Unsere Vorstellungen von Lernen sind der Hauptgrund, warum wir mit der Bildung nicht vorankommen. Sie sind der Grund dafür, warum wir im Moment digitale Technologien einfach in ein veraltetes Lehrsystem implantieren – und ansonsten weitermachen wie bisher. Wir spielen das alte Lehrer-Schüler-Spiel weiter. Fixiert auf Lehrpläne, Prüfungen und Zertifikate. Das Monopol sorgt für Monokultur.

Das ist brandgefährlich, weil wir dadurch Menschen mit Lernerfahrungen und Weltbildern impfen, die der Vergangenheit angehören. Wir machen aus ihnen nach wie vor „Schüler“, die belehrt werden. Wir schicken sie noch immer in die Rolle der Rezipienten, der Wissensempfänger. Sie lernen nicht, sich in einer radikal sich wandelnden Welt zurecht zu finden. Sie lernen nicht die entsprechenden Fähigkeiten. Sie entwickeln alles andere als die unbändige Lust, die das Lernen eigentlich braucht und freisetzt. Und zwar nicht nur in der Schule, sondern erst recht in Aus- und Weiterbildung. Warum tun wir das?
Die perfekte Selbstreproduktion des Bildungssystems
Weil wir nichts Anderes kennen. Weil nichts so hermetisch ist wie unsere Bildungssysteme. Weil es in der Bildung ein „Hidden Monopoly“ gibt, ein verborgenes Monopol, das nach einem ganz simplen Prinzip arbeitet: Die Erfahrungen der Schulzeit prägen unsere Vorstellungen von Lernen und von Hierarchie. Das verborgene Ziel dahinter ist: Wir sollen gar nicht erst auf die Idee kommen, dass die Schule nur eine mögliche und stark reduzierte Form von Lernen praktiziert. Deshalb lautet der grundlegende Glaubenssatz bis heute: „Wer etwas wissen und können will, ist alternativlos auf Menschen angewiesen, die ihm und ihr das vermitteln“. An dieser gleichermaßen monopolistischen wie falschen Auffassung hält das Bildungssystem fest wie der Glaubende an seinem Gott.
Durch dieses Mindset prägt die traditionelle Bildung den Menschen an der Wurzel. Er und sie entwickeln ein Selbstbild, in dem Lernen, Wachsen, Reifen, in dem Selbstermächtigung und Selbststand nicht anders denkbar sind als durch lehrende Vermittlung – und dass dabei „Ergebnisse“ entstehen, die „gemessen“ werden können (sollen). Der gesamte Bildungsapparat reproduziert dieses Menschenbild von Generation zu Generation. Zugleich reproduziert sich das Bildungssystem dadurch selbst. Das ist ein einfacher und genialer Trick. Warum tun wir das?
Ergebnisse, Resultate, Produkte
Neulich habe ich in einem Beitrag auf Facebook folgende Behauptung aufgestellt: „Lernen ist kein Back- oder sonst wie gearteter Produktionsvorgang. Da kommt nicht „am Ende“ etwas raus. Auch wenn die Zertifizierungskultur uns das suggeriert. Das Bildungssystem sieht das allerdings anders. Deshalb fehlt so vielen Menschen am Ende (…) nicht nur Wissen, sondern auch ein kreativer Bezug dazu. Und sie vermissen angesichts der Herausforderungen der Arbeits- und Lebenswelt eine entsprechende Kompetenz“.
Ein User hat wie folgt darauf reagiert: „Was ist denn Lernen, wenn nicht ein Produktionsvorgang, aus dem am Ende etwas herauskommt? Wenn immer ich etwas Neues lerne, dann habe ich ‚am Ende’ etwas (mehr), das ich benennen – und manchmal sogar messen kann.“
Darauf sind wir fixiert. Ich vermute: durch das technisch-mechanistische, industriell fundierte und ökonomisch austapezierte Welt- und Menschenbild, das uns vor allem die Schule von Kindesbeinen an suggeriert. Deshalb denken, handeln, fühlen und planen wir idealerweise immer auf ein Ende hin und von ihm aus. Es geht um das messbare Ergebnis. So werden wir erzogen. Darauf richtet uns die Schule aus. Das perfekte Dinner, die Eheschließung oder sonst ein Vertrag, das gebaute Haus. Irgendetwas Fertiges muss hinten rauskommen. Ein Produkt. Deshalb reduzieren wir einen menschlichen Lebensvollzug – das Lernen – ganz selbstverständlich auf einen Produktionsvorgang, an dessen Ende „ein Produkt“ steht.
