Schule: Kolonialisieren im eigenen Haus

Titelfoto: Wokandapix auf pixabay

Schule ist einer der letzten Kontexte, in denen der Reflex und die Kultur der Kolonialisierung, deren Muster und Absichten bis heute in Reinform praktiziert werden – und zwar nicht erst dort, wo wir unsere Vorstellungen von Schule, Erziehung und Sozialisation anderen Kulturen überstülpen, was ja den eigentlichen kolonialistischen Reflex bildet, sondern täglich im eigenen Haus.

Klar: auch der Kolonialismus ist nicht „Geschichte“. Das deutsche Wesen, an dem die Welt genesen soll, ist omnipräsent; die historischen Bemühungen des vereinigten Königreichs, exakte Kopien seines Bildungssystems in „Entwicklungsländer“ zu exportieren, sind bis heute ohne Einschränkung wirksam. Die deutschen oder schweizerischen Auslandsschulen beschulen bis heute rund um den Erdball den Nachwuchs elitärer Gruppierungen – und zwar mit Lehrpersonal, das über ein deutsches oder schweizerisches Diplom verfügt.

Was damit nicht gemeint ist

Doch der kolonialistische Reflex aktualisiert sich nicht nur dort, wo die so genannte erste Welt ihre Bildung in aus ihrer Sicht zweite und dritte und vierte Welten exportiert. Vielmehr unterzieht unser Staatswesen zuerst und vor allem den eigenen Nachwuchs dem kolonialistischen Reflex. Das deutsche oder schweizerische Bildungssystem ist nicht zuerst ein unschuldiges nationales, das dann und darüber hinaus noch zum Zweck der Kolonialisierung exportiert wird. Es ist in seiner Wurzel kolonialistisch. Das Schulsystem kolonialisert.

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Dabei geht es diesem Gedankengang überhaupt nicht darum, Bedürfnisse und Bedarfe von Kindern zu leugnen, sich in und an den kulturellen Mustern und Techniken zu orientieren, innerhalb derer sie aufwachsen. Junge Menschen brauchen und bekommen in jeder Kultur schon immer Anleitung, Unterstützung und Führung bei den Bemühungen, eine aktive, gestaltende, partizipierende, teilgebende und teilnehmende Person in ihrer Kultur zu werden. Diese Vorgänge gehören im Kern zu Kultur. Darum geht es (mir) nicht. Es gehört ja zum Wesen von Kultur, dass der Nachwuchs einer jeden Kultur von der Kultur in diese Kultur eingeführt wird und sich hineinlebt. That’s life.

Kolonialismus statt Inkulturation

Es geht mir hier einzig um den Kern jedes Kolonialismus, dass er Gruppen von Menschen systematisch und methodisch unter sein Prozedere und unter seine Normen zwingt. Dafür entwickelt er ein Instrumentarium, Strukturen, Infrastrukturen und Prozesse, Rollen und Funktionen, ganze Systeme. Junge Menschen wachsen dann nicht in erster Linie auf „ganz kultürliche“ Weise und mit zunehmendem Alter in eine Kultur hinein, in der sie sowieso leben. Es werden vielmehr staatlich – und nicht zivilgesellschaftlich – verantwortete und kontrollierte Institutionen gegründet, denen der Auftrag der Inkulturation exklusiv zukommt – und zwar so, dass keine andere kulturelle, gesellschaftliche Institution sich dagegen wehren kann, nicht einmal Eltern. Alles was mit Erziehung, Inkulturation und Sozialisation zu tun hat, hat sich dem staatlichen Apparat unterzuordnen.

Das ist auch die autoritäre Wurzel jeder kolonialistischen Aktivität.

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Der kolonialistische Reflex sieht den Menschen in seiner und ihrer ganzen geschlechtlichen und überhaupt kulturellen Vielfalt nicht. Er ignoriert sie hoheitlich, und macht sie zum Objekt der Kolonialisierung: der systematischen kulturellen Programmierung.

Schule ist auf diese Weise kolonialistisch. Alles, was das Objekt der Kolonialisierung an eigenen Bedürfnissen, Bedarfen und Lebensäusserungen einbringen kann oder könnte, wird dem Kolonialisierungsreflex untergeordnet: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Der kolonialistische Reflex entzieht denen, die er zu kolonialisieren gedenkt, ihre kulturelle Autonomie und Gestaltungshoheit, er verneint den Eigenwert vorfindlicher Kulturen und wird an deren Stelle selber aktiv. Normativ. Schule ist kolonialisierend.

Schule: Der allgegenwärtige Kolonialisator

So versteht sich und so agiert Schule aus Prinzip. Ihr kolonialistischer Reflex weist der kulturellen Kompetenz, der Vielfalt und Diversität der Kulturen einer „Bevölkerung“ und ihrer Region den Rang und die Funktion von Folklore zu: Schriftsprache schlägt Dialekt, sie ergänzt ihn nicht. Auch alle weiteren identitätsstiftenden kulturellen Symbole und Aktivitäten tauchen übers Jahr hinweg marginalisiert und in folkloristischer Form auf. Sei es jetzt eine Fronleichnamsprozession oder eine Love-Parade.

Dabei rede ich hier nicht einer Kritik der Vereinheitlichung das Wort. Mir geht es um den kolonialistischen Reflex, der sich nicht zu den geltenden kulturellen Gepflogenheiten gesellt, der sich nicht neben all das andere stellt, was für die Menschen, die er zu kolonialisieren gedenkt, Kultur bedeutet. Schule geht es in ihrem kolonialistischen Wesen nicht darum, Menschen und ihre Kulturen und Identitäten zu respektieren und in ihrem kulturellen Lebensformen (Arbeit, Freizeit, soziales Miteinander, kulturelle Ausdrucksformen) wertzuschätzen, denen sie ihre Bildungsarbeit „schenkt“.

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Tatsächliche Kultur in ihrer kultürlichen Vielfalt ist nie Grundlage dessen, was das kolonialistische Gebaren von Schule praktiziert. Es ist umgekehrt. Schule ist eine Institution, die ihren Auftrag darin sieht, das kulturell Normative lückenlos zu repräsentieren und durchzusetzen – und zwar bis tief hinein in jeden einzelnen sozialen und individuellen Lebenskontext. Sie bestimmt die Gestaltung aller kulturellen Aktivitäten und Lebensäusserungen derer, auf die sie Zugriff hat, und das sind in unserer Kultur alle.

Schule ist in ihrem Wesen kolonialistisch.

Autor: Christoph Schmitt, Bildungsdesigner, Coach & Supervisor ZFH

Bildungsaktivist, Bildungsdesigner, Ressourcenklempner, Ethiker, Rituals Expert. Ich unterstütze Menschen und Organisationen beim "Digital Turn" - systemisch & lösungsfokussiert. Ich coache Menschen in ihren Entwicklungsphasen und begleite in einschneidenden Lebensmomenten durch die Gestaltung von Ritualen.

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