Über Hierarchie und Unterdrückung

Die Schau­spielerin Sandra Hüller wurde vom Schweizer Magazin „Republik“ interviewt. Der Artikel endet mit einem Zitat von ihr: „‚Das ist der Umgang, der mich im Arbeits­umfeld interessiert – ein respektvoller, vertrauensvoller mit niedriger Hierarchie‘, sagt sie. ‚Ich bin überzeugt, dass Arbeit besser funktioniert, wenn niemand versucht, die anderen zu unterdrücken.‘»

Was bedeutet es in welchen Kontexten, „andere zu unterdrücken“ bzw. worin bestehen die vielfältigen Versuche, es dazu kommen zu lassen, und wie sehen die aus, und: woran erkenne ich, wann die Unterdrückung beginnt? Und: Wieviel hat sie damit zu tun, dass ich sie „mit mir machen lasse“ – oder dass ich als Beobachter:in mitbekomme, wie sie mit anderen geschieht?

Das sind die Fragen, die bei mir aufpoppen im Kontext von Unterdrückung, die, so meine Wahrnehmung, in unserer Kultur nach wie vor mit grosser Macht wirksam ist. In allen Institutionen, im Bildungsbereich, in zwischenmenschlichen und -staatlichen Beziehungen und Interventionen, und im bisher nicht wirklich aufgearbeiteten Themenkreis der sexuellen Ausbeutung in den Kirchen.

Keine Hochzeitstorte

Und angenommen, bei der Haupttätigkeit vor allem junger Menschen: dem Lernen, dem Entdecken, Erforschen und Erkunden handelt es sich ebenfalls (ganz grundsätzlich) um eine (ganz) ausgezeichnete Form von Arbeiten, weil Lernen und Bildung eine Arbeit an mir selbst ist, an meinen Fähigkeiten und an der Welt – was sagt dann dieses an sich schöne Zitat von Sandra Hüller von der versuchten Unterdrückung über die institutionaliserten, hierarchischen Lern- und Arbeitsverhältnisse in unserer Kultur?

Geht Hierarchie ohne Unterdrückung?

Und was, wenn Hierarchie ohne Unterdrückung gar nicht geht? Wenn auch die niedrigen, gerne auch flach genannten Hierarchien, da sie immer hierarchisch bleiben, höchstens weniger stark oder seltener unterdrücken können, nie aber nicht? Oder schliessen sich Unterdrückung und Hierarchie gar nicht notwendig ein, wie vor allem Hierarch:innen betonen?

Ist es womöglich so, dass Hierarchie eine Unterdrückung einfach leichter macht als – ja als was? In welchen sozial-institutionellen Konstruktionen ist Unterdrückung schwerer möglich oder leichter zu erkennen und zu verhindern?

anders als hierarchisch

Dass es nicht ohne Hierarchien gehe, sagen die Hierarch:innen sowieso. Das sagen sie zum einen, weil ihnen die Vorstellung von etwas anderem fehlt.

Deshalb lösen sie Probleme, die in hierarchischen Systemen auftauchen (z.B. Unterdrückung), hierarchisch.

Sie haben noch keine gelingende Erfahrung mit einer Alternative, die aber gemacht werden kann – ganz und gar unabhängig von der Thematik der Unterdrückung, denn es gibt sie ja bereits: die Alternativen zu Hierarchie.

Und andererseits gibt es Hierarchie ja nicht nur in Organisationen und in den Beziehungen dort. Es gibt Hierarchien im Sinn gegebener oder erschaffener Abstufungen vielerorts in Kultur und Natur. Hierarchie ist als Gegebene häufig beobachtbar (in tierischen Rangordnungen ebenso wie in Stoffwechselabläufen). Da hat sie dann immer eine Funktion – anhand derer wir sie dann auch beobachten können. Hierarchie tut immer etwas. Sie ist nie zweckfrei oder nur zum Spass. Sie verfolgt Ziele und hilft dabei, Ziele zu verfolgen.

Meine Einschätzung ist: Alles, was hierarchisch organisiert und durchgeführt wird, kann auch anders organisiert werden – und zwar je mehr der Kontext ein Kultur-Kontext ist, also prinzipiell von Menschen willentlich konstruiert und deshalb auch veränderbar – im Unterschied zu hierarchischen Strukturen und Prozessen in Naturkontexten.

