Warum wir ganz schnell eine Schule brauchen, durch die wir datensouverän werden

Wir haben praktisch keine Souveränität im Umgang mit Daten und Information. Wir treiben hoffungslos überfordert und ziellos im Datenmeer. Wir haben diese Souveränität nicht, weil wir die zugrunde liegende Kompetenz nicht entwickeln. Die wiederum haben wir nicht, weil uns das Bewusstsein für ihre Notwendigkeit fehlt. Doch wenn wir als Menschen im Zeitalter von KI und Digitalität einen Unterschied machen wollen zu den Maschinen, dann müssen wir diesen Zustand schnell und radikal ändern.

Das ist ein Aufruf an Schule, Bildung und (Selbst-)Erziehung.

Die drei Standbeine einer Identität in Digitalien: Das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Souveränität im Kontext von Daten und Information und der Wille, eine entsprechende Kompetenz zu entwickeln, diese drei fehlen uns, weil sie in der Schule bis heute nicht gebildet werden.

Der Hauptgrund: Dieses Bewusstsein, die Kompetenz und die Souveränität als solche stehen im Widerspruch zum Kerngeschäft von Schule. Aber von vorne:

Was meint überhaupt „digitalsouverän“? Unter anderem das fundierte Erleben von Kompetenz, von fähig sein und selbstermächtigt – hier im Bereich von Daten und Information: fähig und im Stande, mein Recht auf Selbstbestimmung ausüben zu können. Im vorliegenden Fall:

  • Wie ich wo an benötigte Informationen rankomme
  • wie ich die auf ihre Qualität hin beurteile
  • wie ich aus ihnen kontextrelevantes Wissen mache
  • wie ich mich gegenüber Ansprüchen aus der Datenwelt positioniere und abgrenze
  • wie ich mich und andere schütze.
  • Wie ich also in Digitalien kulturelle Partizpation gestalte, wie ich Kollaboration (also „Zusammenarbeit in geteilter Verantwortung“) im Kontext von Wissensarbeit und Wertschöpfung nutze – und einiges mehr.

In keinem anderen Bereich steht Schule dermassen sich selber im Weg wie hier, wenn es um die Entwicklung dieses Bewusstseins, dieser Kompetenz und dieser Souveränität geht – bei allen Beteiligten und im System selbst.

Wie komme ich zu dieser Einschätzung?

Das Monopol auf Informationslogistik als konsequenter Verhinderer von Datensouveränität

Das Existenz- und Handlungsprinzip von Schule gründet in ihrem Monopol auf Daten und Information – denn es geht bei „Beschulung“ immer um Kontrolle, Bewertung und Benotung.

Das schulische Kerngeschäft besteht in der Steuerung und Kontrolle der Logistik von Daten, von Stoff und Inhalt. Um diese Funktionen ausüben zu können, muss Schule die lückenlose Souveränität über das Informationsgeschäft („Inhalte“) haben. Dieses Monopol ist die Voraussetzung dafür, dass das schulische Prinzip von Benotung und Bewertung funktioniert: Es prüft und bewertet den Umgang mit dem Stoff.

Schule muss also

  • exklusiv darüber bestimmen, welche Inhalte auf welchen Wegen, in welchen Mengen und in welcher Form in die Informationslogistik-Prozesse („Wissernsvermittlung“) eingespeist werden und wie diese Informationen verarbeitet werden – sonst fehlen ihr die Kriterien für Benotung.
  • exklusiv entscheiden, über welche Quellen die schulisch relevante Information eingespeist wird, weil sonst die Kontrolle über den Daten- und Informationsfluss nicht möglich ist. Damit würde das Hauptkriterium für die Reliabilität von Noten wegfallen.
  • kontrollieren, wer wann in welcher Form Zugriff hat – über Stoff- und Lehrplan
  • die Mengen vorgeben, die von Lernenden in welchem Fach zu welchem Thema in welcher Zeit auf welche Weise zu bearbeiten sind.

Fallen diese Rahmenbedingungen weg, kann Schule keine Noten mehr geben, die den Kriterien entsprechen, die sich Schule gibt – und andere Kritieren als solche, die wieder an Stoff und Inhalt (Daten und Informationen) gebunden sind, finden bis heute keinen Zugang in den Benotungs- und Bewertungskosmos.

Ohne den exklusiven Rückgriff auf den Stoff, ohne das Recht, über diesen Stoff, seine Herkunft und über seine Rolle im Prozess der Beschulung zu bestimmen, weiss Schule augenblicklich nicht mehr, wozu es sie gibt und was ihr Job ist. Auch wenn sie etwas anderes behauptet.

Wenn sie nicht mehr (exklusiv) Stoff ankarren und abprüfen kann, ist sie keine Schule mehr.

Deshalb muss sie im Habitus der Monopolistin auftreten. Sie muss über den gesamten Kreislauf der schulischen Informationslogistik wachen und die „Letztkontrolle“ über Inhalt und Prozess haben. Sie muss darauf beharren, dass die Kompetenz, die junge Menschen zu entwickeln haben, darin besteht, die Unmengen an Information zu bewältigen, die ihnen vom Schulsystem angeliefert werden, ohne dass sie dabei lernen würden,

souverän über Bedeutung, Menge, Qualität, Herkunft, Quellen, Brauchbarkeit nachzudenken und dafür Kriterien zu entwickeln, die die nächste Prüfung überleben würden – und ohne eine Form der Zusammenarbeit zu entwickeln, ein Netzwerk, das sie beim Aufbau von Daten- und Informations-Kompetenz unterstützen würde.

Warum? Weil die Notwendigkeit für diese Kernkompetenzen von Wissensarbeit und Digital-Souveränität aufgrund des Informations-Monopols der Schule nicht nur nicht gegeben ist, sondern weil der qualifizierte, der souveräne, der selbstbestimmte, der investigative, der kritisch denkende und beurteilende Umgang mit Information inhatlich und formal immer schon durch Schule gemacht und entschieden ist, wenn der Unterricht beginnt.

Das alles ist in Schule immer schon angerichtet – mindestens aber vorgekocht. Mindestens sind die Zutaten, ihre Menge und die Form der Zubereitung immer vorgespurt.

Schülerinnen und Schüler haben Informationen aufzunehmen und wiederzugeben. Darauf allein laufen alle Bewertungsvorgänge, alle Leistungsnachweise hinaus, die sie zu erbringen haben: wie sie mit dem eingespeisten Stoff umgehen.

Dabei obliegt das Geschäft der Bewertung und Benotung, inklusive dessen Reflexion den Repräsentant:innen des Schulsystems, und zwar nach Kriterien, auf die Lernende keinen Einfluss haben, nach Kriterien, die Lernende noch immer über weite Strecken als Willkür erleben.

Was aussen vor bleibt, sind die entscheidenden Fragen:

  • Wie kommen Bewertungskriterien zu Stande in Prozessen der Wissensarbeit – jenseits schulischer Informationslogistik?
  • Warum ist es wichtig, dass wir, die Lernenden, diese Kriterien als wertvolle Aspekte von Wissensarbeit verstehen und selber anwenden können – statt die vorgegebenen Kriterien einfach zu akzeptieren und nachzuvollziehn?
  • Woran erkenne ich als Lernende den Wert von Information in Kontexten der Wissensproduktion – ausser dass ich wissen muss, was ich für eine „gute Note“ brauche?
  • Nach welchen Kriterien gehe ich vor, wenn ich reale lebensweltliche, ökonomische, gesundheitliche, kommunikative Problem zu lösen habe – nicht solche, die künstlich auf didaktischem Weg von Lehrpersonen generiert sind?
  • Wie erkenne ich den Unterschied zwischen diesen beiden Artenb von Kriterien?
  • Welche Informationen brauche ich wann in welcher Form wofür?
  • Wie komme ich dann an sie ran?
  • Wie baue ich mit anderen zusammen daraus brauchbares Wissen?

Ich erinnere mich an den Satz eines Berufsschullehrers, der auf einer Weiterbildungsveranstaltung in der Zentralschweiz, wo es um das Thema Digitalität und Schule ging, meinte:

„Meine Schüler brauchen kein Internet, denn ich bin ihr Internet.“

Als Schülerinnen und Schüler lernen wir bis heute nicht, die Qualität von Information einzuschätzen und zu beurteilen, weil dies von Schule und ihren Repräsentant:innen für den Lern- und Bildungsprozess aller vorgegeben wird. Information wird geliefert wie Pakete, die wir nicht bestellt haben, auf denen aber unser Name steht.

Was zu lernen ist, ist immer eine Frage von Inhalten, von Stoff.

Schule macht also exakt das, was sie selbst „dem Internet“ und „den sozialen Medien“ vorwirft: Ununterbrochenen Beschuss junger Menschen mit Daten („Stoff“) – ohne dabei jenes Bewusstsein und jene Kompetenz zu ermöglichen, die junge Menschen als selbstbestimmte Netzbürger:innen auszeichen würde, und durch die sie sich als digialsouverän wahrnehmen würden.

Schule versteht sich bis heute als der grosse, vor jegliche Wissensarbeit vorgeschaltete Informationsfilter, der jedoch in dem Moment wegfällt, in dem Schule wegfällt. Spätestens dann werden junge Menschen vom Nichtschwimmerbecken direkt ins Datenmeer geworfen, ohne auch nur eine einzige Strategie entwickelt zu haben, mit der sie diese Situation souverän gestalten könnten.

Dabei ist die anschwellende Tendenz einer schulischen Verbotskultur und Verbotspraxis im Umgang mit Smartphone ein Versuch, die eigene Kontrollmacht so lange und so weit wie möglich aufrecht zu halten. Unter dem Vorwand, junge Menschen vor etwas zu schützen, schützt sich Schule vor allem selbst.

Währendessen bleibt der Umgang mit den von Schule (statt „vom Internet“) gelieferten Informationseinheiten und -portionen durch die Schule vorgegeben und kontrolliert: Was auf welche Weise in welcher Menge in welcher Zeit in welcher Form bis wohin und mit welchem Ergebnis von Schülerinnen und Schülern (re-)produziert werden muss oder einfach „abgearbeitet“ – wobei die Kriterien, nach denen abgearbeitet wird, ebenfalls vorgegeben sind inklusive der Kriterien, wie gut oder schlecht diese Kriterien durch die Schülerinnen und Schüler erfüllt wurden.

Es braucht hier in keinem Moment die Kompetenz eines tatsächlich kritischen Denkens und Abwägens, weil die Kriteriologie des Denkens und die Kriterien selbst vorgegeben sind: Wir liefern dir den Stoff, du verarbeitest ihn nach unseren Vorhaben in der vorgebenen Zeit und gibst ihn dann in der von Schule gewünschten Form wieder ab.

Deine Note wiederum sagt nichts anderes aus, als wie „nahe“ du mit deiner Arbeit diesen Kriterien – aus der Sicht der beurteilenden Lehrpersonen –gekommen bist.

Wissensarbeit ist in der Schule, also dort, wo wir sie lernen müssten, ein komplett fremdgesteuerter und fremdbestimmter Prozess. Er verdient den Namen „Wissensarbeit“ nicht, denn alles was mit Informationsbeschaffung, -beurteilung und -management zu tun hat, haben wir während unserer Schulzeit nicht gelernt – inklusive der Dimension der kollaborativen Wissensarbeit. Ausser auf Prüfungen hin.

Und das Problem geht tiefer: Wir verlassen die Schule ohne eine Vorstellung davon zu haben, dass es notwendig und möglich (!) ist, über diese Souveränität im Kontext von Daten und Informationen zu verfügen und dass es möglich ist, diese souveräne Praxis wirksam und erfolgreich zu entwickeln.

Deshalb sehen sich praktisch alle Menschen heute der Informationsflut, der scheinbaren Ununterscheidbarkeit der Qualität von Informationen ausgeliefert, und sich selbst des souveränen Umgangs mit alldem nicht (be)mächtig(t).

