Warum wir jetzt den Respekt der Alten für die Jungen brauchen

Unsere Welt würde heute schon völlig anders aussehen, besser, menschlicher, wenn junge Menschen gleichwertige Partner*innen in ihrer Bildungsarbeit wären. Wenn Bildung und Bildungssysteme ihre Aufgabe nicht mehr darin sehen würden, unsere toxische Kultur zu reproduzieren und stattdessen von der Zukunft her zu denken, zu planen, zu handeln und zu ermöglichen.

Titelfoto: Markus Spiske auf pexels

Nur das eigene Weltbild bestätigt zu bekommen ist die beste Voraussetzung dafür, um von der Evolution weggespart zu werden – und das passiert gerade: mit festem Griff und unübersehbar arbeiten wir an unserer Abschaffung. Exponentiell, wuchtig, kulturell, ökonomisch, sozial, ökologisch. Wir kommen nicht hinterher mit unserer Anpassung an die selbst erschaffene, hoch komplexe Welt, an die multiplen Realitäten, in denen Gedachtes, Gefühltes und Kommuniziertes nicht länger als für die Dauer eines Flügelschlages gelten. In der alle zugleich recht haben und falsch liegen.

Gleichzeitig tut meine eigene Generation, ein nach wie vor unüberschaubar grosser Haufen an patriarchalen, paternalistischen und heteronormativen Männern und Männerbünden, durchaus unterstützt von ihren Frauen und anderen weiblichen Fans, Tag für Tag nichts anderes, als mit Klauen und Zähnen ihr Welt- und Menschenbild zu verteidigen in all den Entscheidungen, die sie fällen und in den Entscheidungen, die sie nicht fällen. Sie versuchen mit Hilfe der von ihnen geschaffenen und ererbten Systeme ihren Kosmos aufrecht zu erhalten.

Was sich nach und seit der letzten Präsidentenwahl in den USA abspielt, eignet sich zum Urbild einer neuen Gesellschaftsordnung: Der spätestens seither endlose Aufmarsch von Anhänger*innen irgendeines abgewählten Irgendwems – kopiert in andere Länder und Wahlen und Übernahmen. Die Weigerung, Wirklichkeiten, Realitäten, Tatsachen und Zusammenhänge anzuerkennen – das alles hat hohen Symbolwert: Es ist die Spitze eines Eisbergs, ein Aufbäumen und Aufbegehren gegen den Untergang einer Welt, gegen das nie eingehaltene Versprechen unendlichen Wachstums, Wohlstands, Konsums.

Diesseits des Teichs gibt es diese Veitstänze auch – obwohl es eigentlich wurscht ist, wo die Performer ihren Wohnsitz haben, denn das Phänomen ist digitalglobal – auch wenn die Rezeptur ein Kind der Industrienationen ist. Im Team sind: allerlei Querdenker*innen, sich anschmiegende Rechts- und Reichsbürger*innen, Trans- und Homophobe, Rassist*innen, Wissenschaftsfeind*innen, Misogyne, Heterosexist*innen, Klimakastastrophenleugner*innen, Relativierer*innen und solche, die es übertreiben (womit auch immer, also auch mit dem Relativieren), die eiskalten und die lauwarmen Neoliberalisten – und die sich wohlfeil artikulierenden Beobachter*innen. Wir bilden zusammen einen wabernden Sauerteig, der sich durch die sozialen Netzwerke schiebt.

Verharmlosend kommentiert und begleitet von Politiker*innen, Minister*innen, Gerichten und Polizeieinsätzen führen wir uns beinahe täglich vor Augen, wie macht- und wirkungslos unsere politische Kultur geworden ist, und wie wenig wir auf die ideologische Unabhängigkeit und Klarsicht jener hoffen dürfen, die einst installiert wurden, um unser Verständnis und unsere Praxis von Rechtstaatlichkeit zu gewährleisten.

Die Reproduktion der toxischen Kultur

Je mehr wir diese nie da gewesenen Entwicklungen und Erscheinungen auf der sozialen, auf der ökologischen und auf der ökonomischen Ebene in all ihren Wechselwirkungen mit Hilfe der alten Muster und Strategien und Abläufe anpacken, umso mehr sind wir zum Scheitern verurteil. Wir reiten uns gegenseitig immer tiefer in die Scheisse.

