Was mir nicht nur in der Schule, aber insbesondere dort auffällt, ist dies: wir beobachten, beurteilen und diagnostizieren praktisch ausschliesslich Menschen, wenn etwas nicht rund läuft, eskaliert, entgleist.
Wir beobachten ihr Verhalten und fragen uns, wie wir Menschen dabei unterstützen können, ihr Verhalten zu verändern, sich in ein System, in ein Umfeld, in eine Klasse, in ein Team zu integrieren, sich anzupassen, besser mit der Situation klar zu kommen. Auch bezogen auf uns selbst sind wir darauf programmiert, uns zu fragen: Was kann ich noch tun? Was stimmt mit mir nicht? Das sind die Fragen, die sich bereits das Kind stellt, wenn in seiner Umwelt etwas nicht stimmt, wenn Beziehungen aus dem Lot geraten. Fragen an denen das Kind nicht selten verzweifelt oder scheitert.
Die psychologische Forschung hat uns schon vor langer Zeit gezeigt, dass Menschen vor allem in ihrem frühen Leben dazu neigen, sich selbst zum Problem zu machen oder sich als die Ursache dafür anzunehmen, wenn ihre Umgebung auseinander zu fallen droht.
Die Blickrichtung mag sich im Verlauf des Lebens ändern, der Fokus hingegen bleibt derselbe. Auch Menschen, die die Schuld bei anderen suchen, suchen sie bei anderen Menschen – nah und fern.
Dieses Schuldprinzip hat die menschliche Evolution überlebt. Nicht nur in der Juristerei.
Was ich so gut wie nie erlebe: dass die Situation in den Blick kommt, in der bestimmte Menschen ein bestimmtes Verhalten zeigen: Reaktionen, Muster, Emotionen. Wir sprechen von Neurodiversität, von Hypersensibilität, von ADHS, und zielen damit immer auf Menschen, nie auf Situationen, in denen sich etwas zeigt und anderes nicht.
Wir ziehen nicht in Betracht, dass Menschen niemals „sind“, sondern sich immer verhalten. Wir fragen uns, wie das sein kann, dass immer mehr Menschen auffälliges Verhalten zu zeigen scheinen, doch Verhalten gibt es nie unabhängig von Situationen.
Selbstverständlich sind wir heute aufmerksamer geworden. Hellhöriger. Wir sehen und erkennen heute mehr und früher, was schief läuft, wo Missbrauch im Spiel ist und Mobbing, und zielen damit immer auf den einzelnen Menschen, nicht auf sein oder ihr System.
Ausser um es zu stabilisieren.
Was wir entweder nie im Blick hatten oder komplett aus dem Blick verloren haben, ist die Situation selbst und ihr Einfluss auf den Menschen. Den bedingenden Einfluss, den unterstützenden Einfluss, den überfordernden Einfluss, den blockierenden Einfluss – und damit eben auch den ermöglichenden, den befreienden, den ermächtigenden Einfluss.
Wir haben ein ganzes Arsenal an Instrumenten entwickelt, um Menschen zu helfen, in und mit bestimmten Situationen besser klarzukommen. Das moderne Coaching ist ja nichts anderes. Nur das eine Instrument nutzen wir so gut wie nie: an der Situation zu arbeiten. Gemeinsam.
Da müssen wir jedoch heute ansetzen. Davon bin ich überzeugt. Wir sind ja keine Stämme mehr, die im Angesicht einer übermächtigen Natur oder eines Fressfeindes zu überleben hätten, und wo deshalb von Anpassung an Umgebungen das Überleben abängt. Dieses Prinzip, das im Post-Kapitalismus als Relikt überlebt hat, gehört in eine andere Epoche der Menschheitsgeschichte.
Wir sind längst im Zeitalter der Kollaboration angekommen. Frederic Laloux hat dazu schon vor Jahren sein Pionierwerk geschrieben, Otto Scharmer forscht daran ebenfalls seit Jahrzehnten, Rutger Bregman hat in seinen historischen Arbeiten den Mensch als kooperatives Wesen entlarvt.
Unsere Situation ist längst die der planetaren, materiellen Überfülle, und wir wissen nichts anderes mit ihr anzufangen als sie zu verschwenden. Systemisch, systematisch. Wir finden uns slso längst nicht mehr in Situationen wieder, wo Menschen sich Systemen unterordnen müssten, damit diese Systeme überleben. Wir können heute Umgebungen gestalten um sie menschlich zu machen, einfach weil wir die Möglichkeiten dazu haben.
Das ist dann mehr als nur zu überleben.
Ich würde so gerne die Perspektive beliebt machen, dass wir uns in Erziehung und Bildung immer weniger die Frage stellen, was junge Menschen brauchen, um sich anpassen und einordnen zu können, sondern dass wir konsequent fragen, wie wir die konkrete Lebenswelt und Arbeits- und Lernwelt so gestalten, damit sie für das Kind gut ist.
Hier brauchen wir einen radikalen Perspektivwechsel. Wir brauchen Systeme, Umgebungen, Gelegenheiten, die dem Kind erst die Entwicklungsmöglichkeiten geben, die es ihm erlauben, sich in seiner Welt sicher zu bewegen, diese Welt zu seiner Welt zu machen und zu ihrer – und aller dazwischen und ausserhalb.
Titelbild: kulturlabor.sh
