Die versteckte Revolution: Warum die wahre Bildungsreform mit uns Erwachsenen beginnt

Titelbild: „Hiding your childhood behind the curtain, in the style of Paul Klee“
AI Generated by DALL-E/bing

In einer Zeit, in der Bildungsreformen und alternative Schulsysteme intensiv diskutiert werden, stellt sich die Frage: Wo setzen wir an, um echte Veränderung zu bewirken? Überraschenderweise liegt die Antwort nicht in der Neugestaltung von Lehrplänen oder in der Einführung moderner Methoden und Technologien. Sie liegt in uns selbst – in den Erwachsenen, die das System prägen und weitergeben.

Dieser Blog Post beleuchtet die tief verwurzelten Strukturen, die unsere Bildungssysteme seit Jahrzehnten – wenn nicht Jahrhunderten – unverändert lassen. Er fordert uns auf, einen heilsamen Erinnerungsprozess zu beginnen, der bei den Erwachsenen ansetzt und die Grundlagen für eine wirklich transformative Bildung legt.

Innere Landkarten neu zeichnen: Der Schlüssel zu nachhaltiger Bildungsreform liegt in uns selbst

Es mag für manche Ohren paradox klingen: Die größte Herausforderung besteht im Moment nicht darin, dass wir für Kinder und Jugendliche ein neues Schulsystem erfinden, denn dieses neue System würde sich nur durch Kleinigkeiten und Unwesentliches von dem unterscheiden, was es bisher ist, ausser wir setzen zuerst woanders an – und tiefer.  

Wir realisieren als erstes: Als Erwachsene machen wir Schule so, wie wir sie machen, damit wir eines nicht sehen müssen:

dass es bei der Frage nach einem lebendigen, menschlichen Lernen in erster Linie um uns selber geht und um unser Lernen; um unsere Identität als Lernende.

„Das jüngere Ich im Spiegel“ (DALL-E/bing)

Diese Einsicht würde uns ganz unmittelbar damit in Kontakt bringen, wie wir selber als junge Menschen Lernen gelernt haben, was wir in diesen Zeiten und Phasen verinnerlicht haben, was und wem wir zugestimmt haben, wem wir uns untergeordnet haben, ohne eine Alternative zu haben bzw. ohne bereits widersprechen zu können.

Warum die Veränderung, die beim Thema „Schule“ schon so lange ansteht, ausbleibt, bringt eine mittlerweile zum Kalenderspruch mutierte Einsicht auf den Punkt: „Those who cannot remember the past are condemned to repeat it.“ (George Santayana)

Dazu kommt mir unmittelbar zweierlei in den Sinn: 

Wir hängen diesen Satz ja sehr hoch und zitieren ihn vor allem im Zusammenhang mit dem Holocaust und anderen Völkermorden. Wir kommen nicht auf die Idee, dass dieser Satz eine ganz banale Alltagswirklichkeit beschreibt, und dass er also auch jene Praxis adressiert, die wir Schule nennen und Bildung und Erziehung. 

Ein System, das strukturell betrachtet heute noch so funktioniert wie durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch. Wo auch immer Schule heute anders ist als zu Kaisers Zeiten oder als in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts, hat sie doch strukturell gesehen viel mehr mit jenen Zeiten gemeinsam, als sie sich von Ihnen unterscheiden würde. Denn erst in zweiter Linie zeichnet sich Schule durch das aus, was sie lehrt, und in erster Linie dadurch, wie sie es tut. 

Deshalb ist für mich eine nächste Erkenntnis so wichtig: Solange wir die Einsicht hinter dem Spruch von Santayana um ihr emotionales Innenleben reduzieren, werden wir der mit ihr verbundenen Erinnerung nicht habhaft.

