
Wir stehen gerade in einer radikalen Umwälzung, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, wer wir sind. Bis vor wenigen Jahren war das durch „große Erzählungen“ wasserdicht geklärt: Wer wir sind und was wir hier sollen. Die Religionen waren da über Jahrtausende hinweg federführend. Sie lieferten den Stoff für den Sinn des Lebens. Gegenwärtig verlieren diese Erzählungen immer mehr an Strahlkraft und Wirkung. Die übrig Gebliebenen radikalisieren sich im Moment, bevor sie dann vollends verschwinden werden. In Zukunft bildet dann nicht mehr das, was erzählt wird, einen Sinn für uns. Sinn erleben wir vielmehr dadurch, dass wir überhaupt miteinander ins Erzählen und Zuhören kommen – und darin bleiben. Das ist die neue, kulturelle Herausforderung.
Was hat das mit Bildung zu tun? Wann bin ich denn „gebildet“? Das Wort steht im Passiv. Es erweckt den Eindruck, dass jemand, eine Schule, ein Bildungssystem etwas mit mir macht. Das erleide ich dann. Mehr oder weniger passiv. Bis zum letzten Schultag. Erst werde ich gebildet, dann bin ich es. So die traditionelle „Erzählung“. So das Bildungsnarrativ, das bis heute ganz selbstverständlich gilt. Peter Bieri hingegen meint, bilden könne „sich jeder nur selbst“[1]. Dann wäre Bildung Eigeninitiative. Was auch immer andere dazu beitragen – bilden kann ich mich nur selbst.
Was aber tun dann all jene, die sich institutionell für unsere Bildung zuständig erklären? Mit Martin Walser gesprochen nichts Gutes: „Es scheint beim Erzogenwerden darauf anzukommen, sich auch vor sich selbst zu verstellen. … Man soll sich selbst undeutlich sein. Dann widerspricht man nicht, wenn sie einem sagen, wer man ist.“[2]
Die Bildung ist ein normativ aufgeladenes Geschäft. Und in den ersten beiden Lebensjahrzehnten nicht unterschieden von der Erziehung. Das liegt wohl am Eifer des Gefechts, in dessen Verlauf die Bildung Normen transportiert bis zum Anschlag. Weil die „Erzählung“ dahinter so gestrickt ist: Bildung gibt Menschen- und Weltbilder an die nächste Generation weiter. Komme, was da wolle.
Die längste Zeit war unsere Bildungswelt christlich geprägt. Lange stand die christliche Tradition exklusiv für die Bewahrung exklusiver Erzählungen und für einen durch das Erzählte bestimmten Sinn. Damit alles an seinem Platz bleibt. Ganz wunderbar skizziert wird das in dem Schweizer Kinofilm „Die göttliche Ordnung“, der die letzten Tage vor der Einführung des Frauenstimmrechtes im Jahr 1971 nacherzählt. Acht Jahre danach erscheint François Lyotards Werk „La condition postmoderne“. Es diagnostiziert das Ende der grossen Erzählungen. Seither kann einen schon mal das Gefühl beschleichen, das wir ein wenig durcheinander gekommen sind.
Der Einfluss der Digitalisierung
Denn seit jenen Tagen wird die normative Funktion von Narrativen brüchig – ohne dass das Narrativ als solches überflüssig wäre. Neu ist: Im Kontext der Digitalisierung verschärft sich das Phänomen der Vielstimmigkeit ungemein. Der Kampf geht um Aufmerksamkeit, nicht um Deutung. Nicht was gebrüllt wird, ist entscheidend, sondern wie laut. Konsens gibt es da allenfalls noch als Choral – auch als einen der eingebundenen Misstöne: Flashmob.
Verstärkt (nicht hervorgerufen) wird diese Entwicklung durch die Digitalisierung der Kommunikation, der Kulturen, der Märkte. Narrative werden definitiv vielstimmig und verändern sich nur noch als Chor. Dabei greifen sie nicht mehr auf eine Partitur („normative Begründungen“) zurück, sondern komponieren sich singend – also erzählend. Halten wir das aus?