Das Schulsystem ist ein anschauliches Beispiel dafür, was ich damit meine: nicht erst seit der Corona-Pandemie, aber jetzt in zunehmend absurdem Ausmass erweist es sich als komplett ungeeignet, Lösungen zu entwickeln und umzusetzen für die Lern-, Lebens- und Arbeitssituationen, für die kulturellen Bedingungen, in denen wir leben: ökologischer, ökonomischer und sozialer Art. Schule vernetzt sich nicht, Schule öffnet sich nicht in Richtung Gesellschaft und Ökonomie, Schule digitalisiert sich nicht (sie kauft höchstens Technologie ein, wenn sie die Kohle hat), Schule entwickelt keine neuen Formen der inter- und transdisziplinären Kommunikation, sie tut nichts dergleichen. Sie hat den Anschluss und die Glaubwürdigkeit längst verloren. Es gibt sie nur noch, weil wir nicht wissen, wohin mit ihr – und mit all den Lehrer*innen.

Wir nehmen die nächste Generation in Geiselhaft für unsere eigene ZukunftsUNfähigkeit, die wir in allen relevanten Bereichen täglich unter Beweis stellen: Klima, Politik, Bildung, Ökonomie, Lebensgrundlagen.

Wir verfügen über abundante Mengen an Information, und kriegen keine Lösungen hin für auch nur eines unserer Überlebensprobleme. Stattdessen tut Schule nichts anderes als Information zu reproduzieren: Stoff büffeln, Prüfen statt Lernen, Bulimiepädagogik und pädagogischer Aberglaube, Jurassic Park, Selektion, Lernmüdigkeit evozieren.

Dieser Aberglaube sitzt noch immer ganz tief in den Köpfen der Lehrenden, der Bildungspolitiker*innen, der Schulleiter*innen und der Didaktiker*innen und nicht zuletzt in den Köpfen von Eltern, und er wird wohl nie verschwinden, die Erbsünde aller Beschulung: dass das Wissen in den Kopf gepresst werden muss, koste es, was es wolle. Sie alle halten an dieser Ideologie fest, wie der Gläubige an seinem Gott („Uns hat’s auch nicht geschadet“ bzw. „Das Hirn ist ein Muskel“).

Dieser absurde Umgang mit Wissen hat uns dorthin geführt, wo wir heute sind: in die lähmende Überinformiertheit.

Da hilft auch kein Lehrplan21 und dieses Gerede über Kompetenz. Letztere scheitert im Keim am systemisch gedeckten Starrsinn. Das Corpus Paedagogicum hat immer noch nicht verstanden (!), wie Lernen funktioniert – vielleicht, weil sie es in ihrer eigenen Ausbildung zum Lehrer und zur Lehrerin gepaukt und auswendig gelernt und wieder vergessen haben, und vor allem: weil sie es nie selber erfahren haben, denn sonst hätten sie eine Vorstellung davon, wie viel Potenzial und Lebenszeit junger Menschen sie mit diesem Beschulungszirkus verschleudern. Und wenn diese jungen Menschen dann auf ihre Art protestieren, weil sie endlich lernen wollen statt unterrichtet zu werden, setzt sich der Sanktionsapparat in Bewegung: Von Strafe über Medikation bis hin zu spezieller Betreuung.

Und Jahre später kommen die Agil Coaches und Scrum Masters, die Holokraten und Soziokraten, und müssen Schicht für Schicht abtragen, müssen all das mühsam ent-lernen helfen, was das Bildungssystem an Irrtümern und Haltungen aufgeschichtet hat: Hierarchiegläubige Mitarbeitende, die keinen Schritt ohne Anweisung machen, um nicht den Unbill von Vorgesetzten auf sich zu ziehen, die im Übrigen ja dafür da sind um uns zu sagen, wo es wie langgeht und was wir zu liefern haben – wie seinerzeit in der Schule auch.

Unter anderem Bruno Latour wird der Satz untergeschoben, es sei leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Letzterer kann in diesem Satz problemlos durch „Schule“ ersetzt werden.

Das Stockholm-Syndrom

Bis heute kommen Lehrer*innen und Dozierende um die Ecke, die als Begründung für das, was sie tun, die Lernenden anführen; gipfelnd in der Phrase: „Die wollen das ja. Die sind dankbar dafür, dass wir ihnen sagen, wo es wie lang geht.“ Solche argumentativen Nebelkerzen zeigen mir überdeutlich, dass es höchste Zeit ist, den Taschenspielertrick zu entlarven: die Identifizierung der Opfer mit den Tätern. Es geht jetzt darum, die Lernenden aus dieser Geiselhaft entlassen. Wir sollten aufhören, sie weiterhin als Kronzeugen für die Richtigkeit dieses Irrsinns zu dressieren.

Wenn wir junge Menschen nicht nur als Beschulungsmasse missbrauchen und nicht bloss über ihre Köpfe hinweg ihre Biografien und Zukünfte bestimmen würden, dann würde es uns allen grad viel besser gehen. Wir brauchen den radikalen Generationenwechsel, und haben doch überall nur das Stockholm-Syndrom: Die in Geiselhaft genommene nächste Generation entwickelt nach wie vor mehrheitlich Empathie, Mitgefühl und Verständnis für die, die ihnen die Zukunft nehmen.

Wir haben ja nicht nur keine zukunftsfähigen und zukunftsorientierten Bildungskonzepte. Corona hat offenbart: Unsere Schule ist ein System, das sich selbst überlebt hat, und das jungen Menschen keinerlei Zukunftsperspektiven anbietet, die den Namen verdienen – auch nicht was die Zukunft ihrer Gesellschaften, und was die Zukunft der Arbeitsmärkte und der Arbeitsformate betrifft.

Diese Welt würde heute schon völlig anders aussehen, besser, menschlicher, wenn junge Menschen gleichwertige Partner*innen in ihrer Bildungsarbeit wären. Wenn Bildung und Bildungssysteme ihre Aufgabe nicht mehr darin sehen würden, unsere toxische Kultur zu reproduzieren und stattdessen von der Zukunft her zu denken, zu planen, zu handeln und zu ermöglichen.

Stattdessen werden junge Menschen so früh und so lange wie möglich in Klassenzimmer gesteckt, die den Mief des vergangenen Jahrhunderts atmen, und in denen

  • über das Framing, die Rollen und Funktionen, die Struktur, die Hierarchie,
  • über ein total veraltetes Leistungs- und Konkurrenzdenken, über die Inhalte, die Abläufe,
  • über das in seiner Wurzel unfaire und unmenschliche Benoten,
  • über das Instruieren und Gleichschalten

das Mindset einer Kultur und Gesellschaft reproduziert wird, die uns an den Abgrund geführt haben, an dem wir gerade stehen.

Ich halte an meiner Vision fest

Doch bis heute ist und bleibt das meine Vision: Dass es die Alten endlich schaffen, den Reflex bei sich auszuschalten, junge Menschen bei jeder Gelegenheit zu belehren und mit ihrem vermeintlichen Wissen und ihrer sogenannten Weisheit zu versorgen.

Dass die Alten stattdessen eine aufrichtige Ehrfurcht entwickeln vor jungen Menschen, die sich anschicken, dieser Welt eine Zukunft zu ermöglichen. Dass die Alten es als eine Ehre empfinden und ausdrücken, wenn ein junger Mensch ihre Nähe sucht, um mit sich selbst weiter zu kommen.

Ich halte noch immer an der Möglichkeit einer Welt fest, in der die Alten einen tiefen Respekt entwickeln vor den Jungen und ihnen auf diesem Weg zeigen, wie wertvoll sie sind für die Zukunft dieser Welt. Respekt und Ehrfurcht vor denen, die der libanesisch-amerikanische Philosoph Kahlil Gibran „Die Söhne und die Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber“ nennt.

Ich bin davon überzeugt, dass nur auf diesem Weg eine Kultur der Menschlichkeit in unsere Welt kommt. Alles andere funktioniert nämlich nicht nur nicht – es treibt uns offensichtlich immer schneller und zielsicher in den Abgrund.

Den Führungsanspruch in Sachen Zukunft hat meine Generation allerdings verspielt.

Autor: Christoph Schmitt, Bildungsdesigner, Coach & Supervisor ZFH

Bildungsaktivist, Bildungsdesigner, Ressourcenklempner, Ethiker, Rituals Expert. Ich unterstütze Menschen und Organisationen beim "Digital Turn" - systemisch & lösungsfokussiert. Ich coache Menschen in ihren Entwicklungsphasen und begleite in einschneidenden Lebensmomenten durch die Gestaltung von Ritualen.

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