„KI verarbeitet Informationen – aber sie denkt nicht. So beginnt ein Einwand, der sich auf die philosophische Grundlinie stützt: Maschinen berechnen Wahrscheinlichkeiten, Menschen denken. KI kennt keine Motive, keine Haltungen, keine Relevanzen. Sie weiss nicht, was ein Gedanke bedeutet, weil sie nicht weiss, was ein Subjekt ist, weil sie kein Subjekt ist. Bildung aber – so die gängige Folgerung – heisst: sich zu sich verhalten. Und das kann keine Maschine.
Diese Aussage wirkt auf den ersten Blick wie ein Schutzwall für das Menschliche, und das ist zunächst berechtigt. Doch dahinter verbirgt sich eine Architektur, die das Denken selbst einengt und auf eine Form reduziert, die vor allem praktisch verwertbar, leicht zu überprüfen und offiziell anerkannt ist. Wer KI vorschnell auf „nur Daten“ reduziert, verteidigt also nicht das Denken an sich, sondern womöglich ein verkleinertes, schulkompatibles Abbild davon.
Der Einwand als Spiegel
Die Frage „Kann KI denken?“ sagt mehr über unser Selbstverständnis aus als über die Maschine. Denn was meinen wir eigentlich, wenn wir sagen: „Denken“?
Ist es das Lösen von Aufgaben?
Das Abrufen und Ordnen von Wissen?
Das Fällen von Urteilen unter unsicheren Bedingungen?
Wenn wir Denken auf Aufgabenlösung, Wissensabruf oder Urteilsproduktion verkürzen, rücken wir es in eine Sphäre, in der KI uns unheimlich nahekommt. Wir messen es dann an denselben Parametern, nach denen auch ein Sprachmodell operiert und degradieren es zum schulisch verwaltbaren Verfahren, das sich in Aufgabenheften, Prüfungen und Curricula abbilden lässt.
Genau hier liegt das Missverständnis: Wer Denken so versteht, öffnet nicht nur der KI die Tür ins eigene Revier, sondern verliert den Blick dafür, dass menschliches Denken gerade das Unberechenbare, Offene, Weltbezogene ist – eine lebendige Praxis, die sich keinem Raster unterordnet, keiner Prüfungslogik beugt und nicht in Kompetenzrastern eingefangen werden kann. Hier zeigt sich die eigentliche, grundlegende Kritik an der Schule: Indem sie Denken systematisch auf planbare und abprüfbare Operationen reduziert, entleert sie es seines eigentlichen Sinns. Denken ist mehr als das – es ist freies Sich-Verhalten zur Welt, das Erkunden des Unvorhergesehenen, die fortwährende Selbstbefragung. Dazu gehört ebenso das kreative, problemlösende Denken: der Umgang mit offenen Fragen, das Entwickeln von Hypothesen, das Knüpfen ungewöhnlicher Verbindungen und das Entwerfen neuer Lösungswege. All das sind Dimensionen, die nicht nur in der hohen philosophischen Reflexion, sondern auch in alltäglichen Denksituationen unverzichtbar sind – und die im schulischen Alltag dennoch oft übersehen, marginalisiert oder bewusst ausgeschlossen werden. Genau hier setzt der nächste Schritt an.
Über den Rubikon
Die neue, generative KI – und mit ihr das aktuelle Upgrade von ChatGPT-5 – zeigt uns nicht, wie wir besseren Unterricht machen können. Sie zeigt, wie klein unser Bild vom Denken geworden ist. Denn dieses System kann:
Argumentationsketten aufspannen und gegeneinanderstellen
Gedanken aus völlig verschiedenen Disziplinen in Beziehung setzen
Brüche in einer Logik sichtbar machen
Hypothesen unter neuen Voraussetzungen weiterspinnen
Sprachräume öffnen, in denen eine Frage nicht sofort beantwortet, sondern in Schwebe gehalten wird
All das geschieht jenseits des gewohnten schulischen Settings – und genau darin liegt die Provokation: Es zeigt, dass diese Qualitäten nicht nur ausserhalb der Schule möglich sind, sondern auch innerhalb ihres Rahmens Platz haben müssten. Ohne Prüfungsdruck, ohne Rollenzuweisung, ohne Bewertung, ohne den ständigen Blick auf Lehrpläne oder vorgegebene Ziele – und gerade deshalb als Einladung, Schule selbst zu hinterfragen. Das ist kein Denken im vollen menschlichen Sinn – denn KI hat weder Bewusstsein, Erfahrung noch ein Selbst, das sich zur Welt verhält. Aber gerade deshalb liegt hier der Reiz: Sie kann als Spiegel und Resonanzraum wirken, der uns zwingt, unser eigenes Denken – mit all seinen bewussten, erfahrungsbasierten und verantwortlichen Dimensionen – aus den Fesseln institutioneller Formate zu befreien – weil erst in dieser Befreiung ein Denken möglich wird, das nicht mehr auf Prüfungen, Raster und formale Anerkennung schielt. Für Kinder und Jugendliche bedeutet das die Eröffnung eines Erfahrungsraums, in dem Fragen nicht sofort beantwortet, sondern vertieft werden dürfen, in dem Irrtümer nicht sanktioniert, sondern als Teil des Erkenntniswegs begriffen werden, und in dem Kreativität, Widerspruch und Eigenständigkeit nicht abtrainiert, sondern bewusst kultiviert werden.
Bildungsarbeit jenseits des Klassenzimmers
Ja, es ist Teil von Bildungsarbeit, dass junge Menschen lernen, KI zu nutzen. Aber nicht im Sinn einer „Kompetenz im Umgang mit digitalen Tools“. „KI nutzen lernen“ heisst nicht: Bedienung, Anwendung, Integration in den Unterricht. Es heisst:
sich mit einer neuen, fremden Intelligenz auseinandersetzen
sich irritieren lassen von einer Stimme, die nicht Mensch ist, aber anschlussfähig an menschliche Sprache
erkennen, wie leicht wir uns mit Kohärenz zufriedengeben – und wie nötig es ist, selbst zu urteilen
erfahren, dass ein Gespräch mit KI kein Dialog im Buber’schen Sinn ist – und gerade deshalb ein Resonanzraum sein kann
Das kann überall geschehen: im Studio, auf der Strasse, am Küchentisch, allein oder in Gruppen, mit oder ohne pädagogische Begleitung. Es ist gemeinsame Weltkonstruktion, nicht Unterrichtsplanung.
Das eigentliche Risiko
Die Gefahr liegt nicht in einer „denkenden“ KI. Sie liegt darin, dass wir unser Denken nicht mehr ernst nehmen – weder in seiner Tiefe noch in seiner alltäglichen Praxis. Dass wir schnelle Antworten für wohlüberlegte Urteile halten. Dass wir Verstehen mit blossem Wiederholen verwechseln. Und dass wir Bildung weiter als die Kunst betrachten, überprüfbare Leistungen abzuliefern, anstatt als die lebendige Fähigkeit, Bedeutungen gemeinsam zu erschaffen, zu verhandeln und zu hinterfragen. Wenn wir Kindern und Jugendlichen diese Dimension vorenthalten, nehmen wir ihnen nicht nur ein Stück intellektueller Freiheit, sondern auch die Möglichkeit, ihr Denken als selbstbestimmten, kreativen und widerständigen Prozess zu erfahren.
Fazit
KI kennt keine Welt, keine Subjekte, keine Bedeutungen. Der Eindruck, sie täte es doch, entsteht, weil ihre Antworten sprachlich kohärent, inhaltlich plausibel und oft verblüffend anschlussfähig wirken – und wir Menschen dazu neigen, Verständlichkeit mit Verstehen zu verwechseln. Sie spiegelt Muster, die wir in ihr finden wollen, und so projizieren wir in sie hinein: Weltkenntnis, Subjektivität und Bedeutungen. Gerade deshalb ist es entscheidend, unser eigenes Denken zu schärfen: zu unterscheiden zwischen sprachlicher Passung und gelebter Erfahrung, zwischen Datenmustern und Bedeutung. Im bewussten Umgang mit dieser Differenz liegt die Chance, KI als Auslöser für Denkprozesse zu nutzen – und nicht als Ersatz. So kann sie eine Welt aufschliessen, in der wir wieder lernen, was es heisst, zu denken. Sie befreit das Denken nicht, indem sie selbst denkt, sondern indem sie zeigt, wie sehr wir es an Strukturen gebunden haben, die es ersticken. „KI nutzen lernen“ bedeutet dann nicht, sich ein Werkzeug anzueignen, sondern eine neue Form des Zusammenlebens mit Intelligenz zu erproben – einer Intelligenz, die weder menschlich noch harmlos, weder perfekt noch neutral ist, aber fähig, unser Denken zu spiegeln, zu reizen, zu weiten.
Wer hier stehen bleibt, hat den Rubikon nicht überschritten. Wer ihn überschreitet, erkennt: Es geht nicht darum, KI in die Schule zu bringen. Es geht darum, die Schule aus der Enge des Schuldenkens zu entlassen: in eine Welt, in der Bildung weit über das hinausreicht, was sich in Prüfungen abbilden oder messen lässt.
Etwas verändert sich, und wir alle spüren es. Künstliche Intelligenz ist Teil unserer Lebenswelt. In der Schule fehlt bisher ein passender Rahmen, um sich damit auseinanderzusetzen: gemeinsam und auf Augenhöhe. Die Fachstelle Schulentwicklung der Stadt Schaffhausen hat deshalb die KI Colearning Journey (Kicoljo) entwickelt: ein neues Lernformat für unsere Berufe der Schule, das nicht auf feste Inhalte setzt, sondern auf selbstbestimmte Wege.
Lernen in der Schule verändert sich durch KI. Darauf antworten wir mit diesem Format. Es entsteht aus dem, was Berufe der Schule beim Thema KI umtreibt. Es lebt von dem, was im gemeinsamen Nachdenken sichtbar wird. Es schafft einen Raum, in dem sich neue Perspektiven auf Lernen, Schule und professionelle Verantwortung entfalten können.
Dieser Blog Post ist Einführung und Einladung zugleich.
Die Ausgangslage
KI hat längst begonnen, unsere Welt umzugestalten: Arbeit, Kommunikation, Wissensproduktion, Entscheidungsprozesse, Identität. Und während sich draussen vieles verändert, sind schulische Strukturen noch wenig mit der Dynamik der digitalen Welt verbunden. Das ist kein Widerspruch, sondern ein Ausgangspunkt.
In der Schulentwicklung der Stadt Schaffhausen nehmen wir diese Spannung ernst. Das mündet nicht in einer grossartigen Strategie, sondern in einer Frage:
Wie könnten wir gemeinsam einen Raum schaffen, in dem sich Berufe der Schule der Realität der KI annähern?
Ohne Druck, ohne Rezepte, und mit dem Mut, sich gemeinsam auf den Weg zu machen.
So ist die Idee einer KI Colearning Journey (Kicoljo) entstanden: aus Gesprächen, Beobachtungen, Irritationen und dem Wunsch, etwas auszuprobieren, das sich nicht an traditionellen Weiterbildungslogiken orientiert. Die passen für viele nicht mehr zum beruflichen Alltag.
Eine Frage, die dabei immer wieder auftaucht:
Was verändert sich, wenn wir KI nicht nur als Werkzeug nutzen, sondern wenn wir sie als Anstoss begreifen, um Bildung, Beziehung und Verantwortung gemeinsam neu zu verhandeln?
Die Kicoljo will dabei unterstützen sich einer neuen Realität behutsam und gemeinsam anzunähern. Nicht belehrend, sondern im eigenen Rhythmus, mit eigenen Fragen, aus der eigenen Praxis heraus.
Berufe der Schule spüren: Da kommt etwas Grosses, und der Einstieg fällt schwer. Sei es aus Unsicherheit, Zeitmangel, Überforderung oder schlicht, weil der passende Rahmen fehlt.
Für uns folgt daraus nicht ein aufwändiges Konzept. Wir verstehen uns selber konsequent als Lernende und sprechen eine Einladung aus, das Thema KI auf neue Weise anzugehen: gemeinsam, offen und praxisnah.