Der Sinn eines Narratives entsteht und vergeht heutzutage beim Erzählen. Er ist dem Gespräch nicht mehr vorgelagert. Er schöpft sich aus dem Hier und Jetzt, im spontanen Gestalten von Gemeinschaft – zu welchen Zwecken auch immer: um sich zu bilden, um Arbeit zu organisieren, um eine Gesellschaft zu sein. Die sich treffen, bilden sich für diesen Moment und ver-gehen dann wieder. Sie bringen ihre Narrative vielleicht mit, aber sie fordern sie nicht zwingend ein, weil der Sinn im Erzählen entsteht, nicht durch Erzähltes.
Das neue Paradigma: Erzählen schlägt Erzähltes
Was bedeutet das für die Bildungsarbeit? Es bedeutet: „Gemeinsames Erzählen bildet“. Erzählen hat noch immer die Funktion der Selbstvergewisserung. Aber jetzt nicht mehr, indem ich auf Erzähltes fokussiere, sondern auf das Erzählen selbst. Ob dieses Phänomen neu ist, weiss ich nicht, aber im Moment entwickelt es sich zu einem Paradigma. Zu einem Narrativ. Zu einer Art „Digital Derrida“.
Das Neue am neuen Narrativ ist: Was als Erzählung Sinn hat, entscheidet allein der Kontext – nicht bildet sich der Kontext durch das Erzählte. Das ist ein Paradigmenwechsel. Und wir sind mittendrin. „Sinn“ ist nicht mehr Teil einer Lieferung (als Buch, Unterricht, Vortrag oder Seminar), sondern Ergebnis eines kollaborativen Produktionsprozesses. Erzählgemeinschaften (Familien, Vereine, Seilschaften, Netzwerke) bilden sich nicht mehr um traditionelle Narrative herum. Sie bilden selber welche und verwerfen sie wieder. Das begegnet mir in digitalen Kulturen wie Makerspace, Coworking, Kollaboration und Blockchain andauernd.
Sich aus Erzähltem freischzuwimmen wird leichter
Das Gute daran ist: Ich werde als Individuum nicht auf mich selbst zurückgeworfen oder zum einsamen Sinnkonstruktivisten. Schon gar nicht „wegen dieser Digitalisierung“. Vielmehr arbeiten wir durch unser Erzählen und Zuhören fortwährend an unserer persönlichen Identität wie auch an der unserer Community. In diesem Prozess verliert meine (Herkunfts-)Erzählung womöglich den Anspruch von Exklusivität, auch mir selbst gegenüber. Aber das kann ja auch eine ungeheure Befreiung sein. Nicht nur für die Frauen im Kampf um Gleichberechtigung in den Siebzigern. Nicht nur für schwule und lesbische Musliminnen und Muslime. Wenn Ursprungserzählungen ihre Deutungsmacht verlieren, gewinne ich ganz grundsätzlich auch an Freiheit: im Erzählen, im Zuhören, im gemeinsamen Produzieren von Sinn. Nicht auszudenken, was das im Schmelztiegel der Kulturen an Chancen bedeutet.
Sich aus Erzähltem frei zu schwimmen führt in immer neue Narrative. Nicht weil das Erzählte emanzipatorisch wirkt, sondern weil das Erzählen befreit. Handfest und heilsam. Durch die Digitalisierung eröffnen sich hier ganz neue Räume und Netzwerke. Gelegenheiten der Befreiung und der Verbindlichkeit auf Augenhöhe – letztlich der Bildung von Gemeinschaft. Nur eben ganz anders, als wir es gewohnt sind. Aber wem erzähle ich das…
[1] ZEITmagazin LEBEN, 02.08.2007 Nr. 32
[2] M. Walser/A. Ficus (1982): Heimatlob. Insel Taschenbuch, S. 34ff.
Von der Erzählung zum Erzählen zu kommen ist ein sehr interessanter Punkt. Ohne einen fundierten Begriff von Bildung über Bildung zu sprechen, ist in gewisser Weise Bullshit. Klafki, Marotzki, Koller, Brezinka u.a. würden nie sagen, man „würde gebildet“ (…). Die Literaturangaben sind die ZEIT und Walser. Beide keine Bildungstheoretiker.
LikeLike