Lernen heißt: Auf den Grund gehen
Ich vermute, weil wir so geprägt sind, stehen wir auch so auf Antworten. Auch das kommt aus der Schule. Die konditioniert uns darauf, Antworten zu geben (was etwas Anderes ist, als welche zu finden). Antworten haben nämlich auch etwas Finales. Antworten sind Resultate, Ergebnisse, Produkte. Sie sind etwas, woran wir uns festhalten können; das wir bewerten und einordnen können. Benoten und zertifizieren. So werden unser Nachdenken, Sprechen und Forschen auf schulischen Wegen systematisch ergebnisfixiert. Deswegen mögen wir als Erwachsene auch geschlossene Fragen viel mehr als offene. Geschlossene Fragen richten uns auf die entweder-oder-Perspektive aus. Sie reduzieren Komplexität. Sie erlauben klare Antworten. Sie tun so, als wäre das Leben einfach.
Warum sollte das gefährlich sein? Weil die Fixierung auf Produktion und Produkte, auf Ergebnisse und Resultate, beim Thema Lernen besonders tragisch ist. Weil wir dadurch einen unserer wichtigsten Grundvollzüge missbrauchen und funktionalisieren. Wir setzen das Lernen ein um „zu reproduzieren“, statt unseren Horizont und unsere Spielräume zu erweitern: die Spielräume des Denkens, des Fühlens und des Handelns. Eigentlich ist Lernen dazu da, um uns ungeahnte Tiefen entdecken zu lassen (daher die schöne Metapher von „etwas auf den Grund gehen“), meist einfach dadurch, dass wir auf eine bestimmte Weise auf dem Weg sind: offen, neugierig, kritisch, kombinierend. Beim „Lernen“ geht es nicht um Ergebnisse, Resultate und Produkte. Es geht ums Entdecken: von Zusammenhängen und Hintergründen, von Lösungen; von Gemeinsamkeiten, Unterschieden und Veränderungen. Ums Kennen-Lernen, um Begegnung.
Der Humbug vom „Lerninhalt“
Beim Lernen geht es auch nicht um Inhalte, obwohl wir es hartnäckig gewohnt sind, so zu sprechen. Lerninhalte können niemals Inhalte eines Lernens sein, weil das Verb „Lernen“ einen Prozess beschreibt, und Prozesse haben keine Inhalte. Flaschen haben Inhalte. Wer von Lerninhalten spricht, spricht ungenau und verschleiert, worum es ihm eigentlich geht: um das hohe Lied der Wissensvermittlung, die davon ausgeht, dass Inhalte, die in einem Lernprozess präsentiert werden, durch Lernen irgendwo hin transportiert werden können. Das ist ein lernpsychologischer Humbug, der tagtäglich praktiziert wird.
Dabei ist Lernen ein reiner Vollzug. Sein Sinn liegt darin, dass wir es vollziehen. Zum Beispiel: Ich kann eine Sprache nicht lernen, ich kann sie nur sprechen lernen. Sie quasi „vollziehen“. Sie spielen. Dabei lerne ich nicht die Sprache als einen „Inhalt“, ich lerne Bedeutungen, Verwendungen, Anwendungen, Hintergründe und Zusammenhänge zu verstehen. „Hundert Vokabeln“ zu lernen, bedeutet nicht, den Inhalt einer Sprache zu lernen, weil Sprachen keine Inhalte haben. Flaschen haben Inhalte. Noch ein Beispiel: Ein Lied kann ich nicht „lernen“, „ich kann es nur singen lernen. Auch wenn ich lieben lerne oder rechnen, dann lerne ich das zwar niemals ohne Gegenstände, aber diese Gegenstände sind für mein Lernen jederzeit nur Anlass, um einen Vollzug zu erlernen, zu verbessern, zu vertiefen“. Da kommt am Ende kein Produkt raus oder irgendein anderes messbares Ergebnis. Diese Auseinandersetzung führe ich vertieft weiter in meinem Buch „Bildung auf Augenhöhe“.
