Titelbild: Lisboa 2013
Seit geraumer Zeit dominiert in politischen, ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Kontexten eine bemerkenswert einförmige Haltung im Umgang mit dem Phänomen der Entwicklung. Sie wird in unterschiedlichen Varianten vorgetragen, folgt aber stets demselben Muster: Man müsse das Alte wertschätzen, das Bewährte bewahren, die Traditionen respektieren und zugleich offen bleiben für das Neue, für Innovation und Veränderung. Dieses „Sowohl-als-auch“ gilt weithin als Ausdruck von Ausgewogenheit, Vernunft und Verantwortungsbewusstsein. Wer es in Frage stellt, gerät umgehend in den Verdacht der Radikalität, der Naivität oder der Geschichtsvergessenheit.
Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Haltung jedoch weniger als Ausdruck reflektierter Balance denn als rhetorische Formel, die eine zentrale Zumutung vermeidet: die des Entscheidens. Genau hier setzt mein Unbehagen an. Denn das „Sowohl-als-auch“ bleibt nicht neutral. Es ist nicht einfach eine moderate Mittelposition zwischen Extremen, sondern entfaltet in der Praxis eine klare Schlagseite zugunsten des Bestehenden.
Das „Sowohl-als-auch“ als Beruhigungsformel
In der politischen Kommunikation, in Leitbildern von Organisationen und nicht zuletzt im Bildungsdiskurs fungiert das „Bewahren und Erneuern“ als semantische Beruhigungsgeste. Es signalisiert Anschlussfähigkeit in alle Richtungen, vermeidet offene Konflikte und suggeriert, dass tiefgreifende Veränderungen möglich seien, ohne dass etwas Wesentliches aufgegeben werden müsse.
Diese Formel erfüllt mehrere Funktionen: Sie entschärft normative Konflikte, indem sie widersprüchliche Ziele scheinbar harmonisiert. Sie stabilisiert bestehende Macht- und Entscheidungsstrukturen, weil das Bewahren institutionell, rechtlich und kulturell immer besser abgesichert ist als das Erneuern. Und sie diffundiert Verantwortung, weil sie Entscheidungen als moderierende Ausgleichsleistungen erscheinen lässt statt als bewusste Priorisierungen mit realen Konsequenzen.
Das Problem liegt dabei nicht im Gedanken der Balance selbst. In komplexen Systemen ist Ausgleich zweifellos notwendig. Problematisch ist vielmehr, dass diese Balance nicht begründet wird. Sie wird vorausgesetzt. Das „Sowohl-als-auch“ ersetzt die Frage nach der Logik der Legitimierung, mit der entschieden werden müsste, durch eine sprachliche Formel, die Entscheidung simuliert, ohne sie zu vollziehen.
Bewahren ist kein normativer Selbstzweck
Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, dass der Rekurs auf das Bewährte eine problematische Leerstelle enthält. Bewahren gilt implizit als Wert an sich. Doch historisch wie gegenwartsbezogen ist diese Annahme nicht haltbar.
Ein erheblicher Teil dessen, was heute als bewährt, tradiert oder alternativlos verteidigt wird – industrielle Produktionsweisen, wachstumsfixierte Ökonomien, ressourcenintensive Lebensstile, bestimmte Vorstellungen von Arbeit, Leistung und Erfolg – ist nicht zufällig mitverantwortlich für jene ökologischen, sozialen und politischen Krisen, die unsere Gegenwart prägen. Die Klimakrise, der Verlust biologischer Vielfalt, die Erosion sozialer Kohäsion, zunehmende Ungleichheit und die Überforderung demokratischer Institutionen sind nicht unabhängig von diesen Strukturen entstanden, sondern stehen in einem engen, historisch gewachsenen Zusammenhang mit ihnen.
Unter diesen Bedingungen verliert die retrospektive Rechtfertigung des Bewahrens ihre normative Kraft. Dass etwas lange funktioniert hat, sagt wenig darüber aus, ob es unter veränderten Bedingungen weiterhin legitim und tragfähig ist. Bewahren kann daher nicht länger aus der Vergangenheit begründet werden, sondern nur aus einer Perspektive der Zukunftsfähigkeit.
