Im Bildungssystem hallen derzeit die Rufe nach der Möglichkeit und Notwendigkeit von “OER“ wider. Das Thema besetzt die Foren und wird auf Barcamps zelebriert. Dabei ist das Bildungssystem selbst gar nicht „Open“, sondern ein geschlossenes System geschlossener Systeme mit streng bewachten Zu- und Ausgängen. „Open“ hingegen ist als Merkmal in der digitalen Netzwerk-Kultur zuhause und widerspricht dem Wesen des Bildungssystems fundamental. Letzteres schließt „Open“ systemisch aus. Es verneint und verhindert systemische Offenheit. Deshalb verlagern sich die Diskussionen und Hoffnungen im Moment auf die Materialien, auf die so genannten Lehrmittel und ihre Verfügbarkeit, auf OER. Das System beginnt in seinem Inneren „Offenheit“ zu simulieren, indem es die Grenzen des Reservats virtuell erweitert. Eigentlich ein kluger Schachzug.
„Open Access“ funktioniert aber nicht in geschlossenen Systemen. Die Kernanliegen dahinter sind basisdemokratischer Art und bauen auf Selbstorganisation. Es geht darum, dass Menschen alleine und in Gruppen freien Zugang zu Möglichkeiten des Gestaltens und Entwickelns haben. Von was auch immer. Software, Softeis oder alternative Mobilität, Medizin, Forschung. Es geht nicht bloß um den freien Zugang zu Information, sondern um die Freiheit der Gestaltung, der Kommunikation, der Zusammenarbeit und der Vernetzung – eine möglichst schrankenlose Vernetzung aller, die sich in diesen Prozessen gegenseitig informieren, helfen, ins Boot holen; die miteinander aktuelle, soziale, ökonomische, kulturelle oder wissenschaftliche Probleme lösen. Es geht auch um das gemeinsame Gestalten und Verändern der Regeln, was „Open“ überhaupt sein soll und wie es praktiziert wird. Es geht um ein neues Prinzip von Gesellschaft, wie es z.B. Stephan Lessenich skizziert.
Es geht nicht um neue Lehrmittel. Es geht um die Verabschiedung des Lehrens
Es geht bei „Open Access“ und „Open Resources“ nicht darum, Lehrmittel kostenlos zugänglich zu machen. Es geht darum, Lehrmittel als solche abzuschaffen. Der offene Zugang zu Lehrmitteln und der offene Austausch untereinander ändert nichts an der Tatsache, dass lehrende Berufe weiterhin mit Hilfe von Lehrmitteln lehren. Es geht aber bei „Open“ nicht darum, innerhalb eines geschlossenen Systems ein neues Methodenmanagement zu organisieren. Nicht werden Unterrichten und Prüfen anders durch „Open“, sie werden überflüssig. „Open“ bedeutet, dass in Sachen „Wissen“ nichts mehr vorgesetzt wird, sondern dass die Kernaufgabe einer Gemeinschaft darin besteht, Wissen zu bilden. Dafür ist das Bildungssystem aber nicht gebaut. Es geht bis heute in einer eigenwilligen Sturheit davon aus, dass Wissen als Fertigprodukt vermittelt werden kann. Jetzt halt, oh Wunder „Open“. Den Paradigmenwechsel von der scheinbaren Vermittlung zur kollaborativen Produktion kann ich als Mensch und als System aber erst dann nachvollziehen, wenn ich den Unterschied zwischen Daten, Informationen und Wissen verstanden habe und ihn mit anderen zusammen praktizieren kann.
Des Kaisers neue Kleider
„Open Education“, wie sie das Bildungssystem zunehmend euphorisch verkündet, wird nicht als eine Öffnung der geschlossenen Lehr- und Bildungsprozesse, -pläne und -methoden nach „außen“ in eine sich durch das Moment der Vernetzung völlig neu bildende Gesellschaft hinein verstanden. Vielmehr ist sie der verkleidete Versuch einer Aufwertung und damit „Rettung“ der bestehenden Lehrkultur, die dadurch selbst ihrem Wesen nach nicht „Open“ wird (auch „offener Vollzug“ ist ein Form des Strafvollzugs), sondern mehr von dem, was sie schon ist: Gate Keeper an den Portalen des geschlossenen Systems.
„Open Book Prüfungen“ sind dem Wesen nach dasselbe Konzept wie „Closed Book Prüfungen“. Sie sind und bleiben Prüfungen mit dem Ziel der Zertifizierung und der Selektion – also Merkmale geschlossener Systeme. Dasselbe gilt für Lehr- und Stundenpläne und für die innere Gestaltung von Schulfächern, die auch bei allen „Open-Gesängen“ Fächer bleiben, der Struktur und der Absicht nach. Im imaginierten Idealfall „öffnet“ sich das Fach Deutsch und jedes andere Fach zwar anderen Fächern, feierlich ist von „Interdisziplinarität“ und „Transdisziplinarität“ die Rede, jedoch nicht davon, was „Open“ eigentlich bedeutet: Die Überwindung der Disziplinarität alter Schule und das gemeinsame Erfinden neuer, zeitgemäßer und lösungsorientierter Formate der Kollaboration.