Zeitlebens beforscht hat diese Zusammenhänge Arno Gruen, der in seiner Schrift „Wider den Gehorsam“ zu folgender Erkenntnis gelangt:

Wir bilden uns heute viel darauf ein, rational zu sein. Tatsache ist jedoch, dass alltägliche Verleugnungen normaler Bestandteil unserer Kultur sind. Der Wahrheit ins Auge zu blicken, fällt uns schwer. Wir sind gefangen in der Angst, zu sehen, was wirklich ist. … Wir stufen diejenigen Menschen als normal ein, die sich der allgemeinen Verleugnung anpassen und so in unserer Kultur erfolgreich operieren.

Aufarbeiten und Heilen beginnt im „Klassenzimmer der Seele“

Was jetzt in Sachen Schule, Bildung und Erziehung ansteht, ist ein heilsamer Erinnerungsprozess, der mit uns, den Erwachsenen anfängt, die wir zwar der eigenen Kindheit, aber nicht den Erfahrungen entwachsen sind, die wir in unserer Bildungsbiografie gemacht haben.

Das geht nicht einfach Lehrer:innen an, sondern uns alle.

„Das jüngere Ich im Spiegel“ (DALL-E/bing)

Dieser Heilungsprozess besteht darin, dass wir unsere Lern- und Bildungsbiografie aufarbeiten. Wir schaffen zu diesem Zweck Räume, Zeiten, Orten und Gefässe, in denen dieses Aufarbeiten möglich wird. Wir brauchen diese Gelegenheiten, damit wir nicht mehr länger von uns verlangen, diesem Aufarbeiten auszuweichen: weil wir keine Zeit haben, weil wir anderswo gebraucht werden, weil wir Schule am Laufen halten müssen und auch sonst einer Menge anderer Verpflichtungen nachzugehen haben. 

Ich erachte es als unsägliches Versäumnis, dass dieser Prozess des Aufarbeitens der eigenen Bildungsbiografie in der Ausbildung zum Lehrer:innenberuf bis heute entweder zu kurz kommt oder ganz ausbleibt, und ich sehe es zugleich als riesige Chance, damit endlich anzufangen.

Das Ziel dieses Heilungsprozesses ist es, die Zusammenhänge zwischen gestern und heute zu durchschauen und den Wiederholungszwang zu erkennen, für den praktizierende Pädagogik bis heute blind ist. Es geht jetzt darum, die durch diesen Zwang dirigierte Praxis loszulassen, um erst dadurch die Ressourcen freigeben zu können, die anderes Lernen ermöglichen. Wir werden – metaphorisch gesprochen – die realen jungen Gefangenen, die wir heute durch Schule machen, erst dann freilassen, wenn wir das mit dem inneren Kind bei uns selbst gemacht haben. Das ist dicke Post.

Den Kolonialismus im eigenen Haus beenden

Auf die pädagogische Praxis hin gesprochen geht es darum, den „Kolonialismus im eigenen Haus“ zu durchschauen, den wir täglich praktizieren. An ihm scheitern bis heute alle pädagogischen Reformversuche. Es ist diese Blindheit, die dafür sorgt, dass die autoritäre Kultur von Schule und ihre Auswüchse (erinnert sei hier an das Mahnmal der Odenwaldschule) nicht gesehen werden können, sondern nur verdünnt.

Es ist unumgänglich, dass wir uns den verborgenen Zweck vergegenwärtigen, den wir mit unserer Bildungsarbeit bis heute verfolgen: vom Schicksal der eigenen Bildungsbiografie abzulenken – auch und gerade dann, wenn die Rede darauf kommt.