Der konservative Reflex und seine Grenzen
Der häufig zu beobachtende konservative Reflex – das reflexhafte Festhalten am Bestehenden bei gleichzeitiger, eher formelhafter Offenheit für Neues – ist dabei weniger ein individuelles psychologisches Muster als eine institutionell rationalisierte Haltung. Er beruht auf impliziten Massstäben, die selten expliziert werden: Systemstabilität wird höher gewichtet als Systemgerechtigkeit, Risikoaversion höher als Problemlösungsfähigkeit, Vergangenheitsbewährung höher als Zukunftstauglichkeit.
Unter Bedingungen relativer Stabilität mag diese Haltung funktional gewesen sein. In Zeiten beschleunigter, multipler Krisen wird sie jedoch dysfunktional. Sie verkehrt Vorsicht in Blockade und Verantwortungsbewusstsein in strukturelle Verantwortungslosigkeit. Denn sie fragt primär danach, was bestehende Systeme aushalten, nicht danach, was angesichts realer Herausforderungen erforderlich wäre.
Bildung als exemplarisches Anwendungsfeld
Besonders deutlich zeigt sich diese Problematik im Bildungssystem, konkret in der Volksschule. Kaum ein Bereich wird so intensiv rhetorisch reformiert und zugleich so beharrlich strukturell konserviert. Lehrpläne werden angepasst, digitale Werkzeuge eingeführt, neue Begriffe wie Kompetenzorientierung oder Individualisierung etabliert, während grundlegende Fragen nach Bildungszielen, Leistungsverständnis, Selektionsmechanismen und sozialer Gerechtigkeit ausgeklammert bleiben.
Auch hier dominiert das „Sowohl-als-auch“: die bewährte Schule soll erhalten bleiben, ergänzt um neue Methoden, Technologien und Förderformate. Doch die entscheidende Frage wird nicht gestellt. Sie lautet nämlich nicht, ob das bestehende System unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen – Diversität, soziale Ungleichheit, digitale Transformation, ökologische Krisen – weiterhin zu Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit beitragen kann, sondern wie lange seine historisch belegte Funktion der Reproduktion sozialer Ungleichheit noch als akzeptabel hingenommen wird.
Wenn das Bildungssystem nachweislich soziale Ungleichheiten reproduziert, Kinder frühzeitig selektiert und auf eine Arbeits- und Lebenswelt vorbereitet, die so gar nicht existiert, dann ist Bewahrung kein Ausdruck von Verantwortung, sondern von Verdrängung. In diesem Fall wäre nicht das Neue zu rechtfertigen, sondern das Alte.
Eine andere Legitimation: Zukunftsfähigkeit
Aus dieser Perspektive ergibt sich eine alternative normative Legitimation für Entscheidungen über Bewahren und Verändern. Bewahrenswert ist nicht, was vertraut, etabliert oder emotional aufgeladen ist, sondern das, was unter veränderten Bedingungen einen nachweisbaren und normativ vertretbaren Beitrag leistet, und zwar nicht bloss funktional stabilisierend, sondern im Hinblick auf Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und kollektive Zukunftsfähigkeit.
Konkret heisst das: Bewahrenswert ist nur, was ökologische Tragfähigkeit respektiert, soziale Gerechtigkeit fördert, politische Handlungsfähigkeit stärkt und individuelle Sinn- und Teilhabemöglichkeiten eröffnet. Alles andere verliert seinen Anspruch auf Bewahrung, unabhängig von seiner Tradition oder institutionellen Verankerung.
Dieser Massstab ist anspruchsvoll, weil er Entscheidung erzwingt. Er erlaubt kein bequemes Ausbalancieren widersprüchlicher Ziele, sondern verlangt Priorisierung, Bewertung und gegebenenfalls Abschied.
Ebenen der Entscheidung
Dabei ist zu unterscheiden zwischen unterschiedlichen Handlungsebenen.
Kurzfristig und auf der Mikroebene – etwa bei der Einführung neuer Technologien oder Methoden – können Effizienz, Praktikabilität und Anschlussfähigkeit leitend sein.
Auf der Mesoebene von Organisationen und Institutionen rücken Anpassungsfähigkeit, Resilienz und Zweckklarheit in den Vordergrund.