In die greift der Mensch zwar auch ein – nicht selten hierarchisch und weniger „mitgehend“, aber das tut er und sie dann als Kulturwesen. Er und sie greifen in naturhafte hierarchische Prozesse und Strukturen ein, die für solche Interventionen wiederum gar nicht gemacht sind. Verrückte Welt.

Die Mär vom Nutzen der Best Practice

Hierarchie wird in Organisationskontexten häufig als „Best Practice“ definiert – oder zumindest mit ihr begründet, ohne dies jedoch an einer „Alternative“  erwiesen zu haben, weil bis heute in 99 von 100 Fällen „Hierarchie“ die einzig denk- und machbare Organisationsform ist.

Was dabei verhallt ist der gegenwärtig konstante Ruf nach alternativen Organisationsformen zu hierarchischen, weil „Best Practice“ erfolgreichen Entwicklungsprozessen, die durch VUCA notwendig werden, eher im Weg steht, weil sie Ressourcen bindet statt sie optimal frei- und einzusetzen.

Das Problematische am Hierarchischen setzt also nicht erst beim Thema Unterdrückung an, sondern vorher schon wegen des Erleidens von Dysfunktionalität. Warum? Weil Hierarchie als Organisationsform Strukturen mit sich bringt, die Prozesse und ihre Steuerung bzw. Kontrolle per Definition voneinander trennen und als Getrennte organisieren. Zunehmend auch über algorithmische Arbeitssteuerung.

Andere denken da anders:

Mehr dazu hier

Doch unter hierarchischen Bedingungen ist ja selbst die hier geforderte (Selbst- und Fremd)Beobachtung – die eine der wichtigsten Funktionen im systemischen Organisations-, Beratungs- und Entwicklungskontext darstellt, a priori eine kontrollierende und bewertende. Dabei liegt ihr tatsächlicher Wert ganz woanders:

„Die höchste Form menschliche Intelligenz ist die Fähigkeit, zu beobachten, ohne zu bewerten.“

Jiddu Krishnamurti

Wieder so ein Hinweis, wo ich wie ansetzen kann, um eine durch Hierarchie motivierte Trennung von Aufgaben, Funktionen, Rollen und Verantwortungen zu überwinden – und dadurch Unterdrückung und Missbrauch Einhalt zu gebieten, womöglich bevor sie entstehen.

Wo also setzt die Unterdrückung an? Wann und wie? Die Unterdrückung von was? Diese Thematik ist enorm spannend und vielfältig! Ist Hierarchie immer mit Unterdrückung verbunden?

Mann muss diesen Text (👆) übrigens nicht gelesen haben, um die Frage, mit der er endet, zu beantworten. Die meisten Antworten bringen wir als Leser:innen bekanntlich schon mit.

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Autor: Christoph Schmitt

Bildungsaktivist | LinkedIn Top Voice | Colearner | TEDx Speaker | Bildungsdesigner | Bildungsethiker | systemischer Coach & Supervisor | Rituals Expert | Blogger | Nörgler | Ressourcenklempner. Ich unterstütze alles, was mit Aus- und Aufbrechen aus Beschulung zu tun hat. Für Jung UND Alt. Meine Kernkompetenz: Entwicklung ganzheitlich begleiten, moderieren, inspirieren.

2 Kommentare zu „Über Hierarchie und Unterdrückung“

  1. Hallo Christoph
    ich denke, die Unterdrückung fängt immer da an, wo ich als „Chef“ dem Grundsatz des Beobachtens ohne zu werten abweiche und wo ich als Angestellte*r mich durch etwas, das von „oben“ kommt getriggert fühle (meistens aufgrund vergangener Erfahrungen im Leben, mit Menschen, die Macht über mich hatten – Eltern, weitere Bezugspersonen, Schule, erweitertes Umfeld, Lehrmeister, Vorgesetzte etc). Unterdrückung von Gefühlen, von Selbstwert, der eigenen Würde. Das Gefühl unterdrückt zu sein ist sehr individuell, kann auch nur selbst (oder wenn gewünscht mit Hilfe von aussen) bewusst angenommen, angesehen und gelöst werden.
    Ich glaube nicht, dass Hierarchie immer mit Unterdrückung verbunden ist. Hierarchie kann auch stärken, unterstützen, begleiten, bewegen, Klarheit schaffen, Chaos ordnen, selbst mit dem Flow mitgehen.

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