Erst im Aufarbeiten durchschauen wir die Scharade, mit der wir uns und der Welt glauben machen, „doch alles für die Lernenden zu tun“ und aufopferungsvoll für sie da sein, wo die in Wahrhheit doch für uns da sind, damit wir uns der eigenen Bildungsbiografie nicht zu stellen brauchen. So wiederholen wir das Unheil, das uns und den Generationen vor uns bereits angetan wurde: durch Schule dem eigenen Wesen entfremdet zu werden, wie Martin Walser so gut beschrieben hat:

In der Schule lernt man, sich auf etwas anderes als sich selbst zu konzentrieren. Man tut so, als sei Erlerntes etwas Eigenes geworden. So wird Eigenes zu etwas Erlerntem. Man agiert in der Art einer von der Gesellschaft gebauten und programmierten Maschine. Es scheint beim Erzogenwerden daruf anzukommen, sich auch vor sich selbst zu verstellen. Sich verborgen zu bleiben, heißt, ihnen so zu passen, daß sie dich gut erzogen nennen. Dann können sie eher machen mit einem, was Sie wollen. Man soll sich selbst undeutlich sein. Dann widerspricht man nicht, wenn sie einem sagen, wer man ist.

„Meeting the child you’ve been.“ (DALL-E/bing)

Ablenken und Sanktionieren

Schule ist ein unglaublich großes Ablenkungsmanöver, das den Erwachsenen erlaubt, die eigenen Erfahrungen der Beschämung auszublenden und umzudeuten: jene Erfahrung, durch Schule von der eigenen Lebendigkeit und Kreativität abgeschnitten worden zu sein.

Und so wiederholen wir auf einer gesellschaftlichen und kulturellen Makroebene das, was systembedingt mit uns selbst gemacht wurde – und was wir eben auch mit uns haben geschehen lassen, weil wir keine Alternativen hatten bzw. noch gar nicht die Möglichkeiten, um uns dagegen zu wehren. 

Wir halten zu diesem Zweck mit grosser Sorgfalt und Geschlossenheit an einer Systematik fest, die es uns erlaubt, das, was uns seinerzeit von uns entfremdet hat, eins zu eins weiter zu praktizieren.

Dass das so ist, erkennen wir nur schon daran, dass das Bildungssystem durchgehend ein Sanktionierungsapparat ist: wer auch nur minimal links oder rechts ausschert, wird mit aller Macht und mit allen Mitteln (von „sanft“ über „Förderung“ bis hin zu „Ausschlussdrohung“) dazu gebracht, wieder auf Spur zu kommen, während die unauffälligen Kinder und Jugendlichen als Zeug:innen solcher Maßnahmen, die ihren Mitlernenden widerfahren, ihre Kraft darauf verwenden, um in der Spur zu bleiben. Bloss nicht auffallen!

Die unglaubliche Energie und das enorme Durchhaltevermögen aller, die das Schulsystem tragen, führt sich darauf zurück. Diese Power und selbst die Professionalität, mit dem wir uns alle auf Schule verpflichten, hat den Auftrag etwas zu verneinen, wodurch wir das Verneinte präzise wiederholen.

Daraus ist weder ein Vorwurf zu formulieren noch ein Schuldkomplex zu konstruieren. Vielmehr sollten wir dem mit vereinten Kräften, mit Mut und Solidarität ein Ende machen – und anfangen in Freiheit zu lernen:

Carl R. Rogers: Lernen in Freiheit, S. 154

Wie wir das lebendige Lernen aus seinem Dornröschenschlaf wecken

Wir machen ernst mit einem Bildungsauftrag, der junge Menschen die Möglichkeiten öffnet, sich für die (Weiter-)Reise in dieses hochriskante 21. Jahrhundert zu rüsten, wenn wir als erstes der tieftraurigen Praxis Einhalt gebieten, dass immer mehr junge Menschen an Schule psychisch und körperlich erkranken.

„Das jüngere Ich im Spiegel“ (DALL-E/bing)

Das packen wir an, wenn wir den Heilungsprozess bei uns selbst auf den Weg bringen; wenn wir mit dem „Ablenkungsmanöver Schule“ aufhören, damit sich Schmerz, Verzweiflung, Scham und Wut wieder zu Wort melden können, und damit sich die vor langer Zeit (ein)gestellten Fragen wieder melden können, die Bildung und Lernen ausmachen. 

Dann fängt etwas an zu heilen – in einem gesellschaftlich wirksamen Ausmass.