Das Konzept des Unterrichtens (Belehren, Vermittlung von Wissen) als Kernstruktur und Kernprozess des Bildungssystems in all seinen („offenen“ oder geschlossenen) Ausformungen ist nicht kompatibel mit den Formen der Wissenskonstruktion und der Kollaboration in den Kontexten der Digitalen Transformation.

Unterrichten ist von seinem Wesen her nicht „Open“, auch wo es sich offen gibt. Es lebt aus der gegenteiligen Absicht und Bewegung. Unterrichten ermöglicht nicht das Erlernen, Üben und Praktizieren des Kategorisierens (als eine der Kernkompetenzen von Wissensarbeit), Unterricht kategorisiert. Unterrichten ermöglicht nicht das Erlernen von Selektion und Zuordnen (von Information, Bedeutung usw.), Unterrichten selektioniert und ordnet zu. Unterrichten öffnet nicht den Horizont des Bestehenden auf Mögliches, sondern reduziert das Mögliche auf das für die Bewertung Handhabbare. Es tauscht den Horizont durch den Tellerrand. Blumig formuliert: Es lehrt das feinsäuberliche Abstauben von Papierblumen statt Lust auf das Züchten von Rosen zu machen (Hans Küng).
Ein Blick ins Netz zeigt: Der Wandel ist überall auf dem Weg
Angesichts der zunehmend empfundenen Hilflosigkeit sehr vieler Menschen und des Gefühls, dem Digital Age machtlos ausgeliefert zu sein, ist die Dringlichkeit der Abschaffung der klassischen, lehrend-beschulenden Unterrichtswelten nicht mehr von der Hand zu weisen. Es geht nicht mehr länger an, Menschen in Gewächshäuser einzusperren unter dem Vorwand, sie würden sonst in den Wolkenbrüchen des Informationszeitalters ertrinken. Es muss ein schnelles Ende haben, dass wir Menschen von dem Moment an, in dem sie laufen können, in Systeme zwingen, in denen sie gerade nicht das Unterscheiden lernen und das aufrechte Denken. Systeme, in denen sie stattdessen fortlaufend mit als richtig und falsch und als wichtig und unwichtig deklarierten Wissenspaketen versorgt werden. Systeme, in denen sie nichts anderes lernen, als diese Kategorien für wahr zu halten und kritisch immer nur innerhalb dieser vorgegebenen Polaritäten zu werden – um dann für den Rest ihres Lebens an der Komplexität und Vieldeutigkeit der realen Welt zu scheitern.
Wir werden sehr bald aufhören, mit viel Energie immer neue Mätzchen und Methoden zu entwickeln, um diese Prägeanstalten in eine Zukunft zu retten, die von uns in so gut wie allen Lebensvollzügen andere Fähigkeiten erwartet, als das Bildungssystem sie vermittelt. Wir werden aufhören, ständig die Frage zu stellen, was denn statt Schule sein soll oder wird. Darauf gibt es im Moment keine Antwort, und deshalb landen wir, solange wir diese Frage stellen, immer wieder dort, wo wir sind, und nicht auf dem Weg dorthin, wo wir sein sollten. Wir brauchen keine andere und keine neue Schule, und wir brauchen auch keine anders ausgebildeten Lehrer. Es ist völlig sinnlos, weiterhin an Strukturen zu glauben und festzuhalten, die so unübersehbar in Auflösung begriffen sind.
Was wir brauchen, ist das, was sich im Moment bereits entwickelt – in starken Initiativen und durch sie. Durch zivilgesellschaftliches Engagement von Menschen jeglicher Couleur und Herkunft. Ein Blick ins Netz zeigt: der Wandel ist auf dem Weg. Überall. Und auch er wird sich exponentiell entwickeln. Es wird nicht bloß das größer und mächtiger, wovor viele von uns Angst haben, und wovon sie sich in die passive Abwehr schlagen lassen. Während im Moment sehr viele nach Kontrolle schreien und Überwachung einfordern, die einen um Bürger*innen zu schützen, die anderen, um sie auszuspähen, ist die Open-Access-Bewegung gerade Mal dabei, Fahrt aufzunehmen. Der Wille eine neue, vernetzte, Ressourcen schonende, gemeinschaftlich denkende und handelnde, von einem holistischen Gerechtigkeitsempfinden und von Empathie für Mensch, Tier und Natur angetriebene Welt zu kreieren, hat enorme Kraft und Macht. Dieser Wille wird sich durchsetzen.
Hat dies auf ibieler.blog rebloggt und kommentierte:
Die Vision von Schule ist, dass es keine Schule mehr braucht. Danke an Christoph Schmitt für den Artikel.
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u‘re welcome 🥂
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