Wir haben bis heute völlig verdrehte Vorstellungen vom Lernen. In unseren Köpfen, in unseren Schulen, in unseren Lehrplänen. Mechanistische Bilder, physikalische Vorstellungen, ökonomische Metaphern. Dadurch verkürzen wir unsere Möglichkeiten als Menschen freiwillig und radikal. Wir vergeuden Lebenszeit und Energie, indem wir an längst als falsch erwiesenen Überzeugungen über Wissen und seine Vermittelbarkeit festhalten. Wir praktizieren täglich und von Seminar zu Seminar gegen besseres Wissen und gegen handfeste Empirie eine Verkürzung des Menschen und seiner Potenziale. Von der ersten Klasse bis in die Senioren-Universität hinein.
Bildung als eine „Kultur des Ermöglichens“
Jetzt bricht eine Zeit an, in der wir Menschen vor allem eines brauchen: Die Fähigkeit, radikal anders zu lernen als bisher. Selbstbestimmt, selbstorganisiert, selbstwirksam. Aufgrund eines hohen self-commitment, nicht gesteuert durch äußeren Druck, sondern durch innere Motivation. Wenn es in dieser Zeit überhaupt noch institutionelle Bildung braucht, dann im Sinne eines „facilitating“: Bildung als „Kultur des Ermöglichens“. Als ein hoch individuelles und vielfältiges Angebot, sich zu vernetzen. Als Möglichkeit, individuelle Potenziale ko-kreativ und kollaborativ zu entfalten. Unter radikalem Verzicht auf die Selektions- und Zertifizierungsfetische, an deren Stelle ein ganzes Bündel von Fähigkeiten tritt, mit anderen zusammen die enormen ökonomischen, ökologischen, sozialen und technologischen Herausforderungen zu meistern, vor denen wir stehen – und die wir nicht zuletzt dem Selbsterhaltungstrieb eines Bildungssystems verdanken, das sich längst überlebt hat.
sehr ganzheitlich beleuchtet; ein schneller Turnaround im Mindset wäre dringlich! Mit welchen „Währungs-“ und Anreizsysteme könnte man Akteure in den Ecosystemen gewinnen (Bildung, Wirtschaft, „Lehrer“, Politik)? Es gibt viele kleine Graswurzeln, aber kein Gross-Farmer 😉 Oder ich befürchte: uns gehts (vordergründig) noch zu gut. Rote oder blaue Pille….?!
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Wir gehen den von Dir beschriebenen Weg konsequent weiter. Kleinzellig, aber vernetzend, mit vielen Engagierten und Betroffenen, mit Menschen, die sich selbst in die Zukunft schicken. Wir fördern die Vielfalt des Denkens und der Sichtweisen, we appreciate diversity, wir ermöglichen Kreativität. Wir lassen los, statt zu kontrollieren.
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Aber auch nicht vergessen: der Wandel kommt langsam und auch unser System ist im langsamen Wandel.
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Wissen ist ein kollaterales Ergebnis vom Lernen – es ist flüchtig und vergänglich in der Zeit. Es muss immer neu erzeugt und benutzt werden.
Ebenso ist Geld ist ein kollaterales Ergebnis von Arbeit. Wert ist etwas anderes als Geld.
Wer sich bemüht Wert bspw. in Gold oder Bitcoin zu speichern, verwendet Energie darauf, die Wirkmechanismen von Raum und Zeit aus ihrem Zusammenhang zu lösen. Sparen kostet.
Kann man machen. Das ist eine von vielen möglichen Realitäten.
Ich fokussiere seit dem Sams (Augsburger Puppenkiste) mein Handeln auf das Erwerben von Fähigkeiten anstatt dem Allokieren von Gütern.
Dank für diesen Artikel, der mich wieder daran erinnert hat.
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