Auf der Makroebene gesellschaftlicher Ordnung schliesslich geht es um Zukunftsfähigkeit im umfassenden Sinne: um Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und die Wahrung planetarer Grenzen.
Der konservative Reflex scheitert vor allem auf diesen mittleren und grossen Ebenen, weil er operative Stabilität mit normativer Legitimität verwechselt. Denn dass etwas funktioniert, bedeutet nicht, dass es richtig ist.
Entscheidung als demokratische Zumutung
Im Kern ist die hier verhandelte Frage eine demokratietheoretische. Demokratie lebt nicht von der Vermeidung von Konflikten, sondern von der transparenten Austragung normativer Differenzen. Gesellschaftliche Transformation erfordert Entscheidung, nicht bloss Moderation.
Entscheiden heisst, Prioritäten zu setzen, Zielkonflikte offen zu benennen, Verluste anzuerkennen und Verantwortung zu schultern: konkrete Verluste an Privilegien, Ressourcen, institutioneller Macht, symbolischer Deutungshoheit und politischer Bequemlichkeit. Das „Sowohl-als-auch“ suggeriert, man könne sich dieser Zumutung entziehen. In einer Welt sich beschleunigender Krisen ist das eine gefährliche Illusion.
Ich spitze die These bewusst zu: Unter Bedingungen fundamentaler Veränderung ist nicht das Neue erklärungsbedürftig, sondern das Alte. Solange Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger diesen Perspektivwechsel vermeiden, bleibt das Beschwören des Bewahrens kein Zeichen von Weisheit, sondern Ausdruck mangelnder normativer Klarheit.
Woran wir erkennen würden, dass es tatsächlich anders wird
Nachhaltiger Wandel wäre nicht primär an neuen Leitbildern, Programmen oder Innovationsrhetoriken zu erkennen. Entscheidend wäre vielmehr eine veränderte Praxis des Entscheidens selbst.
Erstens: Bewahrung müsste begründet werden. Nicht Veränderung, sondern Fortsetzung würde rechtfertigungspflichtig. Dort, wo Institutionen, Routinen oder Strukturen fortbestehen sollen, müsste explizit dargelegt werden, welchen nachweisbar positiven und normativ vertretbaren Beitrag sie unter veränderten Bedingungen leisten – und für wen.
Zweitens: Zielkonflikte würden nicht länger moderiert, sondern entschieden. Politische, ökonomische und pädagogische Prozesse wären nicht mehr primär auf Konsens und Anschlussfähigkeit ausgerichtet, sondern auf Klarheit über Prioritäten, inklusive der Bereitschaft, reale Verluste in Kauf zu nehmen; Verluste nicht abstrakt, sondern konkret: an Vorteilen für privilegierte Gruppen, an institutioneller Absicherung des Bestehenden, an scheinbarer Effizienz und an politischer Konfliktvermeidung.
Drittens: Erfolg würde nicht länger an Systemstabilität gemessen, sondern an reduzierter Ungleichheit, erhöhter Teilhabe und wachsender Zukunftsfähigkeit. Insbesondere im Bildungssystem würde sich das daran zeigen, dass Selektionsmechanismen abgebaut statt verfeinert, Ressourcen umverteilt statt nur effizienter verwaltet und Bildungsziele neu bestimmt werden.
Viertens: Politische Verantwortung und solche in der Führung könnte legitim personalisiert werden. Entscheidungen hätten Adressaten, Namen und politische Konsequenzen. Das Verstecken hinter Verfahren, Traditionen oder Sachzwängen verlöre seine legitimierende Kraft.
Erst wenn diese Verschiebungen sichtbar werden, liesse sich von einem tatsächlichen Bruch mit dem gegenwärtigen Bewahrungsreflex sprechen. Nicht als radikale Geste, sondern als Ausdruck einer Gesellschaft, die bereit ist, sich selbst normativ neu zu bestimmen.
Unter den Bedingungen der Gegenwart und im Horizont einer gemeinsamen Zukunft.

Sehr gelungener Artikel, der sicherlich gut unterstützt, wenn es Zweifel gibt „wie weiter“. Danke
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