Deshalb gibt es ein nahezu epochales Gefühl von Überforderung und Gleichgültigkeit, deshalb gibt es diese hohe Anfälligkeit für Falschinformation und Fake News.

Wir sind weder ausreichend in der Lage, Herkunft und Qualität von Informationen zu beurteilen, noch verfügen wir über die Möglichkeiten, ihren Fluss (Intensität und Menge) zu steuern, denn wir sind in einem Schulsystem aufgewachsen, in dem das alles immer schon vorgegeben war und fremdgesteuert.

Schule muss sich in Digitalien neu erfinden, damit Menschen Daten-Souveränität entwickeln und erfahren

Auf diesem Hintergrund wird deutlich, dass Schule sich in ihren Kernprozessen möglichst rasch neu erfinden muss: Weg von der Informationslogistik, weg vom Fokus auf das Liefern und Kontrollieren und Abarbeiten (und Abfüllen) von Inhalten, hin zum Entwickeln einer individuellen und kollaborativen Souveränität im Umgang mit Information, denn die Kompetenz zum souveränen Umgang mit Information ist heute die Grundkompetenz schlechthin.

Das kann Schule nur leisten, wenn sie den Zweck hinter ihrem traditionellen Design fahren lässt, der darin besteht, Informationslogistik als ein zentrales Instrument für die Organisation von Benotungs-, Beurteilungs- und Bewertungprozessen einzusetzen. Schule funktioniert auch heute noch grundsätzlich so, dass ihre Prüfungen, Noten und Zeugnisse nahezu ausnahmslos zu Stande kommen über die Bewertung der Fähigkeiten von Schülern zur Informationslogistik, zum Umgang mit Stoff.

Schülerinnen und Schüler sind über ihre Schulbiografie hinweg vergleichbar mit Fahrradkurieren, deren Aufgabe darin besteht, Ware in Empfang zu nehmen, sie zu transportieren, und sie so schnell wie möglich abzuliefern. Je mehr Ware („Stoff“) sie in der vorgegebenen Zeit abliefern, umso besser die Note.

Die Ware ist zu Beginn und am Ende dieselbe, bewertet wird allein der Vorgang der Logistik, also der Transport und die Zustellung: Abholen, transportieren, abliefern. Dabei wird jeder Schüler und jede Schülerin diesbezüglich individuell bewertetet. Kollaboration bleibt aussen vor, denn die „Note“ wird immer auf ein Individuum hin gesetzt. Zeugnisse gibt es nur für Einzelpersonen.

Bewertet wird die Zeit, die der einzelne Kurier bzw. die Kurierin für diesen Vorgang benötigt hat. Verspätungen und Verlust auf dem Weg führen zur Abzug von Punkten und Noten. Peer Support ist „Schummeln“.

Eines der ersten und zentralen und wichtigsten Ziele in der Bildungsarbeit muss hingegen sein, dass wir endlich qualifizierte Schnittstellen bauen zwischen Mensch und Maschine, zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, dass wir diese Schnittstellen als Räume und Orte gestalten, an denen sich in Zukunft ganz viel abspielt, was bisher woanders oder noch gar nicht gemacht wurde.

Wir müssen in der Schule Datensouveränität entwickeln. Angefangen bei den Lehrerinnnen und Lehrern. Wir brauchen ein Bewusstsein für die exorbitante Notwendigkeit dieser Souveränität in Digitalien – für ein gelingendes Leben.

Dabei lässt sich sogar an einem der Kernprozesse von Schule ansetzen: beim Test und beim Testen. Dieses Format ist in einer – völlig anderen Qualität – gegenwärtig wichtiger als je zuvor, nicht nur beim Entwickeln von Medikamenten, Software und Raketen, sondern bei jeder Art von Prototyping.

Neue Konzepte, Modelle und Formate von Bildungsarbeit in Schulen, vielleicht auch ganz neue Konzepte von Schule, können kurzfristig in Form des Prototyping entwickelt werden und in regelmässigen Sprints unter Einbezug aller Stakeholder (Lernende, Lehrende, Eltern, Berufsleute) auf ihre Tauglich- und Brauchbarkeit für zeitgemässe Bildungsarbeit hin geprüft werden – von denen, die es konkret betrifft.

Auch Lehrpersonen müssen unbedingt einen anderen Umgang mit Daten und Informationen finden als bisher.

Dadurch liesse sich auch das Expertinnen-Kunden-Verhältnis in der Bildungsarbeit (und damit in der Schule) neu definieren, und zwar unter dem Apekt einer optimalen „User Experience“ dieser Bildungsarbeit. Auch „Expertise“ würden wir dadurch neu definieren und damit die Aufgaben, Rollen und Funktionen all derer, die in Bildungsarbeit involviert sind – nicht zuletzt würden wir den Beitrag der so genannten Expertinnen neu bewerten. Denn wir würden nach und nach realisieren, dass Schülerinnen und Schüler mindestens so sehr Expert:innen für Bildungsprozesse und Lernprozesse sind wie Lehrer oder andere in Bildung, Lernen und Erziehung, involvierte Berufe.

Inklusive Schule vs. integrative Förderung. Versuch einer Klärung

Titelbild: DALL:E

Integrative Förderung steht schweizweit in der Kritik. Am Freitag, den 16. August 2024 erschien in den Schaffhauser Nachrichten ein Artikel zur Thematik, der sich in den Chor der Ablehnung einreiht. Der erste Abschnitt dieses Artikels spiegelt bereits all jene Vorurteile, Verkürzungen und Polemiken, die das Thema Inklusion vor sich hertreiben:

Als Schulentwickler in der Stadt Schaffhausen ist es mir ein Anliegen, mit einer differenzierenden Klärung der Falschaussagen, Verwechslungen und Polemiken zu antworten – unterstützt durch die KI ChatGPT.

Warum es bei der integrativen Förderung nicht um „Störenfriede“ geht

Es ist unangemessen, Menschen, die heilpädagogische Unterstützung benötigen, als „Störenfriede“ zu bezeichnen. Der Begriff „Störenfried“ suggeriert, dass jemand absichtlich Unruhe stiftet oder die Ordnung stört. Diese Zuschreibung verkennt jedoch die Bedürfnisse und Herausforderungen von Menschen, die auf heilpädagogische Unterstützung angewiesen sind.

Verhaltensweisen, die bei Menschen mit heilpädagogischem Förderbedarf auftreten, sind nicht das Resultat bewusster Störung, sondern Ausdruck ihrer Entwicklungsbedürfnisse oder spezifischer psychischer, kognitiver oder emotionaler Herausforderungen. Der Begriff „Störenfried“ stigmatisiert diese Menschen und lenkt den Fokus auf das Verhalten statt auf dessen Ursachen und die notwendige Unterstützung.

Heilpädagogik zielt darauf ab, Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern und ihnen zu ermöglichen, ihr Potenzial zu entfalten. Das erfordert Verständnis, Empathie und eine wertschätzende Haltung gegenüber ihren individuellen Bedürfnissen. Die Verwendung des Begriffs „Störenfried“ ist daher nicht nur unangemessen, sondern trägt auch zur sozialen Ausgrenzung bei und verstärkt Missverständnisse.

Durch diese Rhetorik werden die Kernanliegen von Inklusion torpediert und die Probleme, zu deren Lösung sie eigentlich antritt, werden bewirtschaftet.

Warum der Vergleich zwischen einer Schulklasse und einer Fußballmannschaft irreführend ist

Der Vergleich einer Schulklasse mit einer Fussballmannschaft, in der ein 5.-Liga-Spieler mit einem Nationalspieler aufläuft, ist irreführend. Er basiert auf der Annahme, dass schulische Leistungen oder Verhalten linear messbar und vergleichbar sind wie sportliche Fähigkeiten. Doch diese Analogie verkennt den wesentlichen Unterschied zwischen Schule und Leistungssport.

In der Schule steht nicht der Wettbewerb im Vordergrund, sondern Bildung, Entwicklung und Chancengleichheit. Anders als in einer Fussballmannschaft, in der eine klare Leistungsdifferenz problematisch wäre, ermöglicht die Schule durch differenzierten Unterricht und individuelle Fördermassnahmen allen Kindern, auf ihrem jeweiligen Niveau zu lernen.

Das Bildungssystem ist keine Wettkampfarena, sondern ein Raum des gemeinsamen Lernens.

Der Vergleich mit einer Fussballmannschaft simplifiziert die Situation der schulischen Inklusion grob und verfehlt das eigentliche Ziel: die pädagogische Unterstützung und Förderung aller Kinder. Der Fokus sollte nicht auf vermeintlichen Leistungsunterschieden liegen, sondern auf den Chancen und Vorteilen, die eine inklusive Bildung für alle Beteiligten mit sich bringt.

Eine persönliche Bemerkung

Die Schulforschung u.a. von Prof. Dr. Katharina Maag Merki von der Universität Zürich zeigt, dass das Schweizer Schulsystem durch seine Tendenz zur Separation Schülerinnen und Schülern nicht angemessen fördert. Jugendliche, die das Potenzial für das Gymnasium haben, landen nach wie vor in der Sek C oder in der Realschule (wo es die noch gibt), während andererseits Schüler:innen ins Gymnasium versetzt werden, obwohl sie dort überfordert oder am falschen Platz sind.

Der Vergleich zwischen der ersten und der fünften Fussballliga verdreht also auch hier die Fakten, denn es ist momentan gerade das auf Separation ausgelegte System, welches – in der unangebrachten Bildsprache des Autors – Fünftliga-Spieler in der ersten Liga platziert und umgekehrt.

Auf die Frage, warum hier trotz der überwältigenden Forschungsergebnisse im Schulsystem kaum Entwicklungen greifen, antwortet der Berner Professor und Bildungssoziologe Rolf Becker im Kontext der TREE-Langzeitstudie:

„Es gibt in der Schweiz schlicht kein echtes Interesse daran, die Ungleichheiten aufzuheben“. Hinzu komme, dass Massnahmen oft konterkariert würden. Das bedeutet: Wenn Kinder aus Elternhäusern mit tieferer Bildung explizit gefördert würden, könne es sein, dass Akademikereltern für ihre Kinder einfach noch mehr machten. (Quelle)

Deshalb ist die folgende Unterscheidung auch so wichtig – umso mehr, als nicht nur der Autor des hier reflektierten Artikels sie nicht wirklich macht:

Was ist „integrative Förderung“ und was ist „Inklusion“

  • Integrative Förderung bezieht sich auf Massnahmen innerhalb des bestehenden Schulsystems, um Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu unterstützen. Diese Kinder verbleiben in der Regelklasse, erhalten jedoch punktuelle oder gezielte Unterstützung.
  • Inklusion hingegen ist ein umfassenderes Konzept. Es zielt darauf ab, alle Menschen von Beginn an gleichberechtigt in alle gesellschaftlichen Bereiche einzubeziehen. Im Bildungssystem bedeutet dies, dass das Schulsystem so gestaltet wird, dass alle Kinder unabhängig von ihren individuellen Bedürfnissen am Unterricht teilnehmen können, ohne separat behandelt zu werden.

Der zentrale Unterschied zwischen diesen beiden Modellen besteht darin, dass die inklusive Schule das gesamte System an die Vielfalt der Lernenden anpasst, während die integrative Schule von einem Standardsystem ausgeht, in das Schüler mit besonderen Bedürfnissen integriert werden.

Inklusion basiert auf den Werten Gerechtigkeit, Diversität und Teilhabe. Ausgehend von der UN-BehindertenRechtsKonvention, die 2006 verabschiedet wurde, und die auch in der Schweiz die rechtliche und ethische Basis für die Diskussion über Inklusion in Schulen darstellt, bedeutet Inklusion:

Ein Schulsystem wird transformiert, um Barrieren abzubauen und allen Lernenden gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen.

Die Schul- und Bildungsforschung in der Schweiz legt seit mehreren Jahrzehnten die Schlussfolgerung nahe, dass „separative Beschulung“ zu diesen Barrieren zählt.

Integration wiederum baut solche (Schul-)Barrieren nicht ab. Vielmehr unterstützt sie Lernende durch „integrative Förderung“, damit diese die (Schul-)Barrieren besser überwinden, und am bestehenden Schulsystem teilhaben können.

Durch „integrative Förderung“ wird Schule also weder gerecht noch divers, noch wird sie inklusiv. Sie bleibt, was sie ist und hat zusätzlich integrative Förderung im Angebot.

Ein kurzer Videoausschnitt (37 Sekunden) mit der amerikanischen Forscherin und Autorin Brené Brown zeigt die unterschiedlichen Wertehorizonte hinter den beiden Ansätzen:

Quelle

Warum Inklusion kein „hehres Ideal“ ist

Der im Zeitungsartikel verwendete Ausdruck „hehres Ideal der Inklusion“ suggeriert, dass Inklusion ein unrealistisches oder utopisches Konzept sei. Tatsächlich ist Inklusion jedoch ein Menschenrecht, das in internationalen Abkommen wie der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben ist.

Die Umsetzung von Inklusion ist in vielen Ländern bereits weit fortgeschritten, auch wenn Herausforderungen bestehen. Es ist daher weniger eine Frage des „Scheiterns an der Realität“, sondern vielmehr eine Frage der Anpassung struktureller, personeller und finanzieller Rahmenbedingungen.

Die unscharfe Verwendung von Begriffen wie „Inklusion“ und „integrative Förderung“ führt zu Missverständnissen und emotionalisiert den Diskurs unnötig. Kritik sollte klar und differenziert formuliert werden, um konstruktiv in die Diskussion eingebracht zu werden.

Heterogenität und Diversität als das neue Normal von Lebens- und Lernwelten

Heterogenität und Diversität betreffen nicht nur das Verhalten von Individuen, sondern auch Familiensysteme, Lebenswelten, Berufs- und Arbeitswelten sowie soziale Durchmischung in Wohnvierteln. Das Schulsystem jedoch hält im Hintergrund weiterhin an einem Paradigma von Homogenisierung fest („Nadelöhr“), das nicht mehr den gesellschaftlichen, den ökonomischen und den individuellen Realitäten entspricht – wie immer und immer wieder durch Forschung bestätigt wird.

Der grösste Stolperstein für eine inklusive Schule besteht darin, dass traditionelle Schule davon ausgeht, dass alle Kinder und Jugendlichen in ein bestimmtes Normsystem von Schule integriert werden müssen („integrative Förderung“) und können. Wenn dies aufgrund individueller Eigenschaften oder Verhaltensweisen scheitert, müssten sie als „Störenfriede“ vom regulären System separiert werden.

Das Verhalten von Schüler:innen wird isoliert betrachtet. Die Kontextbedingungen geraten in den Hintergrund. Dabei ist es immer auch der Kontext, der Verhaltensweisen hervorbringt.

Diese Sichtweise verschiebt ein komplexes Problem auf die individuelle Ebene und macht es damit unbearbeitbar. Es wird für alle Beteiligten grösser, wie die im Artikel erwähnte Studie zur Berufszufriedenheit der Lehrpersonen in der Schweiz (Link unten 👇) eindrücklich dokumentiert.

Mit dieser Variante von „Komplexitäts-Reduktion“ wird Schule unseren komplexen Lebenswelten nicht mehr gerecht. Noch vor wenigen Jahrzehnten konnten Schüler:innnen und ihre Heimatsysteme die Anforderungen des linearen und auf Separation fussenden Schulsystems (vermeintlich?) besser bewältigen. Heute fehlen allen Beteiligten dafür die Ressourcen – auch den Lehrpersonen.

Das Schulsystem muss sich an die Lebensrealitäten jener Menschen anpassen, die in Schule involviert sind – nicht umgekehrt. Das ist Anliegen und Ziel von Inklusion.

Hier zur Info der gesamte Artikel:

Die im Artikel erwähnte aber dort nicht zitierte, vom LCH in Auftrag gegebene Studie zur Berufszufriedenheit von Schweizer Lehrpersonen findest du hier. Ein vertiefender Blick in diese Studie lohnt sich sehr, weil sie die Belastungs-Situation von Lehrpersonen differenziert abbildet.

Mehr zur im Artikel erwähnten aber dort nicht zitierten Eugster-Studie findest du hier.

Ohne Lehrpersonen keine Schule

Der demographisch bedingte Fachkräftemangel wird die Schulen besonders hart treffen bis zu Beginn der 30er-Jahre. Die Pensionierungswelle wird in den Schulen in den nächsten Jahren besonders hoch ausfallen, weil hier überdurchschnittlich viele Angehörige der “Boomer-Jahrgänge” beschäftigt sind.

Die Konkurrenz um Arbeitskräfte

Gleichzeitig steht Schule als Arbeitgeberin in einem realen Konkurrenzkampf nicht nur und nicht erst um Arbeitskräfte, sondern zuvor schon auf dem Ausbildungsmarkt: Die Attraktivität des Lehrberufs macht sich ja nicht erst am Arbeitsplatz Schule fest, sondern bereits früher in der Art der Ausbildung.

Es geht also – wie in anderen Branchen auch – nicht einfach darum, “genügend junge Leute” aus diesem immer kleiner werdenden Kuchen für sich zu ergattern. Es geht zuerst um die Frage – wie in allen anderen Bereichen in Gesellschaft und Ökonomie auch:

Welche Berufs-Profile werden in Zukunft im Bildungsbereich z.B. der Volksschule benötigt, und wie kann bereits die Ausbildungsphase so gestaltet werden, dass sie als sinnvoll erlebt wird, und dass sie tatsächlich befähigt für einen Beruf, der den Anforderungen an Bildungsarbeit mit jungen Menschen im zweiten Drittel des 21. Jahrhunderts gerecht wird?

  • Was ist und was tut zeitgemässe Schule in den nächsten zehn bis 20 Jahren?
  • Was brauchen ihre Klient:innen und wie richtet sich Schule deshalb aus?

Erst anhand der Antworten auf solche Fragen lässt sich aufzeigen, welche wie ausgebildete Mitarbeitenden mit welchen Haltungen Schule dafür braucht, und wie sie diese ausbildet.

So kann zumindest von der Anbieterseite her gewährleistet werden, dass die immer weniger werdenden jungen Menschen, die auf den Arbeitsmarkt kommen, sich ein zutreffendes Bild von “Schule als Arbeitsort und Arbeitgeberin“ machen können.

Die Schüler:innen von heute und die Lehrpersonen von morgen

Nicht zu vernachlässigen ist dabei: Die “Lehrpersonen der Zukunft” gehen ja bereits heute zur Schule und werden dort geprägt in ihrem grundsätzlichen Bild und Verständnis von Schule.

Aktuell gibt es Stimmen, die sagen, dass auch die gegenwärtige Schule nicht mehr zeitgemäss sei.

Womöglich brauchen wir also schon heute Massnahmen in der Schulentwicklung, die relativ kurzfristig greifen, um Schule in die Gegenwart zu bringen.

Ansonsten stehen wir weiterhin vor dem Problem, dass alle jungen Menschen in unserer Gesellschaft in einem Schulsystem geprägt werden, das die Grundzüge aus dem 19. und 20. Jahrhundert trägt, wodurch sie dieses Grundverständnis von Schule und Bildung verinnerlichen.

Jene, die sich dann entscheiden, einen Beruf als Lehrperson zu ergreifen, stehen dann vor der Herausforderung, erst einmal diese fest verankerte Prägung durch die eigene Schulzeit als Kind und Jugendliche zu verlernen, statt bereits am eigenen Leib ein Design von Bildungsarbeit erlebt zu haben, das im 21. Jahrhundert angekommen ist.

Es gibt einiges zu tun.

Quelle

(Titelbild: ChatGPT)

Warum es keine „Regelschüler“ gibt

Die Annahme, es gäbe da draussen Regelschüler:innen, für die eine Regelschule den passenden Lernrahmen bildet, ist mittlerweile widerlegt. Dreierlei wissen wir heute:

Erstens

Neurologie und Lernforschung zeigen: Das Design von „Regelschule“ ist für die individuelle Entwicklung junger Menschen kontraindiziert.

Wichtiges Ergebnis der Forschung: Es gibt den und die linearisierte:n Durchschnittslernende:n nicht, von dem Schule bis heute ausgeht, wenn sie Lernende in ein- und dieselbe Beschulungs- und Zeitachse spannt.

Es gibt gar keine Regelschüler:innen.

Menschen sind in ihrer Entwicklung komplett individuell. Kein Mensch lernt wie der oder die andere. Jeder und jede braucht zu jedem Zeitpunkt etwas anderes. Lernen folgt immer individuellen Rhythmen, Zeiten, Pfaden. Die Individualität wird sich immer durchsetzen:

Videoquelle

Dass nach wie vor recht viele Kinder und Jugendliche mit Regelschule klarkommen, sie be- und überstehen (sekundiert vom Diktum etlicher Altvorderen: „Uns hat sie auch nicht geschadet!“), ist nicht gleichbedeutend damit, dass diese Form von Schule und Bildungsarbeit für die Entwicklung junger Menschen besonders geeignet wäre.

Es zeigt nur, dass es nach wie vor ausreichend junge Menschen gibt, die mit diesem System irgendwie klarkommen. Nichts anderes bringen übrigens Noten zum Ausdruck: mit Schule klarkommen – oder nicht.

Zweitens

Es gibt zum Regelschulsystem nicht ausreichend Alternativen, die den Vergleich oder das Bilden von Unterschieden ermöglichen würden, um zu belastbaren Erkenntnissen zu kommen, welche Lernumgebungen, Lernräume und welchen Support Kinder und Jugendliche für ihre Entwicklungsarbeit brauchen.

Und die wenigen tatsächlichen Alternativen, die es bereits gibt, werden nicht wirklich beforscht. Schon gar nicht unabhängig.

Drittens

Bildungsforschung findet selbst jeweils innerhalb des Designs und der Kultur des Bildungssystems statt: nach den Paradigmen, Massstäben und Regeln, die ja gerade zur Disposition stehen müssten, um zu einer tragfähigen Unterschiedsbildung zu kommen.

Das Bildungssystem reproduziert also in seinen Lösungsansätzen sich selbst als das zu lösende Problem.

So kann zum Beispiel Schul- und Bildungsforschung immer nur bis zu dem Punkt kommen, wo sie alternative Formen von Unterricht entwickelt, nicht aber Alternativen zum Format Unterricht. Das gilt auch für alle anderen Säulen von Regelschule (z.B. Fächer, Jahrgangsklassen, Benotung).

Deshalb bleibt Kindern, Jugendlichen und Ihren Familien – und übrigens auch Lehrpersonen – bis heute nichts anderes übrig als ihre Energie und ihre Kompetenz darauf zu verwenden, um mit dem Regelschulsystem klarzukommen. Das zeugt von der Resilienz von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien, nicht vom Regelschulsystem als geeignetem Lern- und Entwicklungsraum.

Ob er das ist und inwiefern, das könnten wir nur herausfinden, indem wir echte Vergleiche anstellen. Doch deren schiere Möglichkeit wird durch das System selbst bisher verhindert.

Über Respekt in Beziehungen der Abhängigkeit

Junge Menschen stehen gegenüber den meisten Erwachsenen, mit denen sie zu tun haben, in einem Verhältnis starker Abhängigkeit. Das macht den Umgang mit Respekt zu einer Herausforderung – für beide Seiten. Wichtig dabei ist: Junge Menschen sind nicht dazu auf der Welt, um das Bedürfnis von Autoritäten nach Respekt zu befriedigen. Dieser Reflex stammt aus einer anderen Zeit – und hat sie überlebt.

Mehr noch: Wenn ich zu jemandem in einem Abhängigkeitsverhältnis stehe, wie das in unserer Kultur bis heute paradigmatisch bei Lehrenden und Lernenden der Fall ist, dann ist es nicht an der Lehrperson Respekt einzufordern. Schon die moralische Intuition sagt mir, dass der Respekt zuerst und vor allem von der Person ausgehen muss, von der ich abhängig bin – damit ich überhaupt eine Haltung des Respekts entwickeln kann. Das wissen wir heute.

Es sind also umgekehrt wir Erwachsene, zu denen Jugendliche praktisch immer in irgendeinem Abhängigkeitsverhältnis stehen, einfach weil sie jung sind, die wir in der Schuld ihnen gegenüber stehen, vor allem beim Thema Respekt. Wenn da jemand in die Vorleistung zu gehen hat, dann die Erwachsenen und nicht die Kinder.

Was Respekt gegenüber jungen Menschen meinen kann

Respekt gegenüber Kindern und Jugendlichen meint dann Wertschätzung, in erster Linie für das noch nicht gehobene Potenzial junger Menschen und unsere Sorge für eine Lebens- und Lernwelt, in der sich dieses Potenzial ungehindert entfalten kann.

Respekt meint dann auch Aufmerksamkeit auf und Achtung vor den Bedarfen und Bedürfnissen, die junge Menschen haben, weil sie jung sind, weil sie, um sich ihrem Alter und ihren Möglichkeiten entsprechend entfalten zu können, entsprechende Umwelten brauchen, die wir ihnen zur Verfügung stellen – aus Respekt vor ihnen.

Respekt meint dann auch ein glaubwürdiges Handeln zum Schutz der Lebensgrundlagen kommender Generationen.

Über das Wesen des Respekts

Dass Schülerinnen und Schüler gegenüber Autoritäten Respekt zeigen müssen, weil diese Autoritäten sind, gehört in eine andere Zeit. Ob es da um Lehrende geht, um andere Repräsentant:innen staatlicher Gewalt, um Geistliche, um Fürsten oder um “ältere Herrschaften”.

Dieser Reflex gehört in die Zeit, in der junge Menschen dazu angehalten wurden, vor so genannten Autoritäten Respekt zu zeigen, damit sie das auch als Erwachsene tun. Es ging darum, eine gesellschaftliche Hierarchie zu gewährleisten.

Heute leben wir in einer Zeit, in der Respekt seinen Wert aus der Gegenseitigkeit und aus der Gleichwertigkeit erhält. Wir respektieren einander aufgrund einer inneren Überzeugung über den Wert des Menschen. Alles andere fällt nicht unter das Phänomen des Respekts.

Dieser Respekt, mit dem wir uns gegenseitig unsere Wertschätzung zeigen, bedarf keiner tieferen Begründung ausser der, dass wir uns als Gesellschaft und Kultur dafür entschieden haben einander zu respektieren in unserer ganzen Vielfalt, Einzigartigkeit, Verwiesenheit, Vorläufigkeit – und je nach weltanschaulichem Kontext auch aufgrund unserer Gottebenbildlichkeit.

Deshalb bringen wir diesen Respekt auch gegenüber jenen auf, die ihn uns gegenüber nicht aufbringen. Das ist eine unserer wichtigsten kulturellen Überzeugungen.

Zu dieser Überzeugung gehört: Wir machen es nicht zur Bedingung für unseren Respekt, den wir anderen gegenüber zeigen, dass die zuerst oder mindestens als Folge unseres respektvollen Handelns selber respektvoll agieren.

DALL-E über Respekt

Wir rechnen Respekt nicht auf. Nicht zuletzt weil wir intuitiv wissen, dass es in das Phänomen des Respekts hineingehört, unseren eigenen nicht vom respektvollen Verhalten anderer abhängig zu machen. Das würde nämlich den Respekt an sich verschwinden lassen.

Zwar habe ich keine Garantie, dass mein respektvolles Handeln dein respektvolles Handeln zur Folge hat, doch wir wissen dass dort, wo respektloses Handeln mit respektlosem Handeln beantwortet wird, der Respekt insgesamt abnimmt.

Zugleich haben wir damit die Ebene der psychologischen Bedürftigkeit in Richtung einer tieferen verlassen. Wir meinen, wenn wir von Respekt sprechen, nicht bloss die Befriedigung eines individuellen Bedürfnisses, von anderen höflich behandelt zu werden – denn dieses Bedürfnis ist heute so vielfältig geworden wie nur möglich: Was respektvoll gemeint ist, kann ohne weiteres als sein Gegenteil empfunden werden; und dann setzt erst recht die Notwendigkeit von Respekt ein.

Beim Respekt geht es durch seine nicht zu vernachlässigende Oberflächenstruktur des Höflichen und Angemessenen hindurch um eine ganz grundsätzliche Qualität menschlichen Miteinanders.

Zu dieser Qualität gehört: Respekt ist nichts, was du aktiv und ausdrücklich von mir erwartest und einforderst, weil es dann nicht mehr um Respekt gehen würde. Um Respekt handelt es sich dann – im Sinne eines kulturellen Fundaments, wenn ich ihn ungeschuldet ausübe und zeige, nicht aufgrund von Anforderungen, Druck oder anderen Zwängen.

Ich respektiere dich nicht, weil ich dazu aufgefordert oder gezwungen werde, sondern weil ich eine tiefe Überzeugung davon in mir trage. Alles andere ist kein Respekt. Alles andere ist Haltung und Handeln aus Angst gegenüber Autorität, aus Eigennutz oder aus Bewunderung, von der wir wissen, dass sie wenig anderes ist als ein moralisches Strohfeuer.

Die durch und durch kulturelle Haltung des Respekts hingegen, die ihren Wert aus der Gegenseitigkeit und Gleichwürdigkeit bezieht, erwartet keine Gegenleistung. Diese Haltung helfe ich allein dadurch entwickeln, dass ich sie einnehme.

Wie der Respekt im Kind entsteht

Wenn mein Gegenüber, erst recht wenn es sich um ein Kind oder um eine Jugendliche handelt, am eigenen Leib durch mich und in der Beziehung mit mir diesen Respekt erfährt, entwickelt er und sie ihn selbst, auch mir gegenüber und gegenüber allen Menschen und der Welt.

Die Fähigkeit, respektvoll zu handeln und die Position oder Haltung eines Menchen einzunehmen, der andere Menschen und deren Lebensweise(n) respektiert, hängt sehr eng mit der Erfahrung des Respektiertseins am eigenen Leib zusammen.

Diese Erfahrung vermag auch eine solche der tiefen Respektlosigkeit überdauern und ermöglicht mir, gerade in diesen Situationen die Haltung des Respekts nicht zu verlieren.

DALL-E über Respekt

Erfahrungen eines Aushilfslehrers

Wie ich das erlebt habe.

Als eine nur für drei Wochen engagierte Stellvertretung im Fach Religionskunde war es mir möglich, In den wenigen Begegnungen mit drei Schulklassen eines Gymnasiums dennoch eine Ahnung davon entwickeln, mit wem ich es da zu tun habe. Wieder einmal habe ich gemerkt, wie erfüllend diese Arbeit für mich ist: Mit jungen Leuten an ihrer Bildungsbiografie zu arbeiten.

Am Ende dieser kurzen Phase habe ich für mich eine Auswertung gemacht: Was nehme ich aus dieser Zeit mit? Was habe ich gelernt? Dieses Mal war es vor allem etwas über meinen Umgang mit Widerstand von Lernenden.

Der und die Lernende: Welche Rolle und Funktion sie haben

Die Lernenden als Persönlichkeiten erleben sich als Empfänger:innen und Ausführende. Ihre Aktivitäten sind darauf beschränkt.

Über die Dinge ins Gespräch und ins Tun zu kommen, die uns tatsächlich beschäftigen, diese Themen und Anliegen nicht nur zu einer didaktisch formulierten Ausgangslage des Lernens zu machen sondern sie als den Raum wertzuschätzen, in dem Lernen sich ereignet, das ins Zentrum zu stellen, mit dem wir uns (!) als Lernende befassen, das uns auch deshalb interessiert, weil es allgegenwärtig ist, nicht zuletzt in der Welt der Sozialen Medien, diese Aspekte sind nicht Teil der Prozesse, die jene Lernenden als Normalfall erleben, mit denen ich während dieser drei Wochen gearbeitet habe.

Das ist mein persönlicher Eindruck.

Eine wie auch immer geartete, tatsächlich partizipative Mitgestaltung der Lernprozesse, die dann auch eine entsprechende Richtung einschlagen, ist hier nicht vorgesehen. Lernen als Beschreiten eines noch gar nicht existierenden Entwicklungspfades ist nicht möglich. Die Pfade sind vorgegeben, ebenso das Tempo, in dem sie zu durchschreiten sind.

Einzelne Lernende aus einer jüngeren Klasse (etwa zwölf Jahre alt) kommen nach diesen drei Wochen unaufgefordert direkt auf mich zu und sagen mir beim Rausgehen, was sie positiv erlebt haben: Interesse an ihnen. „Danke, dass sie mit uns gesprochen haben, dass sie das Gespräch mit uns gesucht und aufgenommen haben. Andere Lehrer machen das nicht.“ Womöglich eine Anekdote. Vielleicht aber auch eine exemplarische Erfahrung.

Was hab ich denn anders gemacht, hab ich mich dann gefragt? Das, was ich immer mache, wenn ich mit Menschen in Bildungs- und Entwicklungsprozessen am Anfang eines Weges stehe: Einen Raum öffnen, in dem die einzelnen Menschen und die Gruppe im Zentrum stehen und auch für sich selber sichtbar werden.

Deshalb geht es für mich in diesen vereinzelten, sympathischen Rückmeldungen auch nicht darum, was andere Lehrende tun oder nicht. Ich realisiere: Diese Jugendlichen erleben einen Unterschied, der für sie einen Unterschied macht. Mit dem könnten wir jetzt weiterarbeiten.

Meine Schlussfolgerung: Es geht eigentlich gar nicht darum, dass ich als Erwachsener, der junge Menschen in ihren Lernprozessen begleitet, einen „interessanten Unterricht“ abliefere. Es geht darum, einen Raum zu öffnen und zu halten, in dem junge Menschen (ebenso wie auch ich) mit ihrer Persönlichkeit, mit ihrem Hier und Jetzt, mit ihren Fragen, Interessen, Sorgen und Problemen, mit ihren Potenzialen willkommen sind und bleiben – und für die Zeit des Lernens auch zuhause.

Welche Ressourcen haben Lernende, um mal „was Neues“ auszuprobieren?

In einer Klasse mit mehrheitlich 16-jährigen Menschen spiegelt sich in meiner ersten Wahrnehmung Frustration und ein Mangel an Energie, der sich hinter der vom System konstruierten Struktur des Unterrichts zu verbergen scheint.

Alles Annahmen. Also frage ich sie – ausgelöst durch eine wahrnehmbare Hilflosigkeit oder Überforderung mit meinem Approach, ob es schwierig für sie sei, ihr Lernen selbst zu organisieren, sobald ihnen niemand sagt, was sie konkret zu tun haben. Dafür erhalte ich eine starke Zustimmung. Doch meine Frage wird nicht als Angriff erlebt oder als Entwertung, sondern eher so: „Du sagst es“.

Das ist dieselbe Klasse, der ich in einem Mentimeter zu Beginn der Stellvertretung drei Fragen stelle:

  • Ist es besser für Sie, wenn wir in dieser Stellvertretung nahtlos weitermachen mit dem, woran Sie gerade arbeiten?
  • Oder möchten Sie ganz was Neues probieren?
  • Oder möchten Sie zuerst einmal wissen, was das wäre?

Die Rückmeldungen: Niemand ist für „weiter so“, 18 von 20 Lernenden klicken auf „ganz neu“, zwei würden gerne wissen, was das wäre.

Als ich versuche auszuloten, welche Ressourcen für unsere zeitlich sehr begrenzte Zusammenarbeit zur Verfügung stehen, schildern sie mir, wie sie durch die fortlaufende Vorbereitung auf Prüfungen absorbiert sind. Als ich nachfrage, ordnen sie ein, wieviel ihnen effektiv übrig bleibt, um ausserhalb der Unterrichtszeit etwas Neues anzupacken. Es handelt sich um 15 bis 20 Minuten – so ihre Einschätzung.

Das Interesse daran, sich auch mal an was Neues ranzuwagen, ist da. Die Ressourcen hingegen nicht. Zu eng ist das Korsett des Schulalltags.

Welche Art von Problemen machen dich derzeit betroffen?

Während unserer Zusammenarbeit gelingt es ihnen mühelos, jene Fragen und Themen zu artikulieren, die sie offenbar im Inneren antreiben, wenn ich sie bitte Probleme zu artikulieren, die sie persönlich betroffen machen oder womöglich sogar betreffen. Folgendes halten sie fest:

  • Die Gestaltung von Beziehung und Sexualität
  • Die Vermüllung des Planeten mit Plastik
  • Opfer werden von Konsum und Trends
  • Die Diskriminierung von Menschen aufgrund religiöser Herkunft
  • Die Ausbeutung menschliche Arbeitskraft zur Herstellung unserer Bekleidung

Als ich dann mit ihnen anfangen möchte, an der Lösung dieser Probleme zu arbeiten und zu fragen, welcher Anteil an diesen Lösung allenfalls aus der Perspektive von Religion zu gewinnen wäre, ist die Phase der Stellvertretung schon wieder vorbei. Was ich als Erfahrung mitnehme: Ihre Bereitschaft und die Fähigkeit, sich auf die Artikulation und auf die Lösung solcher Probleme einzulassen, schlummert dicht unter der Oberfläche.

Das erlebe ich auch in der Zusammenarbeit mit zwölfjährigen Jugendlichen, die sich interessiert auf das enorm komplexe Thema des Antisemitismus einlassen. Mein Angebot, sich nach und nach zu Möglichkeiten durchzuarbeiten, was ich als einzelner Mensch zur Lösung dieser Problematik beitragen kann, nehmen sie an. Die Frage: „Was kann ich tun, wenn ich spüre, das ein Mensch in meinem Umfeld etwas an sich unsichtbar macht, um nicht diskriminiert zu werden?“ – wird für sie in dieser kurzen Zeit relevant.

Auch, so halten sie für möglich, weil sie das auch von sich selber kennen.

Der Widerstand als Störung – und wie ich damit umgehe

Zugleich nehme ich in einer der beiden Klassen dieser Altersstufe einen hartnäckigen Widerstand wahr, der sich einerseits darin äussert, dass die Hälfte der Klasse schriftlich festhält, dass Ihnen nichts fehlen würde, wenn es dieses Fach nicht gäbe. Mein Angebot, diese Problematik mindestens kurzzeitig zu vertiefen, vergrössert den Widerstand, der zwar nicht von der ganzen Klasse ausgeht, aber doch die ganze Klasse lähmt.

Wie gehe ich jetzt damit um als Stellvertretung? Anders als zu der Zeit als ich noch hauptberuflich Lehrer war, komme ich relativ zügig zu dem Ergebnis, dass ich diesen Widerstand akzeptiere. In der Reflexion über diese Entscheidung merke ich, wie wichtig es mir mittlerweile ist, solche Positionen von Lernenden zu respektieren. Eine reguläre Lehrperson kann das unter Umständen nicht, weil sie unter dem Druck steht, Stoff durchzubringen und Prüfungen zu organisieren. Sie ist eingebunden in ein gnadenlos voranschreitendes Schuljahr – und das Fach Religionskunde und seine Präsenz an einem Gymnasium steht zudem unter einem enormen Druck.

Wie ich die Situation wahrnehme und auf sie reagiere

Auch Lernende entscheiden sich nicht selbst. Nicht für ihre Anwesenheit, nicht für das Programm, nicht für das Konzept, nicht für Stoff und Inhalt, nicht für den Takt, nicht für die Formen und Formate des Lernens. Lernende vollziehen nach. Diese Art und dieser Weg mit jungen Menschen Bildungsarbeit zu machen, ist für mich keine Alternative. Ich kann das nicht. Ich habe mich für einen Weg entschieden, der beim Gehen entsteht.

Ein Weg, auf dem ich mich selbst als Lernenden begreife. Das ist für mich die Ausgangslage in jeder Situation, in der ich selber Lernbegleiter bin. Für mich ist es ein zentraler Bestandteil und das wichtigste Anliegen von Lernen, gemeinsam die Themen überhaupt erst einmal zu entwickeln, die uns dann angehen sollen, weil wir darin verwickelt sind. Das ist aus meiner Sicht bereits die ganze Miete. Das Lernen selbst, die Vertiefungsarbeit, das Entstehen und Ausbauen von Kompetenz, all das liegt dann in den Händen jeder und jedes einzelnen Lernenden.

Der weisse Elefant im Raum gehört zum Inventar

Und noch eine wichtige Bemerkung zum Schluss: Es war mir in den Gesprächen und Reflexionen mit den Jugendlichen wichtig, miteinander eine nicht wertende Kommunikation zu praktizieren. Es war mir wichtig, dass in meinen Rückfragen und Hypothesen und Lösungsvorschlägen die abwesende Lehrperson, die ich vertrete, nicht in den Fokus kommt, dass sie unter keinen Umständen Gegenstand von Kritik wird, dass ihre Abwesenheit gar nicht erst zum Thema wird ausser dort, wo es darum geht, dass ich verstehe, wie sie im Normalfall zusammen unterwegs sind.

Das ist uns gelungen. Mit dem Nebeneffekt, dass es permanent einen weissen Elefanten im Raum gab. Auch deshalb hab ich die Klassen eingeladen, mit der regulären Lehrperson darüber in ein Gespräch zu kommen. Denn auf andere Weise geht der Elefant nicht weg.

Und bis dahin, so vermute ich, steht in jedem Klassenzimmer so ein weisser Elefant und wartet darauf, zum Thema zu werden.

Der Graben zwischen alter Schule und digitaler Revolution

Im aktuellen Schulsystem zeigt sich ein immer grösser werdender Konflikt: Die Integration digitaler Technologien in traditionelle Lehrmethoden stösst überall an ihre Grenzen. Wir leben in einer Zeit, in der Information uns nicht mehr tröpfchenweise, sondern in Strömen erreicht, doch unsere Bildungsinstitutionen halten an überholten Konzepten fest. Dieser kurze Blog Post beschreibt, warum das Festhalten an alten didaktisch-pädagogischen Ansätzen in einer digital geprägten Welt zum Scheitern verurteilt ist und plädiert für einen Paradigmenwechsel in der Bildungsarbeit. Statt den digitalen Graben zu überbrücken, ist es Zeit, ihn gemeinsam zuzuschütten. Wir sollten Bildung im digitalen Kulturraum neu definieren – und die Rolle, die jede:r von uns dabei spielt.

In unserem Schulsystem tun sich Abgründe auf: Die alte Welt der Schule und die neue Welt der Digitalität. Wir leben in einer Zeit, in der Information nicht tröpfchenweise, sondern in Strömen auf uns einprasselt. Unsere Schulen jedoch klammern sich an veraltete Konzepte, die mit dieser Flut an Daten nicht mithalten können.

Die Unzulänglichkeit der traditionellen Didaktik

Warum funktioniert die Integration digitaler Tools in die traditionelle Pädagogik nicht? Die Schule versucht, das Digitale in ein überkommenes didaktisches Korsett zu zwängen – ein Ansatz, der zum Scheitern verurteilt ist. Stell dir vor, jemand versucht, mit einem kleinen Eimer Wasser aus dem Meer zu schöpfen, um es an anderer Stelle wieder hineinzugiessen. Diese Aktion ist nicht nur nutzlos, sondern verdeutlicht auch die Absurdität des Versuchs, das Unermessliche zu domestizieren.

Smartphones: Mehr als nur Werkzeuge

Ein Smartphone auf ein Lehrmittel zu reduzieren, wäre so, als würden wir seine Rolle in unserem kulturellen Raum ignorieren. Schulen, die die Nutzung von Smartphones verhindern oder streng kontrollieren wollen, erzeugen paradoxerweise genau die Probleme, die sie zu vermeiden versuchen. Sie zementieren einen Graben, der ohnehin schon tief genug ist.

Das Internet dimmt man nicht

Das Internet ist immer präsent, vollumfänglich und lebendig. Menschen arbeiten, kaufen ein, kommunizieren und bilden sich kontinuierlich im digitalen Raum weiter – alles nach dessen eigenen Regeln. Bildung muss daher als integraler Bestandteil dieser neuen digitalen Kultur verstanden und gestaltet werden.

Bildungsarbeit sorgt ab jetzt für die Entwicklung und Verbreitung entsprechender Kompetenzen – statt den Graben zwischen Lebens- und Arbeitswelt hier und Bildungswelt dort didaktisch-pädagogisch offen zu halten und zu überwachen.

Die Herausforderung annehmen

Wir müssen die Kluft zwischen unserem alten Bildungssystem und der digitalen Realität nicht nur überbrücken, sondern ganz zuschütten. Jeder von uns ist gefragt, täglich eine Schaufel voll Erde beizusteuern. Solange dieser Graben besteht, werden Konflikte und Missverständnisse weiterhin den Bildungsauftrag boykottieren.

Ein Aufruf zum Handeln

Wir stehen vor einer kulturellen Paradoxie: auf der einen Seite die vertraute Welt der Pädagogik, auf der anderen die dynamische Welt der Digitalität. Die Brücken zwischen diesen Welten, die unsere Schulen noch zu bewachen versuchen, veralten zusehends. Es ist an der Zeit, neue Wege zu gehen.

Was können wir tun?

Es geht nicht mehr darum, die alten Brücken zu reparieren oder neue zu bauen, sondern darum, einen neuen Weg zu bahnen. Lasst uns diesen digitalen Kulturraum gemeinsam gestalten und den Graben endgültig zuschütten.

Wie lernen wir uns neu erfinden?

Wir surfen auf einer Welle exponenzieller Veränderung unserer Kultur, die immer steiler wird. Der digitale Kulturraum ist längst Realität. Er ist nicht einer unter mehreren oder eine neue Etage in unserem “Haus der Kulturen”. Er ist das neue Paradigma.

Auch das „Netz“ ist endgültig ein Paradigma geworden für Kommunikation, Interaktion, Politik, Produktion, Konsum, Wertschöpfung, Information. KI tut das Ihrige. Mit ihr sind wir in einer neuen Dimension von Digitalität angekommen.

Lebens- und Arbeitsbedingungen wandeln sich komplett, Arbeit als solche verändert sich grundsätzlich.

Dann der Klimawandel: Er ist die Rechnung, die uns der Planet mehr oder weniger diskret auf den Tisch legt. Je nachdem wo wir leben. Doch die natürlichen Lebensbedingungen definiert er für alle neu.

Kultureller Bruch – nicht Übergang

Wir sind mitten in einem kulturellen Bruch, auch der Zeichen, der Symbole, der Sprache und der Sinnzusammenhänge: „Bedeutung“ bekommt selber eine neue.

Wir stehen in einer Umwertung fundamentaler menschlicher Phänomene wie Beziehung, Arbeit, Gemeinschaft, Sinn, Heimat.´

Ordnung und Cyberspace

Dann die „Ordnung“. Sie verschiebt sich in den Cyberspace. Sie ordnet sich selbst komplett neu. Sie entlässt aus sich eine neue Kriteriologie und ordnet somit auch die physische Welt neu.

Demographie

Die kulturellen Bruchstellen werden durch die demographischen Tatsachen der nächsten Jahre noch scharfkantiger.

Wie und wo lernen wir jetzt, uns noch einmal neu zu erfinden?

Die Gegenwart ist ein grossartiges Angebot, uns neu zu erfinden. Durchgehend. Schule wird uns dabei jedoch nicht mehr helfen können, denn sie ist reine Reproduktion. Schule steht für die Verheutigung des Gestrigen. Weil die Kultur, die Schule hervorgebracht hat, an ihr Ende kommt, geht auch das Konzept und Modell Schule zu Ende.

Was aus den momentanen Suchbewegungen heraus (“Wie es mit uns weitergehen wird”) in das Schulsystem importiert wird, was mann dort zu implementieren versucht, ist ein verzweifelter Akt, das Schulsystem und sein Prinzip der Informationslogistik zu retten. Das wird nicht funktionieren. Wir brauchen etwas anderes, denn:

Wir ertrinken in Information, aber hungern nach Wissen. Wissen ertrinkt in Myriaden von Informationen, deren Herkunft und Absichten uns verwirren. Wissen entsteht langsam, durch Erfahrung, Versuch und Irrtum und durch Interaktion. Echtes Wissen kann man nicht einfach copypasten. Wissen handelt von Zusammenhängen, Erfahrungen, Kompetenzen. Wie Bildung hat es immer etwas mit Begegnung zu tun. Mit Vertrauen. Aber dieses Vertrauen wird in einer digitalen Wirklichkeit zerfressen, in der es um das rasende Schärfen von Aufmerksamkeit und Erregung geht. Auf diese Weise frisst die Wissenskultur sich selbst auf: sie wird überschrieben vom Lärm einer Infodemie, in der die Kontexte des Wissens langsam wegschwimmen und alles, was wir zu wissen glauben, nur noch auf Reiz und Reaktion basiert. Die Erregungskultur hat die Wissenskultur überrollt.

Quelle: zukunftsinstitut.de
Ertrinken
Während Schule sich nach wie vor in ihrem Monopol der Informationslogistik gefällt, ist in Digitalien längst die Sintflut angebrochen. Hier geht’s zum Video.
Eine neue Kultur sucht sich eine neue Bildung

In einem Bruch gibt es keine Übergänge, nur Neuanfänge. Zukunft wird keine wie auch immer geartete, aufgepimpte Kopie dessen sein, was wir bisher machen. Nicht nur in Schule nicht.

Bildung wird in Zukunft nicht mehr in welcher Form von Schule auch immer stattfinden. Schule wird abgelöst – zumindest was Lernen und Bildungsarbeit betrifft.

Als Aufbewahrunganstalt für junge Menschen wird sie womöglich noch eine Weile überleben, denn wir wissen ja bis heute nicht, wohin sonst mit den jungen Leuten. Das ist die eigentliche Farce.

Zum Glück entstehen die Alternativen bereits vielerorts. Die Unterschiede zwischen ihnen und dem Schulsystem sind offensichtlich. Sie sind wahrnehmbar.

Diese entstehenden Alternativen sind keine Varianten. Sie tun nichts mehr von dem was Schule tut, und was sie tun, tun sie aus anderen Gründen und mit anderen Zielen.

Wenn du an einer Entschulung von Lernen und Bildung mitdenken und mitgestalten möchtest, dann findest du hier Inspiration, Impulse und eine Möglichkeit zum Mitmachen:

Schule ist aus und vorbei. Hier weiterlesen.

Woher die Aufmerksamkeitsdefizitstörung unserer Kultur tatsächlich kommt …

Lehrer:innen und Eltern sind entsetzt: Regelmässig geistern Hiobsbotschaften durch die (sozialen) Medien, dass die Aufmerksamkeitsspanne vor allem junger Menschen dramatisch nachgelassen habe. Die Ursache ist längst ausgemacht: Smartphones, soziale Medien, Insta & Co. Wir müssen das Zeug verbieten und junge Leute dazu bringen, dass sie lernen dranzubleiben. Und wo könnten sie das besser lernen als in der Schule? Doch es ist umgekehrt: Nicht erst Smartphone & Co korrumpieren unsere Aufmerksamkeit. Es ist die Schule, die das leistet. Wie das? Einfach weiterlesen. Möglichst aufmerksam 🙂

Die gute Nachricht zuerst: Es gibt keine unaufmerksamen Kinder. Das ist eine pädagogische Verdrehung. Kinder sind – wie alle Menschen – immer aufmerksam. Wo Erwachsene sie als unaufmerksam etikettieren, ist die Aufmerksamkeit des Kindes einfach woanders. Mit grosser Wahrscheinlichkeit dort, wo es wirklich interessant ist – und wo es deshalb was zu lernen gibt. Etwas, das hier und jetzt dran ist. Für das Kind.

„Energy flows where attention goes“ (Milton Erickson) bildet das Prinzip dahinter ab.

Dass es dessen ungeachtet diagnostizierbare Aufmerksamkeitsstörungen bei Menschen jeden Alters gibt und also auch bei Kindern, bleibt hiervon unberührt.

Neurodiversität als faszinierendes Stärken-Portfolio. (Quelle)

Was Schule hingegen ganz grundsätzlich tut: Sie trennt Aufmerksamkeit von (seelischer, mentaler, physischer) Energie, indem sie die Aufmerksamkeit von Kindern und Jugendlichen auf etwas zu lenken sucht, das diese Kinder und Jugendlichen gar nicht interessiert, weil es im Moment für sie kein Thema ist, und weil sie situativ und biografisch ganz woanders sind. Dazu nutzt Schule gut gemeinte, extrinsische Motivationsspritzen: „Schau mal, was für eine hübsche Steinsammlung ich hier habe mein Kind. Magst du dich mal dafür interessieren?“

Es muss nicht immer eine Steinesammlung sein. Der Lehrplan gibt da noch ganz andere Sachen vor und her, auf die Kinder und Jugendliche ihre Aufmerksamkeit hier und jetzt zu richten haben. Alternativlos.

Schule geht immer so vor, dass sie Lernende an ein Thema „anschlussfähig“ macht, das vorgegeben ist. Docken Schülerinnen und Schüler nicht an, haben sie ab sofort ein Problem. Auch wenn Schule behauptet, dass sie (umgekehrt) auch Themen an Lernende anschlussfähig macht, wird eine Aufmerksamkeitsdefizitdiagnose am Ende immer dem Kind ausgestellt, nicht der Schule oder einem bestimmten Thema oder Fach.

Kinder und Jugendliche haben sich hier und jetzt für das Vorgegebene, für das von Lehrpersonen Vor- und Aufbereitete, Vorstrukturierte in der entsprechenden Form und im entsprechenden Zeitrahmen zu interessieren und ihre Aufmerksamkeit daran zu binden.

Ausser Sichtweite bleibt dabei, das all das, was Schule an Stoff anschleppt, zuerst einmal gar nichts mit lernenden Menschen zu tun hat. Um diese natürliche Inkompatibilität für Schule handhabbar zu machen, wurde die Didaktik erfunden.

Doch es gehört zum Phänomen „ein:e Lernende:r sein“ dazu, dass mein Lernen seine Themen immer schon hat. Es gibt kein Lernen ohne Themen, und Lernende sind immer schon in ihren eigenen Themen unterwegs. Diese Themen sind also das Thema von Lernprozessen – und nichts anderes.

Und jetzt wird’s tragisch: Sobald ein Kind zur Schule kommt, darf es (er/sie und alle dazwischen und ausserhalb) sich nicht mehr mit dem beschäftigen und auseinandersetzen, was für sie und ihn dran ist. Er oder sie darf nicht (mehr) so lange dran bleiben, wie etwas seine und ihre Aufmerksamkeit hat und erfordert – und das obwohl wir längst wissen, dass genau so, dass genau auf diese Weise und auf diesem Weg die Fähigkeit in uns tiefe Wurzeln schlägt, aufmerksam zu sein und zu bleiben.

Er und sie und alle dazwischen und ausserhalb dürfen nicht mehr spielen.

Peter Gray über das Spiel(en) als die „Hohe Schule der Aufmerksamkeit“ (Quelle)

Nochmal zur Verdeutlichung: Nur wenn ich als Kind möglichst immer und über meine ganze Kindheit hinweg wirklich an dem dranbleiben kann, was hier und jetzt mein Thema ist, ich also verweilen kann und mich vertiefen, nur dadurch und dann entwickle ich Aufmerksamkeitskompetenz. So entsteht die. Das ist nun wirklich lang und breit wissenschaftlich und erfahrungsweltlich („phänomenologisch“) unter Beweis gestellt.

Doch damit ist bei der Einschulung Schluss.

Wie Schule die Entwicklung von Aufmerksamkeitskompetenz unterbindet

Wenn wir verhindern wollen, dass junge Menschen „von der Pike auf lernen“, aufmerksam zu sein und zu bleiben, dann müssen wir einfach nur früh genug damit anfangen Kinder abzulenken von dem, was ihr Thema ist. Wir müssen ihre Aufmerksamkeit konsequent umlenken. Am besten „spielerisch“.

Keine andere Institution und Organisation in unserer Gesellschaft und Ökonomie war und ist darin besser als Schule. Lange bevor es ein Internet, Smartphones und Soziale Medien gab. Wie gelingt ihr das?

Durch Autorität, durch Verführung, durch das abwechselnd eingesetzte Instrument von Belohnung und Strafe (Beschämung, Demütigung, Androhung von Ausschluss, Entzug von Aufmerksamkeit, Zuneigung oder Wertschätzung) und durch Didaktik.

Wenn Schule mit ihren eigenen Lernthemen und Lerninhalten antanzt,

muss sie diese Themen als hier und jetzt wichtiger, bedeutsamer und wertvoller verkaufen als die Themen, mit denen jeder junge Mensch immer schon und pausenlos unterwegs ist. Jede und jeder woanders, total ungleichzeitig.

Schule trägt also zuerst eine eindeutige Wertigkeit ein. Sie trennt das ursprüngliche Lernen junger Menschen, das seine je und je eigenen Themen hat, weil Lernen so gebaut ist, weil Lernen nie ohne Themen auftaucht, und Themen im Leben junger Menschen nie unabhängig von Lernen auftauchen, Schule trennt also das Lernen Lernender von den in diesem Lernen gegebenen Themen, was neurobiologisch und lernphänomenologisch gar nicht möglich ist – sie tut es aber trotzdem.

Wie das? Indem sie prominent, autoritativ, alternativlos und mit beeindruckendem didaktischem Aufwand ihre Schulthemen platziert.

Dadurch lenkt Schule lernende Menschen pausenlos von sich selber und von ihren Themen ab und setzt die „wirklich wichtigen Themen“. Alternativlos. Sie bringt junge Menschen in einen andauernden inneren Aufmerksamkeits-Konflikt. Sie korrumpiert das „Prinzip Motivation“ und den Zusammenhang von Aufmerksamkeit und Lernenergie („energie flows, where attention goes“), um ihn dann auf künstlich gesteuerte, didaktische Weise wieder herzustellen. Was für ein furchtbares Theater.

Zwei zentrale Lernziele von Schule
  • Lernernde lernen ihre Energie und ihre Aufmerksamkeit von dem wegzubringen und loszulösen, was in ihrem Lernen (und das meint Leben) gerade tatsächlich dran ist.
  • Lernende lernen, diese Aufmerksamkeit und Energie an das zu binden, was Schule ihnen hier und jetzt als wichtig verkauft.

Das ist Konditionierung.

Und es ist der zum Scheitern verurteilte Versuch Lernprozesse zu linearisieren: alle denselben Lehrplanstoff zur selben Zeit. Linearisierung. Das ist zwar aus neurobiologischer Sicht gar nicht möglich, weil jeder Mensch komplett anders lernt. Doch Lehrende brauchen die Aufmerksamkeit aller Lernenden für das, was alle Lernenden ab jetzt zu tun und „zu lernen“ haben, was Kinder und Jugendliche abzuarbeiten haben.

Wer auf diesem linearen Pfad nicht oder nur mit grosser Mühe mitkommt – hat ab jetzt ein Aufmerksamkeitsproblem und muss individuell gefördert werden.

Dieses Vorgehen widerspricht der Erkenntnis, dass sich Aufmerksamkeit als ein personales und individuelles Phänomen immer und ausschliesslich nach dem richtet, was für den individuellen Menschen gerade dran ist – nicht nach dem, was jetzt dran zu sein hat. Dagegen kommt Schule nur durch Manipulation an, die zum Ziel hat, dass Lernende ihre Aufmerksamkeit nur durch einen je und je hohen Energieaufwand mehr oder weniger erfolgreich an etwas zu „binden“ versuchen, was für ihn und sie gar keine Relevanz hat. Im Aussen entsteht dann der Eindruck von Unaufmerksamkeit.

Je weniger einem Kind oder einer Jugendlichen dieser Energiespagat gelingt, umso höher die Wahrscheinlichkeit, mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung diagnostiziert zu werden.

Sich selbst undeutlich sein und bleiben

Schule sorgt also dafür, dass Aufmerksamkeit zu einem permanenten Ablenkungsgeschäft wird.

Ein Kind oder eine Jugendliche lernt in der Schule sich von dem abzulenken, was ihn und sie eigentlich interessiert, was für ihn oder sie biografisch im Moment eigentlich dran ist. Von daher sind Didaktik, Unterricht und Classroom Management immer Ablenkung, und der höchste Anteil von Lernenergie geht für alle Beteiligten dafür drauf, dieses Ablenkungsspiel zu steuern.

Kinder und Jugendliche lernen also in der Schule ganz grundsätzlich und immer zuerst sich selbst abzulenken bzw. zu verabschieden von dem, was für sie wichtig ist. Gelingt ihnen das nur ungenügend, fangen manche von ihnen damit an, die Menschen um sich herum abzulenken.

Spätestens dann diagnostizieren Lehrpersonen eine zunehmende Unaufmerksamkeit. Ablenkung vom Unterrichtsgeschäft durch unaufmerksame Schülerinnen oder Schüler.

Was dieses bizarre Schultheater für eine nachhaltige Entwicklung von „Aufmerksamkeitsspannen“ bedeutet, wird so langsam deutlich. Klar wird auch: das hat so gar nichts mit digitalen Geräten und sozialen Medien zu tun:

Martin Walser (1927 – 2023)

Einer der zentralen, schicksalshaften Lerneffekte für Schülerinnen und Schüler ist jedenfalls der, dass es ihnen, bedingt durch diese ganz offiziellen Ablenkungsversuche des Schulsystems, immer weniger gut gelingt, sich auf das zu konzentrieren, was ihnen wirklich wichtig ist, weil Schule sie pausenlos davon ablenkt und sie dafür belohnt, wie gut sie sich auf diese Ablenkungsversuche einlassen können.

Diese Fähigkeit wird in pädagogischen Kontexten „Konzentration“ genannt. Sie ist der aktiv und dauerhaft aufgebrachte Aufwand, mit dem ich mich auf ein Thema konzentriere, dass andere mir zur Bearbeitung vorgeben, unabhängig davon, woran ich gerade bin und was für mich gerade wichtig ist.

Das gelingt mir nur dann, wenn ich den dadurch ausgelösten, inneren Konflikt zwischen meinen Themen und Bedürfnissen und denen der Schule erfolgreich verdränge oder sogar abspalte, indem ich also die Wertigkeit und die Werteskala der Schule übernehme was die Bedeutung und Relevanz von Themen und Inhalten betrifft. Damit verliere ich den Zugriff auf exakt jene Energie, die mit erlauben würde, Aufmerksamkeitskompetenz zu entwickeln.

Was ich dabei auch lerne – ganz nebenbei: „Was wirklich wichtig für mich ist wenn es um das Lernen geht, das entscheiden immer andere.“ Oder in einer Variante:

Erst wenn Menschen mit Autorität etwas wichtig finden, ist es tatsächlich wichtig.

Schule besteht aus Ablenkung

Ein durchschnittlicher Schultag besteht diesbezüglich aus nichts anderem als aus Ablenkung – denn wann immer es einem jungen Menschen womöglich sogar gelungen sein sollte, sich auf „irgendetwas Wichtiges“ einzulassen, folgt bereits der nächste Arbeitsschritt, die nächste Unterrichtsstunde, das nächste Fach. Unvorhersehbare und nicht planbare menschliche Bedürfnisse sind dabei noch gar nicht berücksichtigt: Bewegung, Durst, Hunger, Mitteilungsbedürfnisse, Müdigkeit, Nervosität, Kommunikationsbedürfnisse, Spontaneität.

Mann male sich das einfach mal kurz aus: Angenommen es gelingt mir, mich nachhaltig von dem abzulenken, was mich in Innersten bewegt und meine Aufmerksamkeit auf das zu lenken, wo die Lehrenden sie gerne hätten – und wenn ich das geschafft habe, ertönt der Gong.

Considering all we know, it’s time to restructure school in ways that can break us out of a one-size-fits-all factory model and towards something that recognizes children’s individuality and the unique ways they learn. Instead of expecting children to change and adapt to a cognitive norm, to ensure every child can flourish, we need to change our model to meet them where they are today.

Quelle

Es ist also keinesfalls so, wie in pädagogischen Bubbles gebetsmühlenartig betont wird, dass vor allem der Umgang mit digitalen Geräten und das Unterwegssein in sozialen Medien die Aufmerksamkeitsspanne von Kindern und Jugendlichen verkürzt.

Das Problem beginnt früher und woanders. Es beginnt in der Schule, wo Menschen systematisch darauf trainiert werden, sich nicht mehr auf das zu konzentrieren, was ihnen wichtig ist,

wo sie gerade nicht lernen, auch für den Wert dessen einzustehen, wofür sie sich interessieren und womit sie sich aus diesem Grund auch beschäftigen möchten, wo sie dranbleiben möchten, weil da viel für sie drin steckt,

sondern wo sie verlernen müssen, dafür einzustehen und die nötige Zeit und den nötigen Raum dafür einzufordern, denn sie müssen mit ihrer Aufmerksamkeit pausenlos oszillieren zwischen dem, was von Fach zu Fach, von Lektion zu Lektion, von Unterrichtsphase zu Unterrichtsphase von Ihnen verlangt wird.

Es geht um die Macht

Es geht in der Schule nicht um das Kind, nicht um seine oder ihre Themen, Bedürfnisse, Bedarfe und Rhythmen oder darum, was Kinder brauchen, um mit Hilfe einer „Kultur der Aufmerksamkeit“ ihren eigenen Weg in die Welt der Phänomene zu finden, der ja immer erst im unvorhersehbaren Wechsel von Gehen und Verweilen entsteht.

Es geht in der Schule um die Machtfrage: Wer hat die Macht darüber zu entscheiden, welche Inhalte und Themen jetzt wichtig sind, und wer sich jetzt darauf einzulassen und zu konzentrieren hat – und alles andere gefälligst auszublenden?

Daraus ergeben sich die fundamentalen ersten und durchgehenden Lernziele von Schule: als Lernende:r ganz bei den Themen anzukommen und zu verbleiben, die mir als wichtig verkauft werden, völlig wurscht, ob die was mit mir zu tun haben. Nur wer damit klarkommt, wird Schule erfolgreich durchlaufen. Wer damit Schwierigkeiten hat, wird noch intensiver beschult, und zwar solange, bis er und sie begriffen hat, wie der Hase läuft.

Hingegen:

Aufmerksam zu sein und es zu bleiben lerne ich dadurch, dass ich aufmerksam sein kann und an meinen Themen dranbleiben – unabgelenkt, ungestört, ununterbochen.

Aufmerksam zu werden und zu bleiben lerne ich dadurch, dass ich Aufmerksamkeit entwickeln kann – unabgelenkt, ungestört, ununterbrochen.

Durch wen oder was auch immer.

Wenn wir Ernst mit dem faszinierenden Phänomen der Aufmerksamkeit machen wollen, dann hören wir umgehend auf, Kinder durch Schule von sich und ihrem Lernen abzulenken.

Die Bilder im Beitrag wurden mit Bing/Copilot erstellt. Das Zitat von Martin Walser stammt aus seinem Büchlein „Heimatlob“.

Schule ist doch keine Wohlfühloase, oder: Freitags lerne ich auf die Gymi-Prüfung

Die Neue Zürcher Zeitung berichtet über eine innovative Schule in Wädenswil im Kanton Zürich. Die Schule hat sogar einen Preis bekommen. Wofür, das lässt bereits die Überschrift des Artikels erahnen, wenn da steht: „Farben statt Noten, pauken im eigenen Tempo“. Jean-Philippe Hagmann nennt das Innovationstheater. Zeile für Zeile liest sich der Artikel wie ein Bericht über eine neue Stufe auf dem Weg in eine „totale Pädagogik“.

„Totale Pädagogik“ klingt für manche:n nach Nazikeule. Mir geht es aber um etwas anderes. Wir sprechen heute z. B. davon, dass alle Bereiche unserer Kultur „durchökonomisiert“ sind. Was auch immer wir anpacken, sei es Gesundheit, Öffentlicher Verkehr, Altenpflege, Hochschulbildung u.v.m. – wir organisieren es nach ökonomischen Prinzipien. Wir leben in einer „totalen Ökonomie“.

Und in diesem Sinne wird auch die Pädagogik zunehmend total, wie Michael Hüter in seiner Studie „Kindheit 6.7“ ausführlich dokumentiert hat, und wie es auch der österreichische Bildungswissenschaftler Erich Ribolits im Jahr 2005 umschreibt:

Was Erziehung im Kern immer schon bedeutet hat – Anpassung an die dem Status quo gemäßen Werte, Normen und Verhaltensweisen, gekoppelt mit der Behauptung, dass diese den Ausfluss der gemeinsamen Anstrengung aller Menschen um ein vernünftiges Leben darstellen -, hat eine neue Dimension erreicht. Die Erziehung zum gesellschaftlichen Nützling beschränkt sich nicht mehr länger nur auf Elternhaus und Schule, sie wird tendenziell zu einem lebenslangen Phänomen. Zugleich wird es zunehmend schwieriger, sich dem allumfassenden Zugriff durch pädagogische Maßnahmen noch irgendwie zu entziehen. Die Charakterisierung als „lebenslanges“ oder auch „lebenslängliches“ Lernen greift für das, was da passiert, viel zu kurz, tatsächlich geht es um „lebenslängliche Erziehung“.

Quelle

Grundgelegt ist diese Totalisierung in der Schule, die diese Totalisierung unwidersprochen praktiziert.

Was ist damit gemeint? Der Reihe nach:

Deine Ziele sind nicht deine Ziele. Erreichen musst du sie trotzdem

Ich lese im Artikel: „An einer Glaswand haben sie Ziele notiert. ‚Ich möchte schneller arbeiten, damit ich freitags für die Gymiprüfung lernen kann‘, hat Lincoln geschrieben. Und Nina: ‚Ich schätze mich realistisch ein und beteilige mich aktiv am Unterricht.‘“

So ist das in der Schule. Die Ziele haben immer nur mit Schule zu tun. Immer nur mit Schule. Entweder mit der, in der du gerade steckst oder mit der, in der dich dein Heimatsystem dereinst sieht.

So haben die Teenager jederzeit jene Ziele vor Augen, die nicht auf ihrem Boden gewachsen sind, sondern auf dem von Erwachsenen. Was junge Menschen deshalb nicht lernen, zumindest nicht in der Schule: wie sie ihre eigenen Ziele kreieren, denn die sind ja immer schon vorgegeben – ebenso wie Schule vorgibt, wann du so ein Ziel erreicht hast – und wie du dich das nächste und das übernächste Mal besser dabei anstellen könntest. Realistischer.

Schule bedeutet: Ich lerne (immer besser) fremdgesetzte Ziele zu erreichen. Denn wichtig ist es Ziele zu haben; sich Ziele zu stecken. Ob das meine eigenen sind – darauf kommt’s gar nicht so an. Das würde mich womöglich bloss überfordern. Zynismus off.

Entscheidend ist vielmehr: Wer es zu was bringen will, zur Elite gehören, wie das Gymnasialrektor:innen gerne mal an Elternabenden umschreiben, der und die kommt nicht drum herum, das Leben am sich Vorbereiten auf Prüfungen auszurichten. Am Gymnasium geht es schliesslich sechs Jahre lang um nichts anderes. Nach der Prüfung ist vor der Prüfung. Disziplin ist alles. Immer noch eins obendrauf. Leistung lohnt sich. Und je schneller du den Lehrmeister verinnerlichst, umso mehr und umso besser leistest du.

Deshalb wohl zeigt sich auch Nina einsichtig. Realitätsbezogen zeigt sie sich, und beteiligt sich ab jetzt aktiv am Unterricht – ob sie will oder nicht. Ob sie den braucht oder nicht. Ob ihr der gut tut oder nicht. Das alles wurde bereits für sie entscheiden. Ihr Job ist es, noch besser im System Schule anzukommen, sich einzugliedern, sich anzupassen. Ein Schelm, der daraus Rückschlüsse ziehen würde auf das letzte Gespräch mit ihrem Lerncoach, dem/der es offenbar geglückt ist, Nina zu verklickern, dass sie an ihrer Fähigkeit arbeiten sollte, sich selbst realistisch einzuschätzen. Schulrealistisch. Vielleicht sollte sie sich dabei ein Beispiel an ihrem Mitschüler Lincoln nehmen. Nomen est omen.

Wenn „Freizeit“ zu einem Teil von Schule geworden ist

Weiter geht es im Pädagogischen Glashaus zu Wädenswil: „’Hier arbeiten wir alle nach unserem Wochenplan’, erklärt er und deutet auf eine Tabelle mit Fächern, Wochentagen, Abkürzungen und Aufträgen. Es steht ihm frei, was er gerade abarbeitet. Hausaufgaben gibt es nicht, doch muss bis Ende Woche alles erledigt sein.“

Abarbeiten.

Bis Ende Woche, mein Kind. Du schaffst das! Die Coaches helfen dir. So bleibst du dran. Das meint „totale Pädagogik“. Das Büffeln lauert hinter jeder Freizeitaktivität. Schule gibt den Takt vor, in dem die Seele zu ticken hat. Die Tabellen mit Fächern, Wochentagen, Abkürzungen und Aufträgen kippen sie dir immer wieder von Neuem auf dein individuelles Arbeitspult – und dann helfen sie dir beim Entwickeln von Priorisierungsstrategien.

Sie helfen dir dabei, Schule zu begreifen – um Schule zu bestehen.

Schicht für Schicht abtragen. Lernstrategien entwickeln, Verhaltensoptimierung, Realistisch sein. Sie liefern den Stoff – du arbeitest ihn ab. Das Leben, so lernst du in Pädagogistan, besteht aus dem Abarbeiten von Aufträgen, die andere dir geben.

So machen sie lauter kleine ChatGPTs aus diesen Jugendlichen: Eingaben verarbeiten und Ergebnisse ausspucken.

Und das Schlimmste: Es gibt kein ausserhalb von Schule mehr. Denn Ende Woche muss alles erledigt sein. Und nächste Woche wieder. Die Freizeit ist endgültig zu einem Teil von Schule geworden.

Leben am Pult

Deshalb kann eine andere Schülerin sagen: „Mittlerweile fühle sie sich in der ‚Lilo‘, ‚als ob ich zu Hause an meinem Pult sitzen würde‘“. Denn Schule ist jetzt überall. Schule ist total. Die Unterschiede zwischen dem Stoffvermittlungsmoloch und dem Rest der jugendlichen Welt sind längst weggeschmolzen. Das Pult ist überall. Sie tragen es in ihrem Kopf mit sich.

Damit die Kontrolle über das alles jedoch weiterhin beim System bleibt,

wird nur ein Drittel der Zeit „individuell gearbeitet. Ein Drittel ist für Input-Lektionen reserviert: quasi alte Schule im Klassenverband. Es ist der Versuch, Struktur und Freiheit zu vereinen. Ein weiteres Drittel der Zeit gehört dem Fachunterricht wie Sport, Bildnerisches Gestalten oder Musik“.

Zwei Drittel Beschulung wie immer, der gute alte Frontalunterricht darf nun mal nicht fehlen – und das letzte Drittel ist selbstorganisiertes Abarbeiten jener Stapel, die sie dir rhythmisiert aufs Tablet laden, aufs Pult legen oder an die Glaswand malen.

Weil sich Freiheit und Struktur ausschliessen in Pädagogistan, in Lehrerköpfen und in Schulhäusern: Entweder Freiheit oder Struktur. Das ist ihr Mantra. Das ist der fatale Grundirrtum in der totalen Pädagogik. Nichts ist älter und tiefer in dieses autoritäre Schulsystem eingeschrieben als das Entweder-Oder von Freiheit und Struktur. Das stillschweigende Gleichsetzen von Freiheit und Beliebigkeit. Das Nichtwissen darum (oder das Verleugnen dessen), worum es bei der Freiheit in Wirklichkeit geht.

Früh übt sich: Schule als Grossraumbüro (Foto: Andrea Zahler/NZZ)

Wir sind doch keine Wohlfühloase

Besonders zynisch in diesem Innovationstheater: Auch die wuchtigste Bastion dieses autoritären Systems wird nicht geschleift. Vielmehr wird sie an die Lernenden weitergereicht:

„In einigen ‚Lilos‘ gibt es keine Prüfungsnoten mehr, sondern einen Farbcode. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich Anfang Semester für jedes Fach eine Zielnote. Erreichen sie diese in einer Prüfung, gibt es Grün, schneiden sie besser ab, gibt’s Pink, liegen sie unter dem Ziel, Orange. Das gefällt. ‚Wenn Samira und ich Grün haben, dann haben wir beide den Glückseffekt‘, sagt Ella.“

Das ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Sie schiessen nicht mehr mit Noten auf Kinder. Sie legen ihnen die Waffe in die Hand. Aus Zahlen werden Farben, die wie Marzipankarotten an den Stecken hängen, mit denen sich die Lernenden zum Abbarbeiten des Stoffes motivieren. Wenn der Zeiger am Ende auf „grün“ steht, stellt sich der Glückseffekt ein. Farben statt Ziffern.

Denn: „Die Oberstufenschule Wädenswil ist für die Jugendlichen keine Wohlfühloase. ‚Der Leistungsdruck in unserer Gesellschaft bleibt, dafür müssen wir den Jugendlichen Werkzeuge und Strategien mit auf den Weg geben‘, sagt die Co-Schulleiterin.“

Eine Lernumgebung, in der lernende Menschen sich wohlfühlen, eine Oase des Lernens – das darf Schule nicht sein. Das kann Schule nicht sein. Es ist dieser Satz, der das Welt- und Menschenbild hinter Schule entlarvt: dass sie schliesslich keine Wohlfühloase sei. Leistungsdruck ist angesagt. Was für ein schreckliches System, was für furchtbare Bilder und Vorstellungen von Lernen.

Das Gegenteil einer Wohlfühloase könnte man als „Unbehaglichkeitszone“, „Stresszone“, „Belastungsumgebung“ oder „Unwohlseinsherde“ bezeichnen. Diese Begriffe vermitteln das Gefühl von Unbehagen, Stress oder Belastung, im direkten Gegensatz zur Entspannung und dem Wohlbefinden, die eine Wohlfühloase bietet.

ChatGPT zur Frage, was das Gegenteil einer Wohlfühloase sei.

Der Leistungsdruck ist der mächtigste Fetisch Pädagogistans. Er ist sein Totem. Auf seinem Altar werden Schweizer Kindheiten beendet, bevor sie angefangen haben.

Warum der Leistungsfetisch eine Lüge ist

Am Leistungsbegriff scheiden sich derzeit die Geister. Seine ideologische Aufladung gerät mehr und mehr ins Wanken – nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden quantitativen und qualitativen Leistungsfähigkeit unserer Maschinen. Das passt nicht so ganz in die helvetische Kultur, die bis heute fest daran glaubt, dass Leistung die entscheidende Daseins-Rechtfertigung des Menschen sei.

Hinzu kommt: Wir leben längst in einem Arbeitnehmer:innen-Markt und bewegen uns auf eine Epoche zu, in der Arbeit und Leistung völlig neu designt sein werden. Es gibt so gut wie keine Branche mehr, in der es ausreichend Arbeitskräfte hat. Nicht einmal in Pädagogistan. Immer mehr Menschen spielen das Leistungsspiel einfach nicht mehr mit.

Doch in der Schule zieht das Argument vom Leistungsdruck nach wie vor – und es verjagt nach und nach auch die letzten engagierten Lehrpersonen aus diesen ideologisch aufgeladenen Lernbunkern. Denn in anderen Arbeitsmärkten haben kluge Arbeitgeber:innen längst begriffen, dass sie mit Druck niemanden mehr halten.

Vielleicht halten es jene Lehrer:innen, die noch dabeibleiben, auch deshalb aus, weil und solange sie den Druck an Schülerinnen und Schüler weitergeben können – indem sie ihnen pausenlos „Wissen vermitteln“, sie mit Stoff zumüllen und immer neue Varianten von Prüfungen und Bewertungsformaten erfinden.

Indem sie aus jungen Menschen Stoffverarbeitungsmaschinen machen.

Selbst wenn es diesen Leistungsdruck „da draussen“ stellen- und perverserweise noch gibt: seine ökonomische Ineffizienz, sein Ausbeutungscharakter, seine Anteile an den rasant zunehmenden Krankenständen und Burnouts sind längst erwiesen – und Schule müsste erst recht der Ort sein, an dem junge Menschen sich ohne Stress, Druck und Leistungsgedöns entdecken und entfalten können.

Gerade weil sich das Leistungsparadigma derzeit selber ad absurdum führt, bräuchten Kinder und Jugendliche Oasen des Lernens, die eine sichere, geborgene und gleichwürdige Umgebung bieten, in der sie zu sich und zu ihren Potenzialen finden statt Arbeitsaufträge und Prüfungen abzuhecheln.

Der Leistungsfetisch ist längst als die eigentliche humanistische Katastrophe der letzten 200 Jahre entlarvt. Doch besungen wird er weiterhin tapfer von Protagonist:innen Pädagogistans – bzw. von einem Bündner Hotelierpräsident und seinen freiheitlich-liberalen Kegelbrüdern, für die alle, die unter 30 sind, zur Generation Weichei gehören.

Auf dieses Konzept passen dann auch die „famous last words“ der vier Held:innen dieser kleinen Reportage: „Manchmal hätten sie schon Stress, erzählen Nina, Lincoln, Samira und Ella. Vor allem, wenn es gegen Ende Semester viele Prüfungen aufs Mal gebe. Da müssen alle auch zu Hause dafür lernen.“

Als ob es dabei ums Lernen gehen würde. Geht es aber nicht. Es geht ums Pauken, ums Büffeln, ums Abarbeiten. In der Schule geht es darum, mit Schule klar zu kommen. Durchzukommen. Sich aktiv am Unterricht zu beteiligen und sich freitags auf die Gymi-Prüfung vorzubereiten.

Und: sich solange realistisch einzuschätzen, bis es aus der Sicht von Schule realistisch ist.

Und damit die Kinder und Jugendlichen das alles mitspielen, erklären die Lehrer:innen ihnen, uns und allen, dass sie sich dadurch aufs Leben vorbereiten – und auf die Leistungsgesellschaft da draussen.

Mögen sie für diese dreiste Lüge dereinst in der Pädagog:innenhölle schmoren.

Titelbild von ChatGPT: An image that reflects „the educational tradition you described, where childhood is seen as merely a preliminary stage to adulthood, emphasizing a swift transition to a performance-based paradigm.“