Titelbild: Der Schwarm. Sinnbild für funktionale Dynamik und Emergenz, die in kollaborativen Prozessen stecken. (Quelle)
Aktualisiert am 24.12.2020
Bis heute gehen wir in Schule, Ausbildung, Studium und Arbeit davon aus, dass wir „Leistung“ einzelnen Menschen zuordnen können und müssen. Über die komplette Schul- und Berufszeit hinweg werden wir individuell benotet und bewertet – von Lehrer:innen & Vorgesetzten, die uns dadurch von konkurrierenden Individuen separieren. Einen Job bekommen wir, weil wir „Einzelleistungen“ dokumentieren, Beurteilungen von Mitarbeiter:innen fokussieren auf deren individuelle Leistungen.
Dieses Modell hat ausgedient.
Auch wenn unsere Schulen das nach wie vor ganz anders sehen. Gefordert und gefördert, benotet und anderweitig sanktioniert werden im Schulsystem immer Individuen, einzelne Menschen. Auch dort, wo Schulen unter starken Geburtswehen Anteile selbstorganisierten Lernens gebären, stehen der und die einzelne Lernende weiterhin im Zentrum von Bewertung. Obwohl „Selbstorganisation“ ein Merkmal von Systemen ist, wird es gleichgesetzt mit isoliert individuell bewertbarem Lernen und dessen Ergebnissen. Auch das Kultphänomen der Kompetenz wird stillschweigend als etwas verstanden, das Ausdruck von Dispositionen eines einzelnen Menschen ist: Wir beobachten und beurteilen in schulischen Kontexten „Einzelleistungen“.

Überall dort, wo über Formen und Formate der Qualifizierung, des Prüfens und „Messens“ erbrachter Leistungen reflektiert wird, kommt also ausschließlich das Individuum in den Blick. Auch wo kollaborative Prozesse stattfinden, wird Beurteilung am Ende immer am Individuum und an „dessen Beitrag“ festgemacht. Wir können nicht von dem absurden Versuch lassen, Einzelleistungen „herauszurechnen“.
Wertschöpfung ist definitiv kollaborativ geworden
Diese Vorstellung entspricht schon lange nicht mehr den realen Prozessen in Forschung, Entwicklung, Produktion, Verkauf, Logistik – und was es da sonst noch so gibt an Prozessen der Wertschöpfung. Weder hier noch beim „Lernen“ finden wir irgendwo isolierbare Leistungen eines Individuums, sondern ausschließlich kontextuelle und systemische Prozesse.
Der kontextuell-systemische Zugang zu Lernen & Arbeiten geht also umgekehrt vor wie unser Schulsystem: Sowohl Prozesse des Lernens als auch solche, in denen es dezidiert um ökonomische Wertschöpfung geht, werden umso besser erfasst und beschrieben, je mehr sie als kollaborative und ko-kreative Prozesse verstanden, aufgegleist, organisiert, durchgeführt und begleitet (gecoacht) werden. Der Beitrag des/der Einzelnen ist einer Teamleistung nicht „vorgeschaltet“. Die Leistung ergibt sich vielmehr aus den Formen der Kollaboration. Das zu Grunde liegende Phänomen ist die Emergenz:
„Das Entstehende kann nicht mehr zurückgeführt werden auf das, woraus es entsteht.“
Leistung ist nicht die Summe von Beiträgen mehrerer Individuen. Sie geht aus einer bestimmten Qualität von Kollaboration hervor, die auch den beteiligten Individuen erst ermöglicht, einen entsprechenden Beitrag zu leisten. Der individuelle Beitrag kann am Ende nicht mehr „herausgerechnet“ werden. Leistung und ihre Erbringung ist in soziotechnischen Systemen (Organisationen, Firmen, Abteilungen, Schulen) ein durch und durch kontextuelles Phänomen: Der Kontext entscheidet über die Qualität von Prozessen, und er entscheidet auch über die konkreten Möglichkeiten einzelner Personen, einen sinnvollen Beitrag zu leisten. Das hat umfassende Konsequenzen für die Organisation schulischen Lernens und Prüfens, die heute noch völlig auf das Individuum fokussiert sind, und die das Erbringen von Leistung auf ein individuelles Abprüfen in weltfremden Settings reduziert.
Der Kontext ermöglicht dir, eine Leistung zu erbringen.
Der systemische Blick auf den Menschen zeigt, dass ich in bestimmten Kontexten nur einen sehr kleinen Zugriff auf meine Ressourcen habe, in einem anderen Kontext aber vor Einsatz und Kompetenz nur so sprühe. Kontexte bestimmen über Möglichkeiten und Grenzen individueller Leistung – nicht umgekehrt.

Auch macht es keinen Sinn mehr, übergeordnete Qualifikationen festzulegen (auch keine Kompetenzen-Raster), die über alle konkreten, heute und in Zukunft möglichen Formen der Kollaboration hinweg Bestand haben sollen, und die überall eingesetzt werden könnten. Das macht deshalb keinen Sinn, weil es die jeweiligen Lern- und Arbeitskontexte sind, die über die Entwicklung und den Einsatz von Fähigkeiten und Kompetenz entscheiden.
In dieser Sichtweise werden auch herkömmliche Bewertungsformate und -muster (Prüfungen, Benotungen, Beurteilungsgespräche oder gar Arbeitszeugnisse) hinfällig. Sie können nämlich das, worum es bei Bildungs- und Arbeitsprozessen heute und in Zukunft geht, nicht erfassen – und messen können sie es schon gar nicht.
Eine Alternative: 360° Assessments
Wenn institutionalisierte Lernorte (aka Schulen) und ihre Agent:innen von der, von dem und von den Lernenden aus denken und handeln, wenn sie darüber hinaus die Potenziale unterstützen, die im kollaborativen und kokreativen Lernen stecken, dann kommen Perspektiven in den Blick, wie z. B. das Lernparadigma von Learnlife. Hier werden Forschung und Praxis der 360° Assessments eingesetzt und weiterentwickelt. Sie ermöglichen ein Höchstmaß an Individualität, Reflexivität und Wertschätzung für die persönliche Entwicklung von Menschen, die sich nicht mehr in Lehrende und Lernende unterteilen. Sie begreifen sich vielmehr als Gestalter:innen ihrer eigenen Lernwege, auf denen sie sich gegenseitig professionell unterstützen. Dieser Zugang hat nichts mehr zu tun mit dem, was wir im traditionellen Sinn unter „Prüfen“ verstehen. Wer darüber mehr erfahren möchte, kann sich hier einlesen.
Lohnenswerte Reflexionen über unseren überholten Leistungsbegriff findest du hier und hier. Weiterführende Literatur zum Thema „Kollektive Intelligenz“ hier.
Ich will ja gar nicht widersprechen, sondern nur fragen, welcher Personalchef unter welchen Bedingungen die Portfolios (warum ausgerechnet in MAHARA?) liest und die geeignete Bewerberin ausliest? Bei 200 Bewerbungen die Woche bei den besonders attraktiven Jobs!
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Es tut mir leid, dass ich Ihnen diese Fragen nicht beantworten kann.
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