Wir erproben neue Zugänge mit der Bereitschaft, sich irritieren zu lassen. Nicht um KI zu „beherrschen“, sondern um mit den Fragen in Kontakt zu kommen, die sich im Schulalltag stellen. Dafür schafft die Kicoljo Gelegenheiten: keinen Kurs, kein Programm, sondern einen gemeinsamer Denk- und Klärungsprozess. Ein Format, in dem Fragen wichtiger sind als fertige Antworten, und wo das Mitdenken aller zum Ausgangspunkt für Veränderung wird. Ohne Vorwissen. Ohne Erwartungsdruck, dafür mit Ernsthaftigkeit und Neugier.
Was verändert sich, wenn Schule sich auf die Realität der KI-Welt einlässt?
Die Kicoljo ist ein Pilotprojekt. Sie ist ein Aufbruch in unbekanntes Gelände, denn „Colearning“ meint nicht gemeinsames Lernen im klassischen Sinn, sondern das bewusste Aufheben der Trennung zwischen Lehrenden und Lernenden: Alle sind Beteiligte, alle sind Mitdenkende. Als Leiter der Fachstelle Schulentwicklung habe ich dieses Konzept dort kennen gelernt, wo es entstanden ist: im Coworking Space Effinger in Bern.
Wenn du mehr über die Hintergründe und die Idee von Colearning erfahren möchtest, schau dir dieses Video an. Da berichten Menschen von ihrem persönlichen Lernweg. Eine Einführung ins Konzept des Colearning ist dieser Blogpost.
„Pilotprojekt“ bedeutet für mich: wir sind ohne eine fertige Karte unterwegs, mit der Bereitschaft, Irritationen auszuhalten und gemeinsam zu deuten. Beides zusammen macht diese Journey aus. Lernen wird auch für mich als erwachsener Mensch wieder zur Entdeckungsreise, auf der ich Fragen stelle, die ich so noch nicht formuliert habe. Fragen wie:
Was heisst es, ein Mensch zu sein, wenn Maschinen Texte schreiben?
Wie erkenne ich eine echte Beziehung, wenn KI empathisch wirkt?
Wie funktioniert Wissensvermittlung, wenn Information jederzeit generierbar ist?
Wie kann ich Verantwortung übernehmen, wenn Systeme mitentscheiden, aber nicht haften?
Was bedeutet pädagogische Autorität, wenn mein Gegenüber ein Algorithmus sein kann?
Diese Fragen führen nicht zu schnellen Antworten. Aber sie führen in Bewegung. Und das ist für uns der Sinn einer Kicoljo.
Acht Etappen. Kein vorgegebener Plan. Viel Raum.
Die Kicoljo besteht aus acht möglichen Etappen. Sie können im eigenen Rhythmus gegangen werden, alleine oder im Team. Jede Etappe erschliesst ein zentrales Spannungsfeld, das durch KI neu beleuchtet wird. Die Etappen bauen nicht linear aufeinander auf. Sie bilden ein Netz von Zugängen, die einander durchdringen und aufeinander rückwirken:
Subjektivität & Selbstverständnis: Wie verändert sich das Bild vom Menschen, wenn KI beginnt, mitzusprechen, mitzudenken, mitzuschreiben? Diese Etappe hilft dabei, sich selbst als Subjekt in einer neuen Bildungswelt zu verorten.
Autorität & Verantwortung: Was bedeutet es, verantwortlich zu handeln, wenn digitale Systeme Entscheidungen vorbereiten? Hier geht es darum, pädagogische Verantwortung sichtbar zu machen, jenseits technischer Entscheidungshilfen.
Bildung im Wandel: Wenn Wissen nicht mehr exklusiv vermittelt, sondern jederzeit generiert werden kann, worin besteht dann gute Bildung? Diese Etappe fragt nach Haltungen, nach Beziehung und Urteilskraft.
System Schule: Wo verändert KI Prozesse, Abläufe und Zuständigkeiten im System, und was heisst das für Leitung, Teamarbeit und Organisation? Diese Etappe rückt die Schule als lernendes System ins Zentrum.
Kultureller Wandel: Wie wirken sich digitale Lebenswelten auf Sprache, Identität, Aufmerksamkeit und Beziehung aus? Die Etappe lädt ein, diese kulturelle Verschiebung nicht zu beklagen, sondern zu verstehen und pädagogisch darauf zu antworten.
Wissen, Wahrheit & Verantwortung: Was heisst es, Wissen zu beurteilen, wenn Inhalte generiert, verändert oder simuliert werden können? Hier wird Urteilskraft zur zentralen Kompetenz.
Verlernen & neu lernen: Was muss ich loslassen, damit etwas Neues entstehen kann? Diese Etappe lädt zur Reflexion von Routinen, Selbstbildern und festgefahrenen pädagogischen Überzeugungen ein.
Rollenverständnis & Handlungsfähigkeit: Wie bleibe ich handlungsfähig in einer Schule, die sich verändert als Lehrperson, als Leitung, als Team? Diese Etappe stärkt Klarheit und Beweglichkeit im Rollenhandeln.
Der Einstieg ist an jeder Stelle möglich, denn es geht nicht um „Fortschritt“, sondern um Orientierung und Vertiefung. Die Etappen müssen weder linear noch vollständig durchlaufen werden. Jede kann für sich stehen, und zugleich verweist jede auf andere. Wer sich mit einer Frage beschäftigt, stösst früher oder später auf weitere. Genau das macht diese Reise zu einer Expedition: offen, vernetzt, nicht vorhersagbar und voller Verbindung.
Ein neuer Zugang zu Inhalten
Hier beginnt ein Perspektivwechsel, der für viele zunächst irritierend sein kann: Es geht auf einer Colearning Journey nicht mehr darum, Inhalte im Voraus zu definieren, didaktisch zu reduzieren und nach Plan zu vermitteln. Inhalte spielen weiterhin eine Rolle, doch sie stehen nicht am Anfang, sondern ergeben sich aus dem, was jeweils im pädagogischen Alltag zur Diskussion steht. Statt „Themen durchzunehmen“, stellen sich im Verlauf der Auseinandersetzung Fragen, aus denen konkrete inhaltliche Schwerpunkte entstehen, weil sie nach Klärung, Wissen oder Orientierung verlangen.
Jede Etappe eröffnet dabei eine neue Perspektive auf Schule, Bildung und professionelles Handeln im Zeitalter von KI. Diese Perspektiven wirken nicht wie klassischer Lehrstoff, sondern wie verändernde Blickwinkel. Sie fordern heraus, irritieren, laden ein zum Weiterdenken. Und genau darin liegt ihr Potenzial: Sie können dazu führen, dass sich Haltung, Praxis und Verständnis verschieben, und damit auch, welche Inhalte überhaupt relevant erscheinen.
Wie ist das methodisch gedacht?
Wer sich im schulischen Kontext mit einer so wuchtigen neuen Technologie wie KI auseinandersetzt, fragt früher oder später: Und wie soll das gehen? Wie genau wird jetzt gelernt? Was macht man da konkret?
Gerade weil die KI Colearning Journey kein klassisches Weiterbildungsformat ist, braucht es einen Rahmen, der nicht durch Module oder Zielkataloge strukturiert ist, sondern durch Gelegenheiten zur Erfahrung, zur Resonanz und zur gemeinsamen Orientierung. Jede Etappe bietet deshalb konkrete Einstiege auf drei Ebenen: individuell, kollegial und auf Wunsch moderiert. Wer lieber allein beginnt, findet Reflexionsimpulse aus dem Schulalltag. Wer gerne mit anderen nachdenkt, kann über Fallbeispiele, Perspektivwechsel oder Leitfragen in den Austausch gehen. Und wer mit einem Team oder einer Gruppe arbeitet, bekommt Vorschläge für angeleitete Prozesse. Diese Vielfalt an Formaten sorgt dafür, dass sich jede und jeder auf eigene Weise nähern kann – ohne Druck, aber mit Haltung, denn jede und jeder von uns lernt anders, individuell und oft beiläufig.
In welcher Haltung bis du als Lernende:r unterwegs?
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Wie kann der Einstieg konkret aussehen?
Die Kicoljo ist so konzipiert, dass der Einstieg niederschwellig und anschlussfähig ist, egal, ob jemand allein beginnt, im Team lernt oder sich einen moderierten Rahmen wünscht. Nicht alle denken gleich, nicht alle arbeiten gleich, nicht alle fragen gleich.
Wer lieber individuell startet, findet in den Etappen persönliche Reflexionsimpulse, die an konkrete Alltagssituationen anknüpfen.
Wer im Kollegium neue Perspektiven entwickeln möchte, kann mit Leitfragen oder Fallbeispielen in den Austausch gehen – ohne Vorbereitung, aber mit Wirkung.
Wer sich in einem angeleiteten Format besser aufgehoben fühlt, findet strukturierte Vorschläge für moderierte Prozesse: in Form von Fortbildungen, Gesprächsrunden oder Werkstattformaten.
Diese Vielfalt ist Ausdruck der Haltung, dass Veränderung dort ansetzt, wo wir uns in unserer Unterschiedlichkeit ernst genommen wissen. Deshalb gibt es nicht den einen richtigen Weg. Sondern viele gute Einstiege. Und das Vertrauen, dass etwas entsteht, wenn wir beginnen.
Die Kicoljo ist nicht methodisch beliebig, aber offen genug für die ganze Vielfalt schulischer Kontexte, und niemand muss technisches Vorwissen mitbringen. Entscheidend ist nicht, wie gut jemand KI versteht, sondern wie offen jemand ist, sich mit deren Wirkung auf Schule, Beziehung und Bildung auseinanderzusetzen.
Expedition, Safari oder beides?
Warum ist die Kicoljo nicht als Kurs oder Schulung angelegt, sondern als Colearning-Pilot? Dahinter steht eine einfache, weitreichende Beobachtung: Die Art, wie wir lernen, arbeiten und Entscheidungen treffen, verändert sich gerade tiefgreifend. Künstliche Intelligenz verschiebt Routinen, erzeugt neue Formen von Wissen und Unsicherheit. Die Vorstellung, dass ich mich auf eine verlässliche Abfolge von Modulen, Tools oder Trainings verlassen kann, passt nicht mehr zur Wirklichkeit, auf die wir uns vorbereiten wollen.
Was es heute braucht, ist keine Steuerung von Lernen im klassischen Sinn, sondern Orientierung im Unvorhersehbaren. Das will unsere Kicoljo ermöglichen: Sie folgt keiner vorgezeichneten Route. Sie beginnt nicht mit einem Lehrplan, sondern mit einer gemeinsamen Entscheidung, loszugehen: mit Fragen, mit Unterschiedlichkeit, mit Unsicherheit.
In den Lern- und Arbeitswelten von morgen (und zunehmend schon von heute) geht es weniger darum, ein festes Repertoire zu beherrschen, sondern darum, in Bewegung zu bleiben: zu beobachten, was geschieht, zu reagieren, Entscheidungen zu verantworten ohne vollständige Information, aber mit innerer Haltung und gemeinsamem Rückhalt.
So ist die Kicoljo eine Einladung zur Praxis, die genau das einübt: miteinander Unsicherheit aushalten, Unterschiede anerkennen, Irritationen zum Ausgangspunkt für Lernen machen und gemeinsam entdecken, was Schule in einer KI-Welt werden kann.
Was heisst das für Schulleitungen und ihre Teams?
Ich kenne Schulleiterinnen und Schulleiter, die sich fragen: Wie bringe ich so etwas in Bewegung, ohne mein Kollegium zu überfordern? Wie kann ich Raum für Entwicklung schaffen, ohne Erwartungen zu erzeugen, die Ängste auslösen?
Genau hier setzt die Kicoljo an. Sie bietet keine fertigen Lösungen, sondern einen verlässlichen Rahmen für einen gemeinsamen Aufbruch. Schulleitungen müssen nicht vorausgehen oder alles wissen. Sie müssen nur bereit sein, einen Raum zu eröffnen, in dem Lehrpersonen und Teams eigene Fragen stellen dürfen – ohne Leistungsdruck, aber mit Ernsthaftigkeit. Die Etappen der Journey können punktuell oder kontinuierlich genutzt werden, einzeln oder im Team, als Einstieg in ein Gespräch oder als strukturierter Prozess. Wer mit einer Frage beginnt, ist schon unterwegs.
Eine Einladung zu so einer Expedition zielt nicht auf Innovation um der Innovation willen, sondern auf Stimmigkeit: Was brauchen wir als Schule, als Team, als Einzelne, um in dieser Veränderung nicht nur mitzuhalten, sondern mitzugestalten? Eine Kicoljo bietet dafür den Resonanzraum.
