur wir als Menschen im Umgang mit uns selbst, mit Mitmenschen und der Technik. Auch unsere Strukturen und Abläufe in Arbeit und Bildung basieren bis in die DNA hinein auf Kontrolle. Selbstkontrolle ist das Ziel von Bildung und Erziehung, Fremdkontrolle das Ziel aller Prozesse unseres sozialen Lebens. „Ohne Kontrolle nur Chaos“, lautet die Devise. Wir können uns im Moment noch gar nicht vorstellen, wie all diese Prozese, wie unser Miteinander, wie das Produzieren, (Ver-)Handeln und Gestalten von Beziehungen jeglicher Art „funktionieren“ sollten, ohne dass wir „in Kontrolle vertrauen“.
Dennoch: Komplexität, Unvorhersehbarkeit und Mehrdeutigkeit sind Charakteristika zukünftiger Wirklichkeit(en). Sie lassen sich nur durch ein Höchstmaß an Vertrauen und Transparenz bewerkstelligen – gepaart mit intensiven, hochqualifizierten Kommunikationskulturen. Jenseits von Machtspielen, Seilschaften und Hierarchien.
Radikal neue Aufgaben für Bildung
Um diese neuen Haltungen entwickeln zu können, braucht es Bildung – aber eine, die die genannten Übergänge nicht nur lehrt, sondern sie konsequent selber an sich vollzieht. Das ist dann „Bildung 4.0“. In dieser Formel steckt – im Gegensatz zu traditionellen Vorstellungen von Bildung – das Anliegen einer radikalen Selbstbefähigung, zu der ich wiederum nur mich selbst befähigen kann. Bildung 4.0 ist also eine Art Pleonasmus.
Was sie nicht ist: Ein einsames, individuelles Unterfangen. Sie ist jederzeit und von Anfang an kollaborativ. Bildung 4.0 wird geprägt sein von durchgehender Selbstverantwortung und vom (Selbst-)Vertrauen in die Gestaltungskräfte von Menschen und Teams – auch wenn wir diese Chancen durch die Brille unserer Kontrollkultur noch nicht zu sehen in der Lage sind. Das wird vor allem für lehrende Berufe zu einer enormen Herausforderung, denn institutionelle Bildung basiert bis heute durchgehend auf den Phänomenen der Kontrolle und der Fremdsteuerung.
Bildung 4.0 hingegen unterstützt Menschen jeden Alters dabei, die in diesem Artikel angedeuteten Haltungen bei sich zu entwickeln (nicht bei anderen). Wobei dies auch zunehmend unabhängig vom Bildungssystem geschehen wird.