Ich vermute, dass noch immer sehr viele Menschen dem Internet skeptisch gegenüber stehen, weil sie es als einen Raum erleben, in dem Dinge passieren, denen sie nicht über den Weg trauen. Sie sehen das Netz als einen Raum, in dem man sich verirren kann, in dem man ausgenutzt, ausgespäht und missbraucht wird – abgezockt und um die Privatsphäre betrogen. Es ist nicht nur ein Raum, in dem ich mich zu schützen habe, sondern einer, vor dem ich auf der Hut sein muss.
Anja C. Wagner hat in einer kleinen Netzumfrage Vermutungen eingefangen, warum in Deutschland und in der Schweiz vor allem Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen Vorbehalte gegen ein Engagement in Sozialen Medien hegen.
Im Ergebnis stellt sich heraus: Es fehlt die Auseinandersetzung und deshalb die Erfahrung. Die Angst vor dem Kontrollverlust ist groß. Außerdem besteht noch kein echter Handlungsdruck – und nicht zuletzt ist es auch eine Statusfrage: Was erwartet mich, wenn ich in den Sozialen Medien auf Augenhöhe mit Menschen interagiere, die nicht meiner „Eliteblase“ entstammen?
Die Digitalisierung stellt unsere Beziehungen zum Raum auf den Kopf
Die hartnäckigen Gründe liegen noch tiefer: Für viele ist das Netz ein Raum, in dem sich vor allem Beobachter tummeln und Beobachtete: Lurkers meet Lurkers. Dazwischen scheint es nur wenig zu geben. Echte Interaktion etwa, oder Zusammenarbeit. Diese beiden verorten wir nach wie vor lieber im Meatspace, nicht im Cyberspace. Das Netz ist das Meer, aus dem wir etwas fischen, um es dann im richtigen Leben, ganz analog, zu gebrauchen. Manchmal verabreden wir uns auch im Netz, aber „treffen“ werden wir uns dann doch lieber in der so genannten Realität.
Auch sind wir es gewohnt, dass Räume, die wir betreten, vorher da sind – sonst könnten wir ja nicht hinein. Im Netz ist das anders. Da entsteht der Raum dadurch, dass wir ihn öffnen. Das könnte eine große Chance sein für Kollaboration. Das wird aber so gut wie nicht genutzt, denn digitale Räume sind zuerst einmal nicht strukturiert oder eingerichtet. Wir sind aber groß geworden mit und in Räumen, in denen alles seinen Platz hat. An der Art seiner Einrichtung erkennen wir den Raum und seinen Zweck. Vor allem jene Räume, in denen wir lernen und arbeiten. Da herrscht Ordnung. Wir lernen früh, dass Räume gestaltet sind, wenn wir sie betreten. Und daran erkennen wir, wo wir sind. Nicht so im Cyberspace. Da sind wir zur Gestaltung herausgefordert. Wir haben alle Möglichkeiten, und das sind zu viele.
Schlachthof oder Tanzsaal? Der Cyberspace ist beides zugleich
Denn der digitale Raum erhält seinen Zweck dadurch, dass wir eintreten. Er bekommt seine Identität dadurch, dass wir ihn betreten – in dem Moment, in dem wir das tun. Du, ich und die anderen. Der digitale Raum entsteht durch unsere Anwesenheit in ihm. Und er verliert sich in dem Moment, in dem wir ihn wieder verlassen. Strange, isn’t it?
Im Unterschied zu den meisten materiellen Räumen ist der Cyberspace nicht vorgespurt. Der materielle Raum hat und verfolgt meist nur einen bis eineinhalb Zwecke. Er ist entweder Schlachthof oder Tanzsaal. Deswegen sind die materiellen Räume auch so zahlreich: weil sie durch ihre Nutzung eingeschränkt sind. Deshalb braucht es viele davon. Nicht so im Cyberspace. Der definiert sich durch das, was diejenigen in ihm veranstalten, die ihn öffnen und wieder schließen. Die Digitalisierung macht uns bewusst, dass ein Raum nur das ist, was wir darin tun. Auch wenn wir ihn noch so zumüllen mit Materie.
Das ist genial: Je weniger ein Raum durch seine Nutzung vorherbestimmt ist, um so mehr kann in ihm entstehen. Er bekommt erst durch die Art und Weise seiner Nutzung und Inbesitznahme einen Sinn. Er entsteht durch die Artikulierung der Anliegen derer, die ihn betreten und dadurch „konstituieren“, also bilden. Das steckt hinter den neuen Buzzwords vom Coworking-Space, vom Colearning- und vom Makerspace. Die Gestalter definieren den Raum nicht nur, sie bilden ihn gemeinsam – und sie lösen ihn wieder auf. Deshalb sind Lern- und Arbeitsräume in Zukunft immer weniger (vorher-)bestimmt – und genau deshalb wird so Vieles in ihnen möglich.
Der digitale Raum ist nicht virtuell. Er ist, was wir aus ihm machen.
Der virtuelle Raum, wie er uns immer wieder durch die Träger*innen klobiger VR-Brillen und die Propheten aus der virtuellen Realität vor Augen geführt wird, der ist – genau wie der Raum des analogen Zeitalters völlig durchgestylt, durchdesignt und gestaltet. Er ist programmiert. Davon hängt ab, was in ihm passiert. In diesem virtuellen Raum werden wir pausenlos geführt. Was wir darin entdecken ist identisch mit dem, was zu entdecken vorgesehen und vorgegeben (und programmiert) ist. Wir suchen die Ostereier.
Der digitale Raum, der ein kollaborativer ist, hat mit dem Raum der „VR“ nichts zu tun. Wenn es im digitalen Raum überhaupt Prinzipien gibt, dann z.B. das der Serendipity: Ein kreatives, nicht vorhersehbares und kollaboratives Entdecken und Kombinieren. Design von Feinsten. Im digitalen Raum werden keine versteckten Ostereier entdeckt wie im Raum der VR. Es geht nicht ums Finden sondern ums Entdecken. Um Expedition.
Die nächste Stufe: Denkräume neu erfinden und gestalten
Diesen Paradigmenwechsel kriegen wir aber nur hin, wenn wir auch mit unserem Denken in neue Räume vorstoßen – indem wir sie betreten. Miteinander. Statt dass wir uns konsequent im Kreis bewegen und immer wieder durch dieselben Denkräume mäandern. Klar, das gibt Sicherheit, weil „da drin“ alles immer so ist, wie es war. Das Bedürfnis ist groß, immer und immer wieder an denselben Begriffen, Überzeugungen, Abläufen, Hierarchien, Mindsets, Menschen- und Weltbildern vorbei zu kommen.
Daraus entsteht aber nur eine Zukunft, die ein „mehr Desselben“ ist. Die Metapher vom „digitalen Raum“ hingegen erlaubt mir, den gemeinsamen Denkraum frei zu gestalten und weiterzuentwickeln. Nie war es einfacher aber auch dringlicher, unser Denken für das Entdecken echter Alternativen einzusetzen. Es ist das Gebot der Stunde.
Ob fremd oder nicht – gefährlich ist er allemal!
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