Warum es keinen Lehrermangel gibt

Die Arbeit der Lehrenden ist das Lehren, und das bedeutet: Unterricht vorbereiten und durchführen. Anwesenheit kontrollieren und Verhalten sanktionieren. Prüfungen vorbereiten und durchführen. Sie korrigieren. Noten- und Zeugniskonferenzen vorbereiten und durchführen. Zeugnisse ausstellen. Da capo. So wurde es ihnen gelehrt.

Aus einer der unzähligen auf linkedIn ausgeschriebenen Stellen für Lehrpersonen. Die Aufzählung variiert in der großen Mehrheit praktisch nicht bis unwesentlich.

Auch wurde ihnen gelehrt, dass Lernen aus Lehren folgt. Deshalb können und dürfen sie nicht aufhören zu lehren – denn sonst wird nicht mehr (richtig, ausreichend, gut, befriedigend, sehr gut) gelernt.

Lernen wird an Lehren gekoppelt. Pädagogische Hochschulen und Publikationen sprechen und schreiben zwar bis heute hin und wieder vom „informellen Lernen“ – Unterschiede zwischen beiden werden in der Ausbildung zum Lehrberuf jeweils gelehrt und geprüft: „Zählen Sie auf, führen Sie Beispiele an“ –, doch formelles, qualifizierbares Lernen, so sagen Lehrende, ist an Lehren gekoppelt. Es wird durch Lehren qualifiziert.

Lernen ist weder formell noch informell

Lernen hingegen macht diesen Unterschied gar nicht. Nie und nirgends. Vom Lernen aus gesehen ist die Unterscheidung zwischen formellem und informellem Lernen sinnlos. Sie sagt aus der Perspektive des Lernens und damit aus der der Lernenden, also aus der Sicht von uns allen, nichts aus, weil das Lernen in beiden Fällen dasselbe ist.

Im Fall des „formellen Lernens“ kommt einfach „Lehren“ hinzu – ein Phänomen, mit dem jede und jeder von uns dann anders umgehen lernt.

Ob jemand mehr oder weniger, besser oder schlechter lernt, wenn gelehrt wird oder wenn nicht, oder wenn so oder anders gelehrt wird – das hängt nicht vom Lehren ab und auch nicht von der Lehrperson, sondern vom Lernenden und vom Lernen.

Und es ist auch nicht so, dass formelles Lernen auf „Käfige“ beschränkt ist und informelles Lernen nur „in Freiheit“ passiert, denn es ist in beiden Fällen dasselbe Lernen – wenngleich Lernen in Käfigen zu anderen (Käfig-)Haltungen führt als Lernen in freier Entfaltung.

Es ist auch nicht so, dass mir oder dir im Falle des formellen Lernens von Lehrenden, oder von irgendjemand etwas beigebracht würde, was wir uns im Falle des informellen Lernens selber beibringen würden, denn „Lernen“ bedeutet in erster Linie und im Kern:

Niemand kann mir oder dem Kevin oder Laura etwas beibringen – denn die können das nur selbst, egal ob jemand lehrt.

Die begeistert-begeisternde Lehrperson, von der immer wieder erzählt wird, dass und wie sie die Schulzeit interessant gemacht hat, hat uns dadurch nicht etwas beigebracht – und vielleicht war sie deshalb interessant, weil sie es gar nicht erst versucht hat. Wer weiss. Wir haben in ihrer Gegenwart etwas gelernt – doch was, das ging auf unsere Kappe. Mein Sitznachbar fand den Herrn Müller übrigens gar nicht so spannend wie ich. Er fand vielmehr: So ein Schwätzer.

Das Lernen ist immer das Lernen. Ob es in Klassenzimmern, Hör- und Lesesälen, Chatrooms, mit oder ohne VR-Brille oder am See stattfindet. Es ist als Lernen selbstbestimmt, selbstverantwortet, selbstorganisiert, selbstgesteuert und selbstreflektiert.

Fünf Gründe, warum Lernen kein Lehren braucht

(I) Eine Lehrperson kann mein Lernen nicht steuern, nur „ins Schlepptau nehmen“ – und es mir dadurch schwerer machen, selber zu steuern. Was ich dann da hinten lerne, entzieht sich allerdings dem Einfluss der Lehrperson, denn Lernen ist immer selbstgesteuert – auch im Schlepptau. Was ich dann vor allem lerne: im Schlepptau weiterhin selber zu steuern und nicht zu ersaufen. Das mache ich selbstredend selbstgesteuert (hier ein Blog Post dazu).

(II) LehrerInnen können mir auch nicht – durch welche didaktische Struktur auch immer – „mehr oder weniger Verantwortung“ für mein Lernen geben, weil die immer schon bei mir liegt. Anders als juristische Verantwortung kann sie beim Lernen nicht delegiert und damit auch nicht rückdelegiert werden. Lehrende verwechseln da etwas, wenn sie davon reden, dass sie „den Lernenden Verantwortung für deren Lernen geben“. Was Lehrende damit tatsächlich tun ist:

(III) Sie delegieren Teile ihrer Lehr-Verantwortung an Lernende und nennen das dann „selbstorganisiertes Lernen“. Doch was auch immer eine Lehrperson organisiert: Es ist nie mein Lernen, immer nur ihr Lehren: ihre Arbeit, ihren Unterricht.

