Was ich als Kind werden wollte?

Ein geschätzter Kollege und Freund hat mir zum Jahreswechsel ein selbst gestaltetes Kartenset mit Fragen geschenkt. Die haben mich unmittelbar angesprochen. Deshalb habe ich beschlossen, mich intensiv mit jeder einzelnen auseinander zu setzen und die Gedanken, die dabei entstehen, in Blogbeiträgen festzuhalten. Heute möchte ich die erste Frage mit euch teilen:

Was wolltest du als Kind werden?

Was wollte ich als Kind werden? Auskunft darüber kann heute nur der erwachsen gewordene Mensch geben, der ich jetzt gerade bin. Ich heute. Und um herauszufinden, was ich als Kind tatsächlich werden wollte, müsste ich zurück, was nicht geht. Was hingegen möglich ist: eine emotionale Reise antreten. Mich dem Risiko aussetzen, bestimmte Emotionen, die tief in meinem Gehirn gespeichert sind, zu aktivieren, um so einen Einblick zu erhalten in meine eigene, kindliche Welt. Es wäre ein Tauchgang in die Tiefe, in andere Druckverhältnisse (!), in eine mir unter Umständen fremde, fremd gewordene Welt um herauszufinden, was damals wirklich wichtig war in meinem jungen Leben.

Ob ich dann wirklich in meiner Kindheit ankomme, wage ich nach wie vor zu bezweifeln, oder um es mit Martin Walser zu formulieren:

Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Allerdings ist man dem näher als anderen. Obwohl es die Vergangenheit, als sie Gegenwart war, nicht gegeben hat, drängt sie sich jetzt auf, als habe es sie so gegeben, wie sie sich jetzt aufdrängt. Aber solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Als das war, von dem wir jetzt sagen, dass es gewesen sei, haben wir nicht gewusst, dass es ist. Jetzt sagen wir, dass es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wussten, was wir jetzt sagen.

Martin Walser, Ein springender Brunnen

Diese Worte verdeutlichen, dass unsere Wahrnehmung der Vergangenheit immer von der Gegenwart gefärbt wird. Was wir erinnern, ist nicht unbedingt das, was damals war, sondern das, was unser heutiges Selbst daraus macht.

Dank meiner Ausbildung als Coach und meiner Erfahrungen in Therapie habe ich verstanden, dass der einzig zuverlässige Zugang zur Kindheit die Emotionen sind. Sie spiegeln die Prägungen wider, die uns damals geformt haben.

Diese Prägungen lassen sich in zwei Grundmuster einteilen: Annäherung oder Vermeidung, Suchen oder Meiden. Wo sich ein Kind sicher und geborgen fühlt, sucht es Nähe. Wo es sich bedroht fühlt, flüchtet es oder wehrt sich oder geht in den Kampf.

In extremen Fällen kann ein Kind sogar so weit gehen, sich innerlich von seinem eigenen Körper zu trennen, um unerträgliche Gefühle nicht mehr spüren zu müssen. Wenn wir als Erwachsene in Situationen geraten, die früheren Flucht- oder Kampfreaktionen ähneln, werden diese Mechanismen reaktiviert – oft schneller, als unser Verstand eingreifen kann.

Wenn die Gegenwart ein Tor zur Vergangenheit öffnet

Angst-, Kampf- oder Fluchtreaktionen, die mich heute triggern, haben ihren Grund also nicht zwangsläufig in der Gegenwart. Es ist nicht zwingend das Fremde oder Befremdende, das mich im Hier und Jetzt in Habacht-Stellung bringt. Vielmehr begegnet mir in einer Situation der Fremdheit oder des Befremdens etwas Vertrautes erneut – als pure Emotion.

Wenn ich also in manchen Situationen Emotionen entwickle, die ich auf den ersten Blick nicht verstehe, kann es daran liegen, dass in dem Moment etwas in der Gegenwart – bildlich gesprochen – ein Tor zur Vergangenheit öffnet, und damit zu dem Kind, um das es in dieser ersten Fragekarte geht.

Mehr zu den neurologischen Abläufen dahinter hier.

Emotionen als Kompass

Was ich als Kind wirklich werden wollte, kann ich heute nicht mit Sicherheit sagen. Aber ich kann erahnen, wonach ich mich damals gesehnt habe und was mir gefehlt hat. Diese Erkenntnis gewinne ich, indem ich meine heutigen emotionalen Reaktionen bewusst wahrnehme und deute.

Die gute Nachricht: Mein heutiges Ich wird nicht durch meine Vergangenheit definiert, sondern durch die Art und Weise, wie ich sie im Licht meiner heutigen Erfahrung(en) interpretiere, denn mit Eva Illouz gesprochen sind wir

weniger Persönlichkeiten mit einem stabilen Set an Charakterzügen und Eigenschaften, als vielmehr Geschöpfe der Situation.

(Eva Illouz, Die Errettung der modernen Seele)

Womöglich gibt es also die Antwort auf die Frage, was ich als Kind werden wollte, gar nicht, denn:

Cees Nooteboom

Was bleibt, ist die Einladung, meine Geschichte weiterzuschreiben – nicht als absolute Wahrheit, sondern als Versuch, mich selbst besser zu verstehen. Ich kann die Geschichte meines kindlichen Selbst so erzählen, dass sie mir als Erwachsenem Orientierung bietet. Ich lerne aus der Vergangenheit, ohne in ihr gefangen zu sein.

Ein wichtiger Schlüssel zum Verstehen sind und bleiben dabei die „emotionalen Informationen“, die mir mein Inneres in Momenten des Befremdens zuspielt.

Mit Hilfe dieser „Informationen“ kann ich eine Geschichte über das Kind schreiben, von dem ich, wenn ich ehrlich bin, nicht weiss, nicht wissen kann, was es werden wollte.

Was ich stattdessen kann: Spüren, was und vor allem wer er sein wollte, wonach er sich sehnte, was er gebraucht hat. Diese Informationen sind mir auch heute zugänglich. Als Emotionen, Bilder und Metaphern.

Ich kann mich erneut und immer wieder in das Labyrinth meiner Erinnerung begeben, weil Emotionen für mich heute ein Kompass sind, nicht einfach ein beängstigend auswegloses, unverständliches, undurchschaubares Gefüge, das keinen Anfang und kein Ende hat – und das keinen Ausweg kennt.

Ich kann zum Historiker in eigener Sache werden, nicht um herauszufinden, wie es mit und in meiner Kindheit „wirklich war“, sondern um Muster der Ausweglosigkeit umzuschreiben.

Danke Ben Zaugg für das Kartenset und die Inspiration!

Das Tetralemma als Weg zu neuen Lösungen

Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd kommt das große Verdienst zu, die Idee und die Praxis des Tetralemma für Coaching, Beratung, Therapie und Organisationsentwicklung zugänglich gemacht zu haben. Mir erscheint diese Methode als eine veritable Alternative des Entscheidens zu all jenen, die wir derzeit in Politik, Ökonomie und Bildung – und im Privatleben benutzen.

Beitragsbild: Gerd Altmann auf Pixabay

Im Moment machen wir in allen kulturellen Bereichen die Erfahrung, dass unsere persönlichen Entscheidungen und die der Funktionsträger*innen in Politik, Bildung und Ökonomie ausschließlich alte Lösungs-Muster reproduzieren. Wir wenden im Privaten wie im Öffentlichen Lösungen an, die keine sind, sondern die unsere Probleme kurz- bis mittelfristig vergrößern.

Das liegt daran, wie wir gelernt haben, Entscheidungen zu treffen: als hätten wir uns jeweils zwischen zwei oder mehreren Optionen für eine (1) zu entscheiden – oder wir hätten eine Sowohl-Als-Auch-Entscheidung zu treffen – im Schweizerischen gerne paraphrasiert mit „Die Münze und das Weggli wollen“. Das Interessante daran: Auch die „Sowohl-Als-Auch“-Option ist in dieser Fassung eine Variante des „Entweder-Oder“, weil sie sich als Alternative positioniert: „Sowohl-Als-Auch“ ist in der Entscheidungs-Gleichung entweder das Entweder – oder das Oder.

Zeichnet eine Entscheidung sich doch dadurch aus, dass sie den einen Weg geht und den anderen nicht. Ich kann nicht mit zwei Menschen gleichzeitig verheiratet sein in unserer Kultur, also entscheide ich mich: entweder für eine Ehe mit einem der beiden – oder gegen eine Ehe. Seinen Ernst bekommt das Entscheiden also durch die Konsequenzen, die es nach sich zieht. An ihnen erkenne ich die Kraft der Entscheidung.

Selbstverständlich kann ich versuchen, mich für „Beides“ zu entscheiden. Dadurch fülle ich meinen Rucksack mit einer Last, die mir die Reise fortan erschwert: Ich nehme beide Optionen mit ins Gepäck, statt mich einer zu entledigen. Im Fall einer Doppelehe mache ich mich darüber hinaus strafbar.

Das Tetralemma

Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd kommt das Verdienst zu, die Idee und die Praxis des Tetralemma für Coaching, Beratung, Therapie und Organisationsentwicklung zugänglich gemacht zu haben. Mir erscheint diese Methode als eine veritable Alternative des Entscheidens zu all jenen, die wir derzeit in Politik, Ökonomie und Bildung – und im Privatleben benutzen.

Eine kleine Einführung findest du hier:

https://youtu.be/L77BJgpfTC


Das Tetralemma übersteigt sowohl das „Entweder-Oder“ als auch das „Sowohl-Als-Auch“. Es erlaubt und ermöglich den Blick über bestehende Optionen und Alternativen des Entscheidens hinaus. Es verlässt den bipolaren Raum, in den wir uns landläufig schicken, wenn wir zu entscheiden haben: Weder die eine noch die andere Option steht zur Entscheidung noch ein Kompromiss. All dies nicht, sondern das Ermöglichen ganz anderer Lösungen – oder noch einen Schritt weiter: Die Veränderung (m)eines Bewusstseins, das ich vom Entsc heiden habe und meiner Beziehung zu dem hinter der Entscheidung liegenden Problem. Beide werden dadurch aufgebrochen, dass ich aus einem „statischen Beurteilungsschema“ erst einmal aussteige.

Dieser Zugang lebt aus der Erfahrung, dass die Zukunft, die wir im Aufspannen eines Entscheidungskorridors einzugrenzen versuchen, durch dieses „Einzäunen“ weder provoziert noch ermöglicht wird. Wir wissen im Gefolge einer Entscheidung weder, wie es uns mit der verworfenen Option ergangen wäre, noch sehen wir voraus, was uns auf dem Weg ereilt, für den wir uns entschieden haben – und erst recht werden wir nicht in Erfahrung bringen, ob das mit unserer Entscheidung für diese Option zu tun hat.

Das Tetralemma eröffnet mir jenseits dieser Überlegungen die Option, eine andere, sich weit öffnende Haltung der Zukunft gegenüber zu entwickeln. Das Tetralemma macht die Erfahrung nutzbar, dass unsere Lebenswege umso lebendiger und kreativer werden, je mehr wir uns von dem lösen, was wir im Konktext einer Entscheidung als Realität konstruieren – und stattdessen den eigenen Wirklichkeitsraum erweitern.