Was in Schaffhausen beginnt und anderswo weitergehen kann
Wir starten mit dieser Expedition als Pilot, und wir denken sie als Prototyp. Als Skizze für eine andere Form von Lernen. Eine, die Schule nicht optimiert, sondern neu verhandelt. Gemeinsam, selbstbestimmt, offen.
Wenn du – vorerst als Mitarbeiter:in bei den Schulen der Stadt Schaffhausen – dabei sein willst, dann kannst du dich in Bälde anmelden, wir sind bereits in den Startlöchern.
PS: Diese Reise beginnt nicht mit einem Ziel. Sondern mit einer Frage: Was verändert sich, wenn KI mitdenkt?
Vielleicht willst du sie dir stellen. Dann bist du schon unterwegs.
Titelbild: Watterson, Bill (1996):The Indispensable Calvin and Hobbes: A Calvinand Hobbes Treasury. Kansas City: Andrews McMeel Publishing.
Ich begegne ihnen fast täglich: junge Menschen zwischen 17 und 21, klug, feinfühlig, nachdenklich, und bemerkenswert orientierungslos. Sie sagen es offen oder lassen es zwischen den Zeilen spüren:
Ich weiss nicht, wer ich bin. Ich weiss nicht, was ich kann. Ich weiss nicht, was ich will. Ich weiss nicht, wohin mit mir.
Doch noch erschütternder als diese Aussagen selbst ist die Begründung, die oft gleich mitgeliefert wird:
In meinem Alter muss man das ja noch nicht wissen. Das ist doch normal in der Jugend. Ich bin ja noch am Anfang.
Diese Sätze sind keine Beschreibungen innerer Zustände. Sie sind Symptome einer tiefen gesellschaftlichen Krise. Was hier spricht, ist kein individuelles Nicht-Wissen, sondern ein kulturell erzeugtes Selbstbild. Und dieses Bild ist nicht nur falsch, es ist gefährlich.
Die Selbstverunsicherung, die viele junge Menschen heute empfinden, ist keine psychische Störung. Sie ist das Ergebnis einer systemischen Selbstverkleinerung. Es ist ein kulturelles Gaslighting, das so tief wirkt, dass junge Menschen beginnen, sich selbst zu überhören.
Die (post-)moderne Konstruktion von „Unreife“
Dass junge Menschen angeblich noch nicht wissen können, wer sie sind und wohin sie wollen, ist keine naturgegebene Wahrheit, sondern eine soziale Konstruktion. Eine Zuschreibung, die zur Selbstzuschreibung geworden ist. Ein Mythos, der sich tief in die Biografien einschreibt und sich dadurch in gelebte Wirklichkeit verwandelt: Er wird zur Realität nicht, weil er wahr ist, sondern weil er geglaubt, übernommen und gelebt wird. Junge Menschen erleben ihn als Wahrheit, weil er ihnen überall begegnet: in der Schule, in der Familie, in den Medien, in der Sprache.
Was wie eine Eigenschaft erscheint, ist also in Wirklichkeit eine Zuschreibung, die sich so tief ins Erleben einlagert, dass sie als eigene Realität empfunden wird. Nicht weil sie stimmt, sondern weil sie durch gesellschaftliche Institutionen, kulturelle Erzählungen und pädagogische Routinen dauerhaft reproduziert und verankert wird.
Das war nicht immer so.
In traditionellen Gesellschaften haben Initiationsriten Übergänge markiert: biologisch, symbolisch, sozial und kulturell. Das waren Schwellenrituale, die Übergänge begleitet und zugleich bedeutsam gemacht haben. Dabei wurde dem heranwachsenden Menschen eine Rolle, eine Aufgabe und ein Ort in der Gemeinschaft zugewiesen, und zwar nicht im Sinne einer Aufschiebung, sondern als ein Akt der Anerkennung.
Die Übergangsphase war nicht per se wertlos, sondern hoch aufgeladen: Sie war existenziell. Doch im Gegensatz dazu kennt unsere Gegenwart kaum symbolische Schwellen oder Rituale echter Übergabe. Die wenigen Formen, die als solche inszeniert werden – etwa die feierliche Verleihung von Zertifikaten – sind damit nicht vergleichbar. Sie würdigen nicht den inneren Wandel oder die soziale Anerkennung einer neuen Rolle, sondern markieren lediglich den Abschluss einer standardisierten Leistung.
Unsere Kultur hat Initiation längst durch Standardisierung ersetzt und lässt dabei das Wesentliche aus: das Anerkennen des Werdens als Teil des Seins. Aus der Übergangsphase wurde ein System des Wartens. Aus symbolischem Ernst wurde ein schulischer Funktionalismus. Statt Schwelle: Schwellenangst.
Gleichzeitig gilt es kritisch zu ergänzen: Was heute als Initiation beschrieben oder romantisiert wird – etwa in der Rückschau auf vormoderne Kulturen oder in Jung’scher Psychologie –, folgt fast immer einer maskulinen Logik. Die meisten bekannten Übergangsrituale betreffen männlich gelesene Jugendliche. Sie inszenieren Reifung als Kampf, Trennung, Durchbruch, also im Sinne eines Narrativs, das Macht, Stärke und soziale Dominanz in den Vordergrund stellt. Weibliche Übergänge wurden kulturell anders begleitet, oft eingebettet in zyklische, fürsorgliche oder gemeinschaftsbezogene Formen. Doch diese waren lange kaum erforscht, weil sie nicht ins heroische Schema passen, und weil Ethnologie, Anthropologie und Pädagogik über Jahrzehnte männlich dominiert waren.
Heute tauchen solche Riten als rumpfartige Rituale in entleerter und entfremdeter Form in bestimmten sozialen Untergruppen wieder auf, z. B. als Ausdruck toxischer Männlichkeit. Dabei entfalten sie durchaus eine Sinnstiftung für die Beteiligten, allerdings auf der Grundlage von Ausschluss, Konformitätsdruck und Abgrenzung. Die Zugehörigkeit ergibt sich hier nicht durch eine sozial anerkannte Verantwortung, sondern durch Identifikation mit exklusiven, oft radikalisierten Männlichkeitsentwürfen. Was fehlt, ist der kulturell verankerte Rahmen, der Übergänge nicht nur als Abgrenzung, sondern als Integration ins Gemeinwesen versteht.
Wer also heute über Reifung, Verantwortung und Erwachsenwerden spricht, tut gut daran, die patriarchale Prägung solcher Konzepte mitzureflektieren.
Der positive Wert historischer Initiationsprozesse, Schwellenrituale oder Übergabeformen liegt bei aller gebotenen Vorsicht, mit denen wir das zu heute zu interpretieren haben, darin, als junger Mensch gerade nicht suspendiert zu werden, sondern anerkannt. Was in vormodernen Gesellschaften eine symbolisch verdichtete Anerkennung war, hat sich in der Moderne komplett aufgelöst und wurde ersetzt durch eine pädagogisch-technische Verwaltung des Werdens.
Unsere gegenwärtige Bildungsarchitektur kennt nicht einfach keine Initiation mehr, sondern erzeugt stattdessen eine technokratische, geschlechtsneutrale Simulation von Reife: ohne Anerkennung, ohne Schwelle, ohne Handlung. Eine Simulation, die Verantwortung als Leistung kodiert und Jugend als Defizit.
In unserer Gegenwart wird Jugend als „Vorbereitungszeit“ völlig überdehnt als noch-nicht-ganz-zählende Phase. Die Pädagogik hat dieses Bild übernommen, krass verstärkt und weitergetragen. und die Schule hat es institutionalisiert: Kinder und Jugendliche werden nicht als vollwertige Gegenwart wahrgenommen, sondern als „werdende Erwachsene“. Mitsprache wird selbstverständlich hier und da zugelassen, aber nur, wenn sie der Vorbereitung auf ein späteres Leben dient, und zwar aus der Sicht der erwachsenen Zukunftsprofis.
Doch was wie echte Beteiligung aussieht, ist in Wahrheit eine Form gelenkter Anpassung an die normative Gegenwart von Schule und Erziehung. Was junge Menschen einbringen, wird nicht um seiner selbst willen ernst genommen, sondern nur, wenn es zu den Erwartungen passt, die durch schulische Vorgaben, gesellschaftliche Leitbilder oder erwachsene Deutungshoheiten gesetzt werden.
Nun beginnt halt das echte Leben nicht irgendwann und auch nicht „immer früher“ und nicht „immer später“. Es beginnt immer jetzt, auch wenn wir jungen Menschen beibringen, es vorerst nur als Probe, als Vorbereitung, als Übergang zu verstehen.
Die Demografie als Machtfaktor
Diese kulturelle Konstruktion trifft heute auf eine demografische Realität, die sie vollends brisant macht: Unsere Gesellschaften altern. In der Schweiz wie in Deutschland nimmt der Anteil der jungen Menschen stetig ab. Gleichzeitig wächst der politische, wirtschaftliche und kulturelle Einfluss der älteren Generation deutlich.
Was dabei entsteht, ist mehr als ein demografisches Ungleichgewicht. Es ist eine strukturelle Verschiebung von Machtverhältnissen. Eine Gerontokratie: Eine Gesellschaft, in der das Alte(r) dominiert: in Zahlen, in Normen, in Erzählungen.
Nicht nur im persönlichen Umgang, sondern tief in unserer Kultur ist eine Vorstellung verankert: Jugend ist ein „Noch-nicht“. Ein Durchgangszustand, dem erst später Bedeutung zukommt, wenn man „reif“ ist, wenn man „etwas erlebt hat“, wenn man „ausgebildet“ ist. Solche Bilder wirken nicht nur entwertend, sie wirken prägend.
Zugleich verändert sich das Phänomen Jugend selbst: Einerseits wird es entgrenzt und überdehnt: junge Erwachsene bleiben länger in Ausbildung, hängen länger in prekären Übergängen fest, verschieben Erwerb, Familie und Verantwortung. Andererseits verschwimmt Jugend als kulturelle Kategorie, auch weil klare Schwellen und Rituale, die einen Übergang markieren könnten, fehlen. So entsteht ein Schwebezustand: Jugend wird verlängert, aber nicht gestärkt. Sie verliert ihre Kontur und wird zur Warteschleife.
Wer von Anfang an als „noch nicht ganz“ gilt, wer immer auf ein „später“ verwiesen wird, der und die lernt nicht, sich selbst ernst zu nehmen – nicht, weil das Erleben, Denken oder Fühlen noch unreif wäre, sondern weil die Kultur systematisch dessen Gültigkeit entwertet.
Eine Jugendliche liebt und hört: „Du kannst noch gar nicht wissen, was Liebe ist.“ Eine 17-Jährige engagiert sich politisch und hört: „Das ist nur eine Phase.“ Ein junger Mensch äussert Zweifel am Bildungssystem, fragt nach dem Sinn von Schulstoff, und bekommt zur Antwort: „Du musst da durch.“
In diesen und ähnlichen Momenten ist das Erleben echt, ist das Engagement echt, ist die Wirkung echt. Da ist Gegenwart. Doch genau sie wird kulturell abgewertet. Die sogenannte Zukunft dient dabei nur als Platzhalter, als Argumentationshilfe, um das Gegenwärtige zu entkräften: Noch zu jung, noch nicht bereit, noch keine Ahnung, zu viel am Handy.
Nicht weil dem Handeln Tiefe oder Relevanz fehlen würde, sondern weil eine Kultur, die auf Alters- und Funktionslogiken beruht, nicht anerkennen kann, dass Bedeutsames auch früh geschieht. So wird aus Potenzial nicht Wirkung, sondern Schweigen. Nicht aus Unfähigkeit, sondern aus Entmutigung.
Das Narrativ der „späteren Reife“ als strategische Stilllegung
Die harmlos klingende Formel „Du musst das jetzt noch nicht wissen“ ist keine empathische Geste, sondern eine politische. Sie verhindert, dass junge Menschen sich als wirksame Subjekte erleben. Sie erzählt ihnen, dass ihre Fragen noch nicht gültig sind, ihre Erfahrungen noch nicht tief genug, ihre Einsichten noch nicht ausreichend gereift, ihre Urteile noch nicht relevant.