Wenn ich dem Kind, das ich einmal war, in seinem ganzen Wesen vorbehaltlos begegnen kann, bin ich in der Lage, mich den Begegnungen mit jenen Kindern offen und vorbehaltlos zu öffnen, die mich heute brauchen.

Wir können und wir werden gute Schule für junge Menschen sein, wenn wir unseren eigenen Keller entrümpelt und die Leichen würdig bestattet haben.

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Autor: Christoph Schmitt

Bildungsaktivist | LinkedIn Top Voice | Colearner | TEDx Speaker | Bildungsdesigner | Bildungsethiker | systemischer Coach & Supervisor | Rituals Expert | Blogger | Nörgler | Ressourcenklempner. Ich unterstütze alles, was mit Aus- und Aufbrechen aus Beschulung zu tun hat. Für Jung UND Alt. Meine Kernkompetenz: Entwicklung ganzheitlich begleiten, moderieren, inspirieren.

7 Kommentare zu „Die versteckte Revolution: Warum die wahre Bildungsreform mit uns Erwachsenen beginnt“

  1. Lieber Christoph du sprichst mir aus dem Herzen und der Seele.
    Ich bin überzeugt, wahre Veränderung beginnt bei jedem von uns selbst. Denn alle Themen, die wir auf Bildung und Schule projizieren sind unsere Wunden, die geheilt werden wollen. Und wenn wir bei uns selbst bleiben und uns klar werden was wir wollen, welche Werte und Haltungen wir (vor)leben wollen können wir auch echt etwas verändern. Wir haben eine innere grosse Macht (ich verwende das Wort im positiven Sinne: Meine eigene Macht etwas zu ändern an mir und damit auch am System). Wohin wir unseren Fokus lenken, dahin wird die Reise gehen. Das ganze ist ein lebendiger Prozess und wenn wir den zulassen, in den Flow kommen, wird sich vieles ändern können. Danke, dass du darauf aufmerksam machst. Herzliche Grüsse Ruth

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    1. Was ich an mir mit neuer Einsicht zu ändern vermag, muss im (wir) keine Bedeutung haben. Die Schulung durch die Seele ein lebenslang, neben dem was wirklich durch ein aussen erlernt und gelernt werden kann.

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  2. Lieber Christoph, danke für das Teilen Deiner Gedanken. Ich habe zuerst das Seminar der NMS in Bern besucht und im 1. Praktikum einen Schüler erlebt der in der 4. war und eigentlich in der 6. sein sollte. Wegen ihm bin ich dann Heilpädagogin geworden später habe ich Logopädie ebenfalls berufsbegleitend gelernt. Immer habe ich den Kindern Mut gemacht und ihnen zu spüren gegeben dass sie einzigartig sind und sein dürfen – warum ? Weil ich es selber brauche dass man mich akzeptiert wie ich bin und natürlich ist jeder ein Teil eines Ganzen. Ich meine dass wir einfach aufhören müssen zu vergleichen- aufhören : „wele besser wele schöner, wele gschider“ und immer wenn jemand sich so in Szene setzen muss, sage ich, es ist verletzte Liebe dahinter, sonst hätte er oder sie es nicht nötig.- gerne würde ich mich treffen mit Dir und anderen um neue Wege zu suchen-

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    1. Danke für deine Zeilen, liebe Dorothea. Für mich ist eine (wenn auch noch so kleine) Gemeinschaft eine wichtige Voraussetzung, um die notwendigen und grundlegenden Veränderungen auf den Weg zu bringen. Deshalb mache ich bei http://www.colearning.org mit. Könntest du dir vorstellen, das so eine Gemeinschaft auch für dich wertvoll ist? Dann schau gerne mal vorbei 🙂

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  3. Der Grundgute weiss dem (wir) die Verleumdung, in Schulung, Bildung und Erziehung. Das missbrauchte Kind in uns muss als Erwachsener lernen, auf eigenen Füssen stehend, für seine Selbsterziehung und Bildung zu sorgen.

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