(IV) Was auch immer eine lehrende Person reflektiert, wenn sie meine Prüfung bewertet: es ist keine Reflexion meines Lernens, denn das kann nur ich als (Obacht Buzzword) sein „Owner“. Und so gut wie immer reflektiere ich in und nach einer Prüfung ja gar nicht auf mein Lernen sondern darauf, wie gut ich Gelehrtes wiedergegeben habe, und wie ich das allenfalls noch besser wiedergeben könnte. Das ist etwas anderes als „mein Lernen reflektieren“.

Eine Lehrperson wiederum kann, wenn sie es kann, die Auswirkungen ihres Lehrens auf mich, die Klasse, auf die Prozesse in der Klasse reflektieren, und diese Reflexion fällt umso reichhaltiger aus, je mehr das eine wirklich gemeinsame Reflexionsarbeit ist – von Lehrenden und Lernenden auf ihre Wahrnehmungen. Das wäre mal eine echt neue Art zusammen zu lernen. Doch wie auch immer: mein Lernen reflektiert eine Lehrperson damit nicht. Höchstens ihres.

(V) Und zuletzt der vielleicht hartnäckigste Irrtum von allen: dass Lehrende Kontrolle hätten über mein Lernen: Lehrende können mein Lernen gar nicht kontrollieren. Auch nicht dessen Ergebnisse – u.a. deshalb, weil Lernen ein Prozess ist, und Prozesse haben nicht wirklich Ergebnisse. Prüfungen haben Ergebnisse oder Operationen. Prozesse haben höchstens diese und jene Verläufe. Ergebnisse haben Prozesse erst, wenn sie irgendwann aufhören, und Lernen hört ja erst auf, wenn ich tot bin. Dann wird eine Lernkontrolle wiederum recht anspruchsvoll.

Was Lehrende kontrollieren können, ist, wenn sie es können, wie Lernende Gelehrtes nach Massgabe Lehrender wiedergeben. Entweder exakt oder nach Massgabe Lehrender in variierten Formen.

Dafür ist KI jedoch mindestens so gut geeignet. Gerade dafür.

Sascha Lobo im Interview mit dem Tagesanzeiger am 17.7.2023

Die aktuell grösste Gefahr der Beschulungskultur

Die grösste Gefahr, die das traditionelle Beschulungssystem in erster Linie für lernende Menschen darstellt – und in zweiter Linie für unsere Gesellschaft, die dringend Menschen braucht, die sie gestalten, und für Unternehmen, die dringend Arbeitskräfte suchen, liegt hier:

Wir lernen in der Schule systematisch nicht, die Qualität und Brauchbarkeit all jener Informationen zu beurteilen, einzuschätzen und zu überprüfen, mit denen sie uns zuballert – und wir lernen stattdessen aktiv all das, was uns Schule als „Wissen“ präsentiert, zu akzeptieren, runterzuschlucken und korrekt (kommt von korrigieren) wiederzugeben.

Diese Praxis bleibt unhinterfragt.

Dadurch lernen wir zum einen nicht die wichtigste Kompetenz des Informationzeitalters: kritisches Erforschen und Beurteilen von Information, und zum anderen lernen wir, alles hinzunehmen, was uns als Wissen vor den Latz geknallt wird. Die Ergebnisse dieser Praxis sehen wir täglich auf Twitter, Telegram – und zunehmend auf linkedIn.

Wir entwickeln in der Schule ein Verhältnis zu Information, das uns zeitlebens die Beziehung zu Wissen verbaut.

(Und natürlich sagen mir Lehrer*innen dann empört: „Selbstverständlich lernen die bei uns kritisches Denken!“ Und ich sage: „Nein, tun sie nicht. Denn da ihr das – wie alles andere auch – benotet und anderweitig bewertet, ist die Grundfunktion Kritischen Denkens permanent ausser Kraft gesetzt, wie bei einer Lunge unter Wasser.“)

Ich kann es drehen und wenden, wie ich will: Es gibt vom Lernen aus gesehen keinen guten Grund, am Lehren festhalten. Denn Lernen, und damit das Entwickeln von Wissen und Kompetenz, benötigt kein Lehren – weshalb wir, wenn es wirklich ums Lernen geht, gar keinen Lehrermangel haben. Klar, aus der Sicht einer Schule, die junge Menschen mit Unterricht zu versorgen hat, fehlen eine Menge und immer mehr Unterrichtsversorgende.

Aber ums Lernen geht es da nicht. Es geht ums Lehren.

Deshalb hier nochmal ein Einblick in die Erfahrungswelt Lernender, die keine Lehrenden haben:

Oder gerne auch nochmal André Stern:

Dass wir nicht zur Schule gingen, bedeutet nicht, dass wir ohne Regeln gelebt hätten. Ich weiß nicht, warum viele glauben, dass ein Leben in Freiheit ein Leben ohne Regeln und Strukturen bedeutet.

Quelle

(Titelfoto des Blog Posts: KI generiert via MS bing: „Befreites Lernen in Gemeinschaft, Paul Klee“)