Diese Erzählung entschärft die Jugend, bevor sie unbequem werden kann. Sie verharmlost das politische Potenzial einer Generation, die eigentlich allen Grund hätte, laut zu sein:
weil ihre Zukunft verspielt wird
weil ihre Lebenswelten fremdbestimmt sind
weil sie die Folgen der Entscheidungen tragen müssen, die andere getroffen haben.
Die um sich greifende Konsequenz: Weil jungen Menschen eingeredet wird, sie seien noch nicht so weit, muten sie sich der Welt lieber nicht zu. Wenn wir ihnen ständig sagen, sie müssten erst noch werden, dann verhindern wir, dass sie sich als vollwertige Gegenwart erleben können. Dabei wäre das ja in einer Gerontokratie ein dringliches Desiderat.
Pädagogische Komplizenschaft
Das Schulsystem leistet bis heute kaum einen Beitrag dazu, dass junge Menschen sich zu emanzipierten Subjekten bilden können. Vielmehr lenkt es sie in eine Rolle der Anpassung. Mitdenken ist zwar grundsätzlich erlaubt, aber nur unter Vorbehalt. Wer eigene Fragen stellt, sich kritisch äussert oder neue Perspektiven einbringt, riskiert, als nicht systemkonform zu gelten. Genau dann, wenn Bildung zur echten Auseinandersetzung würde, reagiert das System mit Distanz oder Sanktion, obwohl es nach aussen hin Beteiligung und Offenheit proklamiert. In Wahrheit ist das Mitdenken nur so lange willkommen, wie es sich innerhalb der vorgegebenen Ordnung bewegt. Alles andere stört den Ablauf:
Junge Menschen lernen in der Schule, dass sie bewertet werden, aber sie lernen nicht selber wirksam zu bewerten. Sie lernen, dass nicht ihre Urteilskraft zählt, sondern am Ende, unterm Strich, im Zeugnis das Urteil der Institution. Sie lernen, dass ihre Sicht der Dinge keine nachhaltige Wirkung hat und dass es nicht gefragt ist, ob sie verstehen, was sie tun, sondern ob sie den Erwartungen genügen. Sie haben zu funktionieren.
Statt Urteilskraft zu entwickeln, lernen sie, Prüfungsformate zu bedienen. Statt zu ihrer Verantwortung zu stehen, lernen sie, vorgegebene Aufträge korrekt auszuführen; unabhängig davon, ob sie diese mittragen oder verstehen. Verantwortung wird hier nicht als ethische Haltung erfahrbar, sondern als Pflicht zur Anpassung an fremddefinierte Anforderungen. Statt ihre Gegenwart ernst zu nehmen, sollen sie sich auf ein Leben „danach“ vorbereiten. Doch wann ist dieses Danach? Nach der Schule? Nach der Ausbildung? Nach dem ersten Job?
Schule ist also nicht der Ort, an dem Zukunft eröffnet wird, sondern der, an dem sie systematisch aufgeschoben wird, während gleichzeitig ein bestimmtes, lediglich nachvollziehendes Verhalten gelernt wird. Ein Verhalten, aus dem schliesslich folgt, dass sich junge Menschen der Welt lieber nicht zumuten.
Die Folgen: Eine entmutigte Generation
Was bleibt, ist eine Jugend, die nicht schwach ist, sondern dieentmutigt und zurückgenommen wurde. Sie fühlt sich nicht orientierungslos, weil sie leer ist, sondern weil sie nicht lernen darf, sich selbst als Quelle zu erleben.
Die Selbstverunsicherung, die viele junge Menschen heute empfinden, ist keine psychische Störung. Sie ist das Ergebnis einer systemischen Selbstverkleinerung, ein kulturelles Gaslighting, also eine subtile Form gesellschaftlicher Verunsicherung, bei der junge Menschen lernen, ihrer eigenen Wahrnehmung zu misstrauen.
„Ich weiss noch nicht, wer ich bin.“ „Ich muss erst noch Erfahrungen machen.“ „Ich will mich noch nicht festlegen.“
Diese Sätze sind nicht falsch. Sie sind verzweifelt ehrlich in einer Welt, die ihnen von Anfang an vermittelt: Du bist nicht genug.
Zeichnung einer 12-Jährigen zum Thema
Und genau hier liegt der Kontrapunkt zur gängigen Kritik aus boomererprobten, leistungsfixierten Milieus, die der Generation Z gerne vorwerfen, sie sei zu weich, zu empfindlich, zu bequem. Diese Zuschreibung greift nicht. Was wir beobachten, ist keine verweigernde, sondern eine entmutigte Generation. Eine Generation, die sich – aus genannten Gründen – der Welt nicht mehr zumutet. Nicht, weil sie nichts zu sagen hätte, sondern weil sie früh gelernt hat, dass es nichts ändert, wenn sie es tut.
Natürlich wird dieser Befund reflexartig bestritten. Dann wird auf einzelne junge Menschen aus dem eigenen Umfeld verwiesen: engagierte Patensöhne, politisch aktive Nachbarsmädchen, talentierte Praktikantinnen. Und ja: Diese jungen Menschen gibt es. Sie sind real, sie sind beeindruckend. Aber sie widerlegen nicht das Problem, sondern bestätigen es. Denn die Tatsache, dass sie uns auffallen, zeigt doch gerade, wie sehr wir darauf angewiesen sind, das System mit Anekdoten zu entlasten, statt Strukturen zu verändern.
Was sich jetzt ändern muss
Was es jetzt braucht, ist keine pädagogische Reform und kein neues Modul, sondern ein grundsätzlicher Perspektivwechsel. Eine radikale Umkehr des Blicks. Statt junge Menschen als Vorbereitungsmasse für eine spätere Funktionalität zu behandeln, müssten wir beginnen, sie als Gegenwart zu erkennen: als Menschen, die schon jetzt Bedeutung tragen, Verantwortung haben, wirksam sind.
Junge Menschen brauchen nicht Vertröstung, sondern Vertrauen. Sie brauchen keine Versprechen, dass sie womöglich eines Tages tatsächlich zählen, sondern die Erfahrung, dass sie schon jetzt Bedeutung haben, nicht als potenziell Verwertbare, sondern als Menschen mit Urteilskraft, Verantwortung und Wirkungskraft im Jetzt.
Zwar lernen sie in der Schule, Verantwortung „zu übernehmen“, aber für Aufgaben, deren Zweck sie nicht bestimmen. Ihre Verantwortung besteht darin, Erwartungen zu erfüllen, nicht darin, sich selbst und ihren Fragen gerecht zu werden. In unserem Schulsytem erleben junge Menschen nicht, was Verantwortung tatsächlich ist, denn „Verantwortung übernehmen“ heisst im schulischen Kontext, vorgegebene Aufgaben korrekt auszuführen, unabhängig davon, ob deren Sinn verstanden oder geteilt wird. So lernen junge Menschen, dass ihre Beziehung zur Welt in erster Linie aus funktionaler Erfüllung besteht.
Darin liegt der tiefere Ursprung des Problems: Wenn Bildungsarbeit nicht dazu beiträgt, ein eigenes Weltverhältnis zu entwickeln, sondern dieses Verhältnis als Anpassung definiert, dann wird Verantwortung nicht als ethische Haltung erlebt und reflektiert, sondern als Pflicht zur Leistung im Dienst fremder Erwartungen.
Was junge Menschen zu sagen und beizutragen haben, lässt sich nicht auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, auch wenn wir ihnen das ständig suggerieren. Ihre Perspektiven, ihr Denken, ihr Fragen verdienen es, jetzt gehört und ernst genommen zu werden.
… aus einem Workshop mit jungen Erwachsenen im Jahr 2011
Bildung, die diesen Namen verdient, ist immer emanzipatorische Bildung. Die beginnt jedoch nicht mit der Vermittlung von Inhalten, sondern mit der Entwickung einer Haltung, dass jeder Mensch nicht erst zum Subjekt wird, sondern es schon ist. Bildung in diesem Sinn meint nicht Vorbereitung, sondern Beziehung, nicht Disziplinierung, sondern Zutrauen, nicht Steuerung, sondern eine echte Öffnung zur Welt. Eine Einladung, sich handelnd, denkend und verantwortend in ihr zu verorten.
Dieser Gedanke ist nicht neu. Er ist alles andere als neu. Er ist steinalt, aber er wurde selten so konsequent gedacht wie bei Hannah Arendt. Sie nennt es Natalität: das Prinzip der Geburt, das mit jedem neuen Menschen die Möglichkeit einer neuen Welt eröffnet. Nicht irgendwann. Nicht nach der Reifeprüfung. Sondern in dem Moment, in dem ein Mensch beginnt zu handeln.
Für Hannah Arendt ist Handeln der höchste Ausdruck menschlicher Freiheit: ein spontaner, unabsehbarer Beginn, der im Miteinander geschieht und die Welt verändert. Es ist nicht planbar, nicht messbar, nicht kontrollierbar und gerade deshalb zutiefst politisch. Im Kontrast dazu verlangt Schule von jungen Menschen kein Handeln, sondern Verhalten: angepasst, vorhersehbar, korrekt. Nicht das Beginnen zählt, sondern das Erfüllen. Verantwortung bedeutet dort nicht, sich selbst zur Welt ins Verhältnis zu setzen, sondern Aufgaben richtig zu lösen. Damit bleibt der Raum des Handelns – also jener Raum, in dem Subjektwerdung möglich wird – strukturell verschlossen. (vgl. Hannah Arendt, Vita activa, Kapitel „Das Handeln“, § 24 (vgl. Piper TB 2006).
Wenn wir diesen Moment ernst nehmen, müssen wir auch den jungen Menschen ernst nehmen; nicht als Versprechen auf später, sondern als Realität im Hier und Jetzt. Alles andere ist ein Verrat an ihrer Stimme und an der Welt, die sie mitzubringen imstande wären.
Zurück auf Start: Wie wir der Jugend die Gegenwart verwehren
Dieser Blogpost ist kein Aufruf zur Romantisierung der Jugend. Er ist eine Kritik an einer Gesellschaft, die sich selbst konserviert, indem sie jene kleinhält, die sie erneuern können.
Wir sprechen viel von Zukunft. Von Wandel. Von Transformation. Doch solange wir Angst davor haben, dass junge Menschen jetzt denken, fühlen, handeln und entscheiden – und ihnen deshalb absprechen, dass es zählt, wenn sie es tun – bleibt alles beim Alten, auch wenn wir es Transformation nennen.
Die grösste Bedrohung für überkommene Strukturen ist nicht KI, nicht Globalisierung, nicht Migration, sondern eine junge Generation, die sich ihrer Stimme bewusst wird. Deshalb das Narrativ der Unreife. Weil es trifft, weil es entmutigt, bevor Mut sich regt, weil es die Zukunft kleinmacht, bevor sie aufsteht.
Titelbild: Paul Klee (1932) Zeichen verdichten sich. Zentrum Paul Klee, Bern
Dieser Blogpost ist der dritte von insgesamt vier Beiträgen, die sich mit häufig geäusserten Einwänden gegen den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in schulischen Kontexten auseinandersetzen. Dabei geht es mir nicht um eine vorschnelle Entkräftung, sondern um eine ernsthafte Prüfung: Was sagen diese Einwände über unser Verständnis von Bildung, und was über unser Verhältnis zu Veränderung?
Bildung braucht Begegnung. Sie entsteht nicht im Monolog, sondern im Dialog. Nicht in der Reaktion auf Maschinen, sondern im Widerspruch, im Missverständnis, in der unvorhersehbaren Dynamik menschlicher Gespräche. Bildung ist Selbstwerdung in Beziehung, und dazu braucht es andere Menschen, nicht Maschinen. KI mag Informationen geben aber sie spiegelt uns nicht. Ohne das Du kein Ich.
Dieser Einwand trifft einen Nerv. Er greift nicht nach technischer Funktionalität oder didaktischer Ordnung, sondern nach dem Wesentlichen: dem Menschen. Er berührt das, was in pädagogischen Kontexten als unersetzlich gilt: Beziehung, Resonanz, Subjektwerdung. Deshalb ist er wirksam. Er hat Tiefgang. Er bringt nicht nur ein Argument, sondern eine Haltung ins Spiel und die Sehnsucht nach echter Begegnung, nach einem Gegenüber, das nicht einfach „funktioniert“, sondern antwortet.
Aber der Einwand trifft nicht nur einen Nerv, sondern auch eine Illusion. Denn was in der Schule als „Beziehung“ gilt, ist eher Arrangement als Begegnung.
Die Logik des Einwands
„Alles wirkliche Leben ist Begegnung“. Dieser Satz von Martin Buber ist zum pädagogischen Mantra geworden. Wer so denkt, sieht Bildung nicht als Aneignung von Inhalten, sondern als Prozess des In-Beziehung-Tretens. Das Du macht das Ich möglich. Lernen wird zum dialogischen Prozess der Weltbeziehung. Nicht Stoff, sondern Gespräch. Nicht Leistung, sondern Resonanz. Nicht Steuerung, sondern Berührung.
Auch drei weitere Persönlichkeiten, die zum Thema Bildung Wertvolles sagen können, denken in dieser Linie: Gert Biesta, Hartmut Rosa und Hannah Arendt. Ihre Perspektiven verdeutlichen, wie Bildung verstanden werden kann.
Gert Biesta spricht davon, dass Bildung dann im Spiel ist, wenn wir unterbrochen werden, wenn etwas unseren gewohnten Denkfluss stört. Das kann ein Gespräch sein, das uns zum Nachdenken bringt. Eine Erfahrung, die nicht ins Schema passt. Oder eine Frage, auf die wir keine Antwort wissen. Bildung beginnt für ihn nicht dort, wo wir möglichst viel wissen oder können, sondern dort, wo wir uns irritieren lassen. Wo wir gezwungen sind, neu hinzuschauen. Wo wir spüren, dass wir nicht einfach weitermachen können wie bisher.
Biesta, G. J. J. (2014). The Beautiful Risk of Education: What Is Educating for the Future? London: Routledge. Biestas Verständnis von „Bildung durch Unterbrechung“ findet sich insbesondere in diesem Werk, das sich kritisch mit sicherer, zielorientierter Bildung auseinandersetzt.
Und KI? Sie kann nicht unterbrechen. Sie folgt der Logik des Inputs. Doch sie kann die Bühne freihalten, auf der Unterbrechung geschehen kann.
Hartmut Rosa beschreibt Bildung als Resonanzprozess, als Beziehung zur Welt, die nicht durch Zugriff, sondern durch Berührung geprägt ist. Resonanz bedeutet nicht, dass etwas zurückkommt, sondern dass etwas in Schwingung gerät.
Rosa, H. (2016). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dieses Buch entwirft die berühmte Resonanztheorie, in der Bildung als Beziehung zur Welt verstanden wird.
Und KI? Sie kann diese Schwingung nicht selbst empfinden, aber sie kann sie ermöglichen, indem sie Informationen nicht nur bereitstellt, sondern sie in Anschlussfähigkeit überführt. Ihre Stärke liegt nicht im Inhalt, sondern in der Art, wie sie ermöglicht, dass etwas als bedeutsam erfahren wird.
Hannah Arendt wiederum begreift Bildung als Eintritt in eine gemeinsame Welt. Bildung ist für sie kein individueller Entfaltungsprozess, sondern eine Verantwortung gegenüber der Welt, die uns vorangegangen ist, und die wir weitergeben.
Arendt, H. (1958). Die Krise in der Erziehung. In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I.[Texte 1954–1964] (S. 255–276). München: Piper Verlag. Der Aufsatz „Die Krise in der Erziehung“ bildet den pädagogischen Kern von Arendts Reflexion über Bildung, Verantwortung und Institutionen. Obwohl Arendt insgesamt nur selten pädagogische Fragen explizit behandelt hat, ist gerade dieser Text ihr wichtigster Beitrag zu erziehungswissenschaftlichen Debatten.
Und KI? Sie hat keine Welt und kein Gedächtnis. Doch sie stellt Information bereit, das in die Welt hineinführt. Sie eröffnet Räume, in denen Welt begegnet werden kann – nicht als Besitz, sondern als Aufgabe.
Diese drei Positionen teilen die Überzeugung: Bildung ist nicht planbar, nicht linear, nicht technisch steuerbar. Sie geschieht im Widerstand, in der Unterbrechung, im Gegenüber. Bildung ist nicht Komfortzone, sondern Zumutung.
Künstliche Intelligenz kann, wenn sie klug eingesetzt wird, genau diesen Zumutungen Raum geben: Sie ermöglicht es, irritierende Rückfragen zu formulieren, ohne sich zu exponieren. Sie eröffnet alternative Denkwege, zeigt Widersprüche auf und bietet die Chance, sich mit einer fremden Perspektive auseinanderzusetzen. KI ersetzt nicht das Gegenüber, aber sie schafft Momente, in denen der Denkprozess sich löst vom Erwartungsdruck und von der Rolle. Und genau darin liegt ihr bildendes Potenzial.
Genau deshalb wirkt der dritte Einwand („Beziehung und Begegnung“) auf den ersten Blick so grundlegend: Denn vieles von dem, was wir mit Bildung und Beziehung verbinden – Schweigen, Irritation, ein echtes „Du“ – scheint jenseits technischer Vermittlung zu liegen. KI kann keine Fremdheit verkörpern, keine Lebensgeschichte mitbringen, keine leibliche Präsenz entfalten. Sie ist kein Widerspruch, sondern Reaktion. Kein Mensch, sondern ein System.
Und doch beginnt genau hier der zweite Blick: Was KI fehlt, macht sie zugleich zu einem Resonanzraum ohne Erwartungsdruck. Gerade weil sie keine Biografie, keine Erziehung, keine Emotionen mitbringt, entsteht ein Freiraum. Kein Ersatz für Beziehung aber ein Möglichkeitsraum, in dem Beziehung sich anders ereignen kann.
Gerade weil KI keine Beziehung ersetzen kann, lohnt es sich zu fragen, wie Beziehung in der Schule überhaupt möglich wird, und welche Formen von Beziehung dort tatsächlich gelebt werden. Denn es ist gar nicht die KI, die einer echten Begegnung im Weg steht, sondern ein System, das Beziehung zur Pflicht erhebt und Begegnung in Rollen presst.
Warum der Einwand stimmt – aber nicht gegen KI spricht
So plausibel der Einwand also klingt, und so sehr er sich auf humanistische Bildungstraditionen beruft, so wenig spiegelt er die Realität wider, die viele Kinder heute in der Schule erleben.
Denn was Biesta unter Unterbrechung versteht, was Rosa als Resonanz beschreibt und was Arendt als Eintritt in eine gemeinsame Welt fordert, das bleibt im schulischen Alltag systembedingt eine Theorie.
Zwar gibt es heute vielerorts sogenannte offene Lernsettings oder projektartige Lernformen, doch auch diese sind hochgradig durchgetaktet, mit Aufträgen versehen und auf vordefinierte, allgemeine Lernziele ausgerichtet. Selbstorganisation wird dabei mit der Organisation fremder Vorgaben gleichgesetzt.
Statt tatsächlicher Resonanz dominieren Kompetenzraster, die eher Leistungsmessung ermöglichen sollen als Beziehung zu fördern. Und was als Weltorientierung (Arendt) erscheinen könnte, wird in Lehrpläne gepresst, die nicht dem Erleben, sondern der Steuerung dienen, denn sie richten sich nicht danach, was im lernenden Menschen in Bewegung gerät, sondern danach, was sich im System erfassen, planen und kontrollieren lässt.
Lehrpläne entstehen oft aus der ehrlichen Absicht, Schule in eine neue Richtung zu lenken. So auch der Lehrplan 21 in der Schweiz: Er spricht von Selbstständigkeit, überfachlichen Kompetenzen und Bildung in einer komplexen Welt. Doch diese Begriffe bleiben im Schulalltag vielfach leere Hüllen.
Nicht weil der Lehrplan schlecht wäre, sondern weil das, was er verändern will, tiefer sitzt: das Hidden Curriculum, das Verhalten statt Bildung belohnt, Anpassung statt Denken fördert, Steuerung statt Suche organisiert. Dieses unsichtbare Drehbuch schulischer Normalität ist nicht neu. Es ist das eigentliche Fundament der Schule, und es ist erstaunlich resistent gegenüber offiziellen Reformen.
Der Lehrplan 21 konnte dem bislang wenig entgegensetzen. Nicht weil er falsch gedacht ist, sondern weil Struktur stärker ist als Intention. Die tägliche Praxis reproduziert nicht das, was im Lehrplan steht, sondern das, was Schule schon immer war: ein System zur Ordnung von Verhalten, Zeit und Wissen.
Das Hidden Curriculum von Schule ist nicht einfach ein Nebeneffekt, sondern die eigentliche Grammatik ihrer täglichen Praxis. Es folgt einer Logik der Steuerung: Was ein Kind bewegt, hat nur dann Platz, wenn es sich einem Ziel zuordnen lässt: einer Kompetenz, einem Test, einer Beurteilung.
Doch Lernen folgt keiner Zielgerade. Es wächst in Schleifen, tastet sich voran, scheitert, schweift ab. Lehrpläne werden – so modern sie daherkommen mögen – in dieser Realität nicht als Einladung erlebt, sondern als Taktgeber. Nicht die schriftlich formulierte Intention ist entscheidend, sondern das, was sich im Alltag durchsetzt. Und das sind Zeitdruck, Vergleich, Verhaltenserwartung, Stoffmenge.
Und jetzt: Beziehung steht in der Schule unter denselben strukturellen Vorzeichen. Sie wird eingefordert, ritualisiert, standardisiert, ist im besten Fall gut gemeint, im Regelfall funktionalisiert. Was als Nähe erscheint, ist eine pädagogisch inszenierte Form der Kontrolle. Was als Dialog bezeichnet wird, ist eine asymmetrische Kommunikation: mit klar verteilten Rollen, Erwartungen und Bewertungen.
In dieser Konstellation wird verständlich, warum ausgerechnet der Einwand, KI gefährde die Beziehung, so paradox ist:
Nicht die KI bedroht die Beziehung zwischen Menschen, sondern ein Schulsystem, das Beziehung in festgelegte Rollen und Erwartungen zwängt. Wenn die Schule vorgibt, Beziehung vor der KI schützen zu wollen, dann verteidigt sie damit nicht Beziehung, sondern ein System, das echte Begegnung schon längst verhindert.
KI kann weder Schule noch Beziehung ersetzen. Aber sie kann letztere befreien, gerade weil sie keine Erwartungen an den Menschen stellt und niemanden in eine pädagogische Rolle zwingt. KI schafft Räume jenseits von Funktion, Rolle und Bewertung, und so wird echte Beziehung mindestens wieder denkbar.
Vier Gründe, warum das pädagogische Beziehungsideal an seiner eigenen Praxis scheitert
Beziehung ist nicht gleich Beziehung . Was Schule unter „Beziehung“ versteht, ist selten echte Begegnung. Es handelt sich um arrangierte, hierarchische, pädagogisch gerahmte Interaktionen, die primär der Instruktion, Bewertung und Verhaltenssteuerung dienen. Ein System, das Prüfungen, Stundenpläne und Stoffvorgaben über das Soziale stellt, feiert die Beziehung, die es selbst strukturell verhindert. Begegnung wird dort zur pädagogischen Technik, wo sie eigentlich Offenheit, Unsicherheit und Gegenseitigkeit bräuchte. Wer das Du verteidigt, sollte fragen: Wieviel Ich darf in der Schule überhaupt entstehen? Und wie oft bedeutet Beziehung hier asymmetrische Anpassung an eine Rolle?
Das Soziale ist nicht automatisch gut. Gruppenzwang, Konformität, Ausgrenzung, Konkurrenz – auch das ist Schulrealität. Soziales Lernen kann bilden oder brechen. Es kann Resonanz stiften oder Rollenspiele erzwingen. Viele Kinder erleben Schule nicht als sozialen Möglichkeitsraum, sondern als Bühne, auf der sie funktionieren müssen. Beziehung kann befreien aber auch fesseln. Und das Soziale, das wir so hochhalten, ist in der Schule durchsetzt von Erwartungen, Sanktionen, Bewertungen. Wer Bildung in Beziehung verortet, muss auch die Gewalt der Beziehung thematisieren, vor allem dort, wo das Soziale durch institutionelle Strukturen normiert und kontrolliert wird.
KI ersetzt keine Beziehung, aber sie entlastet sie. Die Angst, KI könnte das Du verdrängen, verkennt ihr eigentliches Potenzial: Sie ersetzt nicht das Du, sondern den Zwang, dass das Du sich pädagogisch verhalten muss. Nicht jeder Mensch muss eine Lehrperson sein. Nicht jede Interaktion braucht Bewertung. Nicht jedes Gespräch muss ein Ziel verfolgen. Gerade indem KI das Funktionale übernimmt – die Wiederholung, die Erläuterung, die Struktur –, schafft sie Räume für das Menschliche, für Begegnung ohne pädagogisches Programm. Beziehung wird wieder möglich, weil sie nicht mehr verpflichtend, nicht mehr funktionalisiert ist.
KI ermöglicht eine neue Form der Intimität mit sich selbst. Wenn Bildung in Beziehung geschieht, dann auch in Beziehung zu sich selbst. Nicht wenige Schüler:innen und Lehrpersonen erleben die Schule nicht als Ort, an dem sie sich selbst begegnen dürfen, sondern als Raum permanenter Fremddefinition. KI hingegen hingegen fragt nicht nach sozialer Passung. Sie erwartet nichts, sie urteilt nicht, sie vergleicht nicht. Sie ist ein Raum, in dem Fragen erlaubt sind: ohne Blick, ohne Reaktion, ohne Performanz. Das ist kein Dialog. Aber es ist ein Möglichkeitsraum, in dem sich ein Selbstverhältnis entfalten kann, ohne dass es auf Sichtbarkeit und soziale Validierung angewiesen ist.
Doch mit dieser Kritik allein ist es nicht getan. Wenn ich die gängige schulische Praxis von Beziehung, Begegnung und pädagogischer Nähe so grundlegend in Frage stelle, dann muss ich auch neu bestimmen, worauf es im Kern ankommt:
Was genau steht auf dem Spiel, wenn ich sagee, dass KI Beziehung nicht ersetzt und dennoch das Verhältnis zwischen Mensch, Bildung und Institution neu ordnet? Welche Missverständnisse über Schule, über das Soziale und über die Rolle von Technologie halten sich hartnäckig, und was wäre stattdessen zu klären?
Die folgenden sechs Klärungen versuchen, genau das sichtbar zu machen. Sie sind kein Plädoyer für künstliche Intelligenz sondern eine Einladung, das Verhältnis von Beziehung, Struktur und Bildung neu zu denken. Ohne Illusionen, aber mit Ernst.
Sechs notwendige Klärungen
Beziehung ist nicht dasselbe wie Begegnung. Was in der Schule als Beziehung bezeichnet wird, ist ein pädagogisch durchorganisiertes Arrangement. Lehrpersonen sind qua Rolle verpflichtet, sich als Beziehungsangebot zu inszenieren: freundlich, zugewandt, präsent. Doch diese Beziehung folgt einem Drehbuch: Fragen, Feedback, Bewertung, Förderung. Das sogenannte Du ist kein wirkliches Gegenüber, sondern eine pädagogisch codierte Figur. Begegnung hingegen ist ereignishaft, unplanbar, verletzlich. Sie lässt sich nicht herstellen, nur ermöglichen, und genau das geschieht im schulischen Alltag selten und jedenfalls nicht intentional.
Das Soziale ist keine Garantie auf Bildung. Schulischer Alltag ist voller sozialer Interaktionen, doch auch die sind funktionalisiert: für Gruppenarbeiten, Disziplinierung, Leistungskontrolle. Gemeinschaft wird simuliert, nicht gelebt. Freundschaften sind erwünscht, solange sie dem Lernziel nicht im Weg stehen. „Das Soziale“ kann also stärken, befreien oder fesseln. Es kann Resonanz erzeugen oder Konformismus, Gruppendruck, Ausschluss. Die einen erleben das Soziale in der Schule als wohltuend, andere als belastend oder entmutigend. Nicht jedes soziale Miteinander bildet. Manche sozialen Strukturen untergraben sogar das, was sie zu ermöglichen vorgeben.
KI ist keine Beziehung, aber sie ist eine Form von Resonanz. Resonanz im Sinne Hartmut Rosas meint eine wechselseitige Berührung. KI kennt diese Berührung nicht, aber sie ist responsiv. Sie antwortet, wiederholt, erklärt, verweilt, verlangsamt, differenziert ohne zu ermüden, ohne zu werten. Sie bietet keinen Spiegel des Selbst, aber eine Rückmeldung im Prozess. Diese Rückmeldung ist nicht menschlich aber dem Menschlichen sehr ähnlich, und vor allem ist sie jederzeit verfügbar. Und oft ist das genau der Freiraum, den es braucht: jenseits des sozialen Blicks, jenseits von Peinlichkeit, Druck oder Fremdzuschreibungen. KI ermöglicht Resonanz ohne soziale Kosten.
Erst wenn Beziehung nicht mehr Pflicht ist, wird sie möglich. Das System Schule macht Beziehung zur Erwartung: zwischen Lehrperson und Kind, innerhalb der Klasse, im Kollegium. Wer sich entzieht, gilt als beziehungsunfähig oder störend. Doch Beziehung lässt sich nicht erzwingen und schon gar nicht pädagogisch einfordern. KI ersetzt das Du nicht, aber sie bricht das Rollenspiel auf. Sie entzieht sich der pädagogischen Dramaturgie und genau darin liegt ihre befreiende Kraft. Wenn niemand eine Rolle spielen muss, entsteht Raum für etwas Eigensinniges. Vielleicht sogar für echte Begegnung.
Nicht jedes Lernen braucht ein Gegenüber. Es gibt Lernprozesse, die wollen still wachsen. Ohne Kommentierung, ohne Kontrolle. Manche Fragen entwickeln sich über Wochen. Manche Gedanken brauchen Wiederholung, Rückzug, Eigenzeit. In der Schule ist das kaum möglich: Der nächste Auftrag wartet, der nächste Test kommt bestimmt. KI hält diesen Raum offen: eine stille Instanz, die bleibt, auch wenn niemand sonst mehr zuhört. Nicht weil sie menschlich ist, sondern weil sie nicht stört.
Beziehung entsteht dort, wo das Erwartbare endet. Schulen sind Orte der Erwartung: Was gelernt wird, wie „man“ sich verhält, wann „man“ antwortet. Begegnung hingegen beginnt dort, wo etwas passieren darf, das nicht im Skript steht. Wo Stille Raum bekommt und wo Missverständnisse nicht sofort korrigiert, sondern ausgehalten werden. KI kann genau dafür Platz schaffen, gerade weil sie nichts erwartet. Keine Performance, kein Verhalten, keine Rolle. Und das macht sie zu einem Resonanzraum. Nicht als Mensch, sondern als Ermöglichung des Menschlichen.
Was KI wirklich leistet – und warum ausgerechnet sie
KI ist keine Bezugsperson, kein empathisches Gegenüber, aber sie ist eine geduldige, reaktive Instanz, die Lernende in einer Weise begleitet, wie es der schulische Alltag nicht leisten kann.
KI lässt mich fragen, ohne mich zu bewerten. Sie antwortet, ohne mich zu unterbrechen. Sie erklärt, ohne zu ermüden. Sie bleibt unabhängig von Tagesform, Gruppendruck oder Gesichtsausdruck da für mich. Sie kennt keine Noten, keine Ironie, keine Verlegenheit. Sie stellt keine Gegenfragen, die mich blossstellen könnten. Sie funktioniert, egal ob Montagmorgen oder Freitagmittag.
Und doch kommt an dieser Stelle oft ein Einwand: Ist das nicht gefährlich? Ist KI verlässlich genug? Macht sie nicht auch Fehler, „halluziniert“ sogar? Ist das zu verantworten, insbesondere bei Kindern?
Diese Fragen sind berechtigt, und sie verkennen zugleich etwas Grundsätzliches: Der Einsatz von KI enthebt nicht der Verantwortung. Weder die Lehrperson noch die Schule noch die Gesellschaft dürfen sich aus der Verantwortung zurückziehen, wenn KI genutzt wird. Aber das war und ist ja bei jedem Medium so. Auch Bücher enthalten (oder sind ein) Fehler. Auch Lehrer:innen irren sich. Auch Wikipedia ist nicht unfehlbar. Entscheidend ist nicht, ob KI perfekt ist, sondern ob wir lernen, mit ihren Grenzen umzugehen und ob wir den Mut aufbringen, Lernende zu begleiten, anstatt ihnen alle Wege vorzuschreiben.
Die KI ersetzt nicht das Du. Aber sie ersetzt den Druck, dass das Du funktionieren muss. Sie bricht mit dem Zwang zur pädagogischen Performance, zum pädagogischen Blick, zur Rolle als „Lehrkraft“. Sie ersetzt nicht Beziehung, aber sie schafft einen Möglichkeitsraum, in dem Beziehung sich anders ereignen kann als bisher in der Schule. KI ersetzt Schule nicht, aber sie zeigt, wie eng Schule gebaut ist, wenn Lernen nur in bestimmten Formaten, Räumen und Rollen gedacht werden darf.
Viele der Einwände gegen KI gründen auf einem verkürzten Verständnis: KI sei ein neues Werkzeug, nicht mehr, nicht weniger. Doch darin liegt ein Denkfehler. Werkzeuge folgen einer klaren Absicht, sie sind Mittel zum Zweck. KI aber verändert die Bedingungen, unter denen Zwecke überhaupt formuliert werden. Sie ist kein neutraler Gegenstand, sondern ein dialogisches System. Sie ist interaktiv, dynamisch, prozessual. Sie kann als Werkzeug benutzt werden, ja, aber sie bleibt dabei nicht Werkzeug. Sie beobachtet Sprache, reagiert, moduliert Tempo und Tiefe, kontextualisiert.
KI ist kein Lehrmittel, sondern ein Gegenüber eigener Art. Sie ist nicht „menschlich“, nicht empathisch, aber strukturell anschlussfähig an Denkprozesse. Und genau deshalb kann sie nicht wie ein Werkzeug einfach ausgeschaltet werden, wenn es unbequem wird. Sie fordert pädagogische Verantwortung, nicht weil sie autonom ist, sondern weil sie Resonanz erzeugen kann, ohne menschlich zu sein.
Was jetzt auf dem Spiel steht
Wenn wir die Möglichkeiten von KI ernst nehmen, dann steht nicht weniger als das bestehende Schulmodell zur Disposition, denn vieles, was heute als pädagogisch notwendig gilt (Struktur, Rollen, Klassen, Lehrpläne) ist historisch gewachsen, nicht naturgegeben. KI deckt diese Konstruiertheit auf, nicht durch Kritik, sondern durch ihre Andersartigkeit. Sie funktioniert anders und damit zeigt sie, dass es auch anders geht. Drei Perspektiven aus der Bildungsphilosophie helfen, das Potenzial dieser Situation zu erkennen:
Hannah Arendt erinnert uns daran, dass Bildung immer eine Einladung in die gemeinsame Welt ist und nicht in ein Curriculum. Dort, wo Schule vorgeplante Stoffe verteilt, verhindert sie jene Weltbegegnung, die Bildung eigentlich meint. KI kann nicht jene Art von Weltbezug stiften, die Arendt meint: eine geteilte, gemeinsame Welt, in der Menschen als Handelnde in Erscheinung treten. KI erschafft keine geteilte Welt im arendtschen Sinne, aber sie kann individuelle Weltzugänge eröffnen, neue Perspektiven anbieten und so helfen, sich auf Welt (überhaupt wieder) zu beziehen statt auf die nächste Prüfung.
Gert Biesta versteht Bildung als Unterbrechung. Nicht das reibungslose Funktionieren bildet, sondern die Irritation. Bildung geschieht dort, wo ich gestört werde, wo ich mich nicht mehr bloss als Konsument von Lerninhalten verstehe, sondern als Antwortende:r in einer offenen Welt. Schule organisiert bisher das Gegenteil: Sie lässt keine Unterbrechung zu, keine Lücke, keine Störung. Sie glättet Prozesse, minimiert Friktionen, kontrolliert Kommunikation. Selbst projektartige Lernformen werden so didaktisch durchgeplant, dass nichts Überraschendes mehr Platz hat. Was fehlt, ist das Moment der echten Konfrontation mit dem Unvorhergesehenen, mit dem Anderen, mit sich selbst.
Bis heute sind Lehrpersonen, die an einem stoffzentrierten, disziplinierenden Unterricht festhalten, davon überzeugt, dass sie genau dadurch im Sinne Biestas „irritieren“, indem sie Schüler:innen mit einem Übermass an Stoff konfrontieren, ihre Deutungen kontrollieren und ihre Lebenswelt abwerten. Damit inszenieren sie eine Überforderungspädagogik als Widerstand gegen Konsum, als Unterbrechung der „digitalen Verblödung“ und übersehen, dass sie auf diese Weise die Selbsttätigkeit unterbinden, dass sie die Lernenden instrumentalisieren und Bildung zur Belehrung degradieren. Doch Biestas Idee von Unterbrechung meint nicht die pädagogische Erschütterung von oben, sondern das Offenhalten eines Raumes, in dem etwas geschehen darf, das nicht geplant ist.
KI kann dieses Momentum nicht ersetzen aber sie kann Bedingungen schaffen, unter denen Unterbrechung wieder möglich wird: indem sie Lernende aus dem Takt der Klassengemeinschaft entlässt, individuelle Tempi ermöglicht und Räume öffnet, in denen Fragen stehen bleiben dürfen, ohne sofort „beantwortet“ zu werden.
Hartmut Rosa beschreibt Bildung als einen Prozess wechselseitiger Berührung. Schule hingegen organisiert Lernprozesse auf eine Weise, die Resonanz, Begegnung und Berührung systematisch erschwert: durch strikte Zeitraster, leistungsbezogene Gruppierungen, und durch einen Fokus auf Output-Kontrolle. Sie arbeitet mit stofflicher Verdichtung, struktureller Trennung und einem Rollenverständnis, das Subjektivität eher diszipliniert als freisetzt. Für Schüler:innen ist Schule kein einladender Weltzugang, sondern zuerst eine geschlossene Anstalt pädagogischer Erwartungen, Taktung und Bewertung. Resonanz ist da selten, weil die Bedingungen sie verhindern.
KI kann keine Resonanz garantieren. Aber sie kann dann eine Resonanzmöglichkeit bereitstellen, wenn der Mensch, der mit ihr interagiert, in Berührung mit sich selbst, mit Sprache, mit Welt kommt. Nicht weil die Maschine fühlt. Sondern weil sie antwortet, ohne zu unterbrechen.
Und was heisst das jetzt – auch mit Blick auf Beziehung?
Es heisst: Schule muss aufhören, Lernen als Verhalten zu verstehen. Lernen ist kein steuerbarer Prozess, sondern ein Suchprozess. KI macht sichtbar, wie viele Kontrollmechanismen des Schulsystems diesem Prozess im Weg stehen, gerade dort, wo sie als „pädagogische Beziehung“ getarnt auftreten.
Es bedeutet: Schule muss Räume schaffen, in denen Fragen wachsen dürfen und nicht nur Antworten abgefragt werden. Schule muss sich von alten Selbstverständlichkeiten, Rollen und Bildern verabschieden, gerade von der Vorstellung, dass schulische Nähe genügt, um „echte Beziehung“ herzustellen; ein Begriff, der als pädagogischer Koffer vollgepackt ist mit allem, was dem System dient.
Die grösste pädagogische Selbsttäuschung ist der Glaube, Beziehung liesse sich herstellen. Diese Idee nährt ein ganzes Arsenal an Massnahmen, Methoden und Manuals und verkennt dabei: Wo Beziehung zum Ziel wird, verliert sie ihren Sinn.
KI ist kein Bildungs- und kein Beziehungswunder. Sie ist ein Störfaktor. Und genau deshalb eine Chance. Ihre Stärke liegt darin, dass sie keine pädagogischen Loyalitäten kennt, keine historischen Gewohnheiten schützt und keine institutionellen Tabus aufrechterhält.
Sie ist nicht in der Logik von Schule gefangen und schafft gerade dadurch eine paradoxe Möglichkeit: Beziehung nicht zu ersetzen, sondern sie von ihrer pädagogischen Verformung zu befreien.
In unserer Gesellschaft ist ein Narrativ vorherrschend, das kaum jemand infrage stellt, weil es so vernünftig klingt: Verantwortung übernehmen, an sich arbeiten, nicht aufgeben. Doch was als Selbstermächtigung daherkommt, ist in Wahrheit die ideologische Absicherung eines Systems, das seine Zumutungen auf das Individuum abwälzt – und es dann auch noch dafür verantwortlich macht, dass sich die grossen Fragen unserer Zeit lösen: das Bildungssystem, die Wirtschaft, die Klimakrise. Alles scheint davon abzuhängen, ob wir genug reflektieren, uns genug bemühen, uns ausreichend selbst optimieren. Dieser Blogpost plädiert dafür, diese Illusion zu durchbrechen und gemeinsam neu zu denken, was Veränderung eigentlich braucht. Denn nicht du bist das Problem. Es sind die Verhältnisse, die dich allein lassen, und die du allein nicht ändern kannst.
Es ist bemerkenswert, wie zäh sich dieses Narrativ nicht nur hält, sondern den öffentlichen Diskurs derart bestimmt, dass es kaum noch entlarvt werden kann. Es zieht sich durch sämtliche Bereiche unserer Gesellschaft: In die Sprache von Lehrpersonen, in die Logik von Schulnoten, in die Rhetorik von Coaching-Angeboten, Achtsamkeitskursen, LinkedIn-Postings, Führungstrainings, Gesundheitsapps. Es lautet in unzähligen Varianten, aber immer mit demselben Subtext:
„Du musst dich nur genug anstrengen. Sei achtsam, sei aktiv, bleib positiv. Verändere dich, dann verändert sich der Rest.“
Da ist ein Welt- und Menschenbild entstanden, das freundlich daherkommt, aber brutal wirkt. Denn was es im Kern sagt, ist dies: Wenn dir das alles nicht gelingt, liegt’s an dir bzw. an sonst jemandem, der es „endlich ändern könnte“.
Aber es liegt nicht an dir oder mir oder ihm oder ihr. Die Welt um uns brennt, und man reicht uns eine Atemübung, oder ein Achtsamkeitsseminar, oder einen Podcast über Resilienz. Als ob persönliche Gelassenheit genügen würde, um strukturelle Brände zu löschen.
Genau darin zeigt sich die Absurdität eines Narrativs, das scheinbar Hilfe anbietet, aber im Kern Verantwortung verschiebt; nicht nur für das, was misslingt, sondern auch für das, was gelingen soll. Es tut so, als läge die Kraft zur Veränderung in der Summe individueller Anstrengung.
Dadurch wird verschleiert, wie sehr unsere Möglichkeiten von den Verhältnissen abhängen, in denen wir leben.
Nämlich in einer Zeit multipler Erschütterungen. Kriege, die kein Ende nehmen, ein Klimakollaps, der längst nicht mehr vor der Tür steht, sondern das Haus bereits unterspült, Pandemien, die das öffentliche Leben über Jahre lähmen, Ökonomien, die mit Daten und Wachstum jonglieren, aber reale Menschen entwerten und eine Bildungskultur, die Kindern früh einbläut, dass sie ihren Wert erst erarbeiten müssen.
Und während all das geschieht, während alles komplexer und brutaler wird, wird das Individuum zum letzten Anker der Hoffnung erklärt. Nicht Gerechtigkeit, nicht Solidarität, nicht Veränderung der Strukturen, sondern: Du musst dich ändern. Dann wird alles gut. Dann wird dein Leben gelingen. Dann wirst du gesund, erfolgreich, resilient. Dann wirst du sichtbar, achtsam, leistungsfähig – und endlich richtig.
Diese systemische Illusion ist die gefährlichste Ideologie unserer Zeit. Nicht nur weil sie falsch ist, sondern weil sie so plausibel klingt. Weil sie so tröstlich daherkommt. Dabei zerstört sie das Gespür für Gerechtigkeit. Sie zerstört das Verständnis dafür, wie tiefgreifend soziale und ökonomische Ungleichheit verankert ist. Sie pulverisiert die Vorstellung davon, dass wir unsere Lebensverhältnisse nur gemeinsam und strukturell verändern können.
Mehr noch: Sie verhindert, dass sich ein falsches Verständnis von den Bedingungen für Veränderung überhaupt erst entwickeln kann. Wer glaubt, das Entscheidende liege an ihm oder ihr selbst, stellt keine Fragen mehr an die Verhältnisse. Das wirkt nicht nur entpolitisierend, sondern lähmend, weil es das System zum blinden Fleck macht und Veränderung zur Privatsache erklärt.
Gerade diese Plausibilität macht die Illusion so gefährlich: Sie klingt vernünftig, empathisch, verantwortungsvoll, und doch wirkt sie in die entgegengesetzte Richtung. Sie macht den Einzelnen und die Einzelne zum Träger und zur Trägerin kollektiver Lasten, ohne ihm oder ihr kollektive Mittel zur Verfügung zu stellen. Und so entzieht sie der Gesellschaft die Fähigkeit zur systemischen Einsicht. Was bleibt, ist eine Sprache der Erschöpfung, nicht der Veränderung.
Das Märchen von der Selbstoptimierung
Dieser Vorgang beginnt früh, bereits in der Schule, wenn Kinder lernen, dass ihr Wert von ihrem Fleiss abhängt, dass Leistung belohnt wird, und dass sich Anstrengung auszahlt. Wenn sich diese Anstrengung nämlich nicht auszahlt, dann war sie eben nicht gross genug. So einfach ist das. So brutal ist das.
Die strukturellen Unterschiede zwischen Kindern, also ihre Herkunft, ihr soziales und kulturelles Kapital, ihre Sprache, ihr psychisches Fundament und ihr Zuhause, verschwinden hinter einer pädagogischen Erzählung, die Chancengleichheit verspricht, als wäre die Gleichheit des Anspruchs schon die Gleichheit der Bedingungen.
Wir übernehmen diese Vorstellung, machen sie zu unserer eigenen und erzählen sie weiter: an Elternabenden, in Personalgesprächen, in Therapieangeboten und in der Sprache des Fortschritts. Mit jeder Wiederholung wächst das Missverständnis, dass Entwicklung eine Frage des Wollens sei und Scheitern ein Hinweis auf individuelle Defizite.
Bereits die Schule ist also nicht einfach ein Ort des Lernens, sondern ein Ort der Wiederholung. Sie wiederholt eine Erzählung, die längst zur Struktur geworden ist: Wer sich anstrengt, wird belohnt.Wer scheitert, war nicht fleissig genug. Diese Erzählung bestimmt nicht nur, was gesagt wird, sondern formt auch, was geschieht. Und umgekehrt bestätigt die tägliche schulische Praxis genau diese Erzählung. Beide – Praxis und Erzählung – greifen ineinander, bestärken sich gegenseitig. Sie bilden einen Kreislauf aus Sinn und Struktur, aus Sprache und Handlung. So wird aus dem Narrativ eine Wirklichkeit. Und aus einer Wirklichkeit ein System.
Ein System, das nicht auf Einsicht angelegt ist, sondern auf Reproduktion. Schule als geschlossene Schleife: Sie produziert genau das Denken, das sie selbst am Leben hält. Nicht aus Böswilligkeit, nicht weil Lehrpersonen das so wollen, sondern weil sie im Auftrag eines Systems handeln, das Verantwortung individualisiert und Strukturen unsichtbar macht.
Schule ist der Ort, an dem Kinder lernen sollen, wie die Welt funktioniert, und sie lernen dort zuallererst, dass sie selbst verantwortlich sind für das, was aus ihnen wird.
Das Schulsystem ist nicht darauf ausgerichtet, Menschen zu verstehen, sondern darauf, sie zu klassifizieren, zu sortieren, zu formalisieren, damit sie später in ein System passen, das ihnen dann sagt, ob sie es geschafft haben.
Das pädagogische Leistungsversprechen – wenn du dich anstrengst, wirst du etwas erreichen – ist die Grundmelodie schulischer Kommunikation. Sie wird so oft wiederholt, bis sie im Selbstbild der Schüler:innen als Wahrheit ankommt.
Was Kinder in der Schule lernen, ist dies: Wer scheitert, war nicht fleissig genug. Wer nicht mithalten kann, gilt als Störfaktor, nicht als Anlass zum Innehalten, sondern als Argument für Separation. Wer sich dem System nicht nahtlos anpasst, soll ausgegliedert werden. Wer zu leise, zu laut, zu müde, zu unsicher ist, ist kein Mensch mit Geschichte, sondern ein Fall. So wird die pädagogische Sprache zur politischen Botschaft: Nicht alle gehören dazu. Und wer nicht funktioniert, wird – nach einer Phase der Sanktionierung – systematisch aussortiert.
Aus systemischer Perspektive ist Schule gezwungen, Menschen so zu bewerten, dass individuelle Leistung zählt, aber strukturelle Bedingungen unsichtbar bleiben.
Diese Prägung begleitet viele Menschen ein Leben lang. Sie bestimmt, wie sie über sich selbst denken, wie sie mit Krisen umgehen, wie sie mit der Welt in Beziehung treten. Denn was in der Schule beginnt, endet nicht mit dem Schulabschluss. Es wandert mit: an die Universität, in die Arbeitswelt, in die Therapie, ins Coaching. Dieselbe Logik der Verantwortungsverschiebung erscheint später in sanfterer Sprache, unter neuen Begriffen, mit neuen Versprechen. Doch der Geist bleibt derselbe: Nicht die Welt soll sich ändern, du sollst dich ändern.
Wie Selbstverantwortung zur Selbstbeschwichtigung wird
In dieser Welt, die ja komplett aus den Fugen gerät, wird das Bedürfnis nach Halt immer stärker. So entstehen Räume der Reflexion, der Orientierung, der Neujustierung: Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung, resilienzfördernde Programme, achtsamkeitsbasierte Therapien, Beratungsformate aller Art. Sie versprechen Stabilisierung, Selbstwirksamkeit und neue Perspektiven. Doch sie operieren im Modus des Trojanischen Pferdes: Sie deuten strukturellen Druck in persönliche Herausforderung um und machen individuelles Verhalten zum Schlüssel für gesellschaftliche Lösungen. Der Gaul kommt im Gewand der Freiheit daher, doch im Inneren trägt er eine andere Botschaft: Du bist für alles zuständig. Für dein Glück, dein Scheitern, deine Gesundheit, deinen Erfolg und für die Welt, die dich überfordert.
Was als pädagogische Norm beginnt – sei verantwortlich, streng dich an – wird später zum Coachingziel: fokussiere deine persönlichen Grenzen, arbeite an ihnen, und finde dich mit den strukturellen Gegebenheiten ab. So wandert die Disziplin von aussen nach innen. Der Druck bleibt, das Vokabular wird weicher: Was früher durch äussere Autoritäten gefordert wurde, verlagert sich ins Innere. Wir übernehmen den Druck, kontrollieren uns selbst, passen uns an und glauben dabei sogar, frei zu sein.
Im Coaching etwa lerne ich, mit mir selbst zu arbeiten statt mit der Welt. Ich lerne, äussere Grenzen zu akzeptieren statt sie zu verschieben. Ich lerne, aus der Ohnmacht eine Haltung zu machen. Ich lerne, zu mir zu kommen, aber nicht dorthin, wo ich mich gegen Verhältnisse wehren würde. Achtsamkeit ersetzt Kritik, Selbstfürsorge ersetzt Solidarität, Persönlichkeitsentwicklung ersetzt politische Analyse.
Sibylle Berg
Und so wird aus einem Impuls, der einmal radikal war – nämlich das eigene Leben in die Hand zu nehmen –, eine Form der Stillstellung. Ursprünglich bedeutete dieser Impuls, sich gegen fremde Bestimmung zu wehren, für gerechte Verhältnisse einzustehen, die eigene Stimme zu finden und gemeinsam mit anderen für Veränderung zu kämpfen. Er war ein Akt der Befreiung, nicht nach innen, sondern nach aussen gerichtet.
Heute klingt er noch immer ähnlich, doch seine Bedeutung hat sich verschoben: „Gönn dir eine Pause. Finde deine Mitte. Atme durch. Meditiere über dein Problem, aber sprich nicht über seinen Ursprung.“ Was einst Widerstand war, ist heute Selbstfürsorge. Was einst Befreiung meinte, meint heute Anpassung. Nicht die Verhältnisse sollen sich ändern, sondern du.
Das Sprechen über Selbstverantwortung übernimmt die Begriffe der Befreiung – aber nicht mehr ihren Sinn.
Anders gesagt:
Worte wie Selbstbestimmung, Freiheit, Stärke, Verantwortung, Gestaltungskraft klingen auf den ersten Blick nach Emanzipation. Doch im heutigen Diskurs werden sie nicht mehr als Forderung nach kollektiver Handlungsfähigkeit oder struktureller Veränderung verstanden, sondern als Appell an das Individuum, sich selbst zu optimieren, sich selbst zu helfen, sich selbst zu verbessern, egal wie die Verhältnisse aussehen.
Der Begriff „Befreiung“ meint nicht mehr „Ich erkenne die strukturellen Ungleichheiten, gegen die ich mich mit anderen gemeinsam wehre“, sondern „Ich lerne, besser mit der Ungleichheit zu leben und sie nicht mehr als Problem zu empfinden“.
Die Sprache der Befreiung wird zur Sprache des Überlebens. Nicht mehr das System erscheint bedrohlich, sondern die eigene Unzulänglichkeit. Und so lernen selbst die Privilegierten, sich als permanent bedroht zu empfinden (vom eigenen Scheitern, vom Bedeutungsverlust, vom sozialen Abstieg, von der Erschöpfung ), während die Marginalisierten nicht einmal den Begriff dafür bekommen, was ihnen fehlt.
Was hier als Heilung daherkommt, ist Teil der Krankheit. Die Verantwortung für sich selbst bedeutet unter neoliberalen Bedingungen: Du bist auch verantwortlich für das, was du gar nicht kontrollieren kannst: Für den Druck, unter dem du leidest, für die Ungleichheit, die dich benachteiligt; für die Krise, die du nicht verursacht hast.
Natürlich ist es verständlich, dass Menschen sich stabilisieren wollen, zur Ruhe kommen, lernen, besser mit sich und anderen umzugehen. Doch im Schatten der systemischen Verwerfungen verschiebt sich die Bedeutung: Aus Selbstfürsorge wird ein Ersatz für Gerechtigkeit. Achtsamkeit ersetzt Kritik, Selbstoptimierung ersetzt Solidarität, Resilienz ersetzt strukturelle Veränderung.
„Sowohl als auch“: Die Rhetorik der Entlastung
Besonders trügerisch wirkt in diesem Kontext das viel bemühte „sowohl als auch“, also jene Haltung, die sich als differenziert ausgibt, aber in Wahrheit zur Entschärfung beiträgt: Wir sollen achtsam sein und gleichzeitig strukturell denken; uns selbst verändern und gleichzeitig die Welt; resilient sein und zugleich kritisch.
Doch dieses „sowohl als auch“ ist selten dialektisch, sondern ein rhetorischer Trick. Es erlaubt, alles zu sagen und nichts zu meinen, Haltung zu behaupten und doch jede Verantwortung zu vermeiden. Es wirkt offen, ist aber entwaffnend: Wer alles mitdenkt, stellt nichts mehr in Frage, denn es gilt ja immer beides.
In einer Kultur, in der das Individuum für alles verantwortlich gemacht wird – für sein Glück, seinen Erfolg, seine psychische Gesundheit –, wird das „sowohl als auch“ zur Entlastungsformel. Es klingt differenziert, aber es verhindert Konsequenz. Es wirkt verbindend, aber es verhindert Veränderung.
So wird aus Ambivalenz ein strategischer Stillstand: Wer sich nicht entscheiden muss, muss auch nichts verändern. Und wer nichts verändert, stellt die Verhältnisse nicht infrage. Genau darin liegt die Funktion des „sowohl als auch“ im neoliberalen Diskurs: Es schützt das System vor Kritik, indem es den Einzelnen zur Aushandlung auffordert, ohne dass sich das System selbst bewegen muss.
An diesem Punkt wird Selbstsorge zur politischen Falle. Während die Welt aus den Fugen gerät, erfahren Angebote wie Achtsamkeit, Coaching und Persönlichkeitsentwicklung einen Boom. Doch was als Hilfe erscheint, ist eine leise, achtsame Form der Kapitulation.
Die Illusion der individuellen Verantwortung
Besonders perfide wird es, wenn dieses Denken beginnt, gesellschaftlich relevante Bereiche zu durchdringen: die Bildung, die Sozialarbeit, die Arbeitswelt, die Politik. Denn dann reicht es nicht, dass die Einzelnen sich überfordert fühlen. Dann beginnt das System selbst, sich über sie zu entlasten.
Zu diesem Zweck wird die Denkfigur, dass gesellschaftlicher Wandel doch bei den Einzelnen beginnen müsse, reflexhaft verteidigt. Wer sie kritisiert, sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, die Menschen aus ihrer persönlichen Verantwortung entlassen zu wollen.
Doch das Gegenteil ist der Fall: Erst wenn wir die strukturellen Ursachen anerkennen, können wir Verantwortung sinnvoll und gerecht verorten. Wer immer nur auf das Individuum zeigt, schützt nicht die Selbstwirksamkeit. Er oder sie verschleiert die Machtverhältnisse.
Hier liegt ein zentrales Missverständnis, dem wir aktiv entgegenwirken müssen:
Wer systemisch denkt, entlässt niemanden aus der Verantwortung, sondern verortet sie dort, wo sie tatsächlich wirksam werden kann. Systemkritik ist nicht Resignation, sondern die Voraussetzung für kollektives Handeln.
Wer reflexartig im Rahmen des Persönlichen denkt, verliert den Blick für das Politische, und wer meint, systemische Kritik sei ohnehin wirkungslos, hat den Kern der Kritik verfehlt. Es geht nicht darum, dass wir nichts tun können, sondern darum, dass wir das Entscheidende nicht allein tun können. So sehr wir uns auch anstrengen und selber optimieren.
Der Irrtum vom mächtigen Individuum
Dieser Irrtum betrifft aber nicht nur die Ohnmächtigen. Auch die sogenannten „Mächtigen“ – Führungskräfte, Politiker:innen, Entscheidungsträger:innen – sind in dieses Spiel verstrickt. Ihnen sagt man: Veränderung beginnt mit dir. Du musst nur wollen. Du hast die Macht. Jetzt nutze sie.
Doch auch das ist eine Erzählung, die strukturelle Trägheit mit moralischem Druck überdeckt. Es gibt sie in Wahrheit nicht, die einsamen Entscheider:innen, die aus freien Stücken das System wenden könnten, selbst wenn sie wollten. Auch sie sind eingebettet in Verfahren, Regeln, Abhängigkeiten, Narrative. Auch sie sind Teil des Problems, nicht weil sie individuell versagen, sondern weil sie in strukturellen Zusammenhängen agieren, die Veränderung systematisch behindern.
Das heisst nicht, dass niemand Verantwortung trägt. Es heisst nur:
Wir müssen aufhören, die Verantwortung individuell zu denken und anfangen, sie systemisch zu verstehen. Sonst bleiben wir im Mythos des ermächtigten Einzelnen gefangen, jenem Trugbild, das uns glauben macht, Veränderung sei in erster Linie eine Frage des persönlichen Wollens, der Disziplin oder der inneren Haltung.
In Wirklichkeit dient dieses Narrativ dazu, systemische Machtverhältnisse zu verschleiern, indem es die Ursache für gesellschaftliche Missstände auf Einzelpersonen zurückspiegelt und so verhindert, dass wir gemeinsam beginnen, die Struktur des Problems zu verstehen.
Es ist an der Zeit, dass wir das benennen, was wir nicht benennen dürfen: Es sind nicht die Menschen, die die Verhältnisse verändern. Es sind die Verhältnisse, die Verhalten ermöglichen und verhindern. Kein Mensch ist per se resilient. Kein Kind ist von Natur aus lernschwach. Kein Jugendlicher ist zu wenig motiviert. Kein Erwachsener ist „schuld“ an seiner Überforderung.
Menschen sind Spiegel ihrer Möglichkeiten, und zugleich sind sie die Handschrift einer Ordnung, die sie nicht selbst entworfen haben. Der eigentliche Irrtum besteht also darin, Selbstverwirklichung für Unabhängigkeit zu halten und Verantwortung von den Verhältnissen zu entkoppeln.
Wieder und wieder starren wir auf Personen, auf Köpfe, auf Charaktere und nicht auf Strukturen, Prozesse, Dynamiken. Wir appellieren an Minister:innen, als könnten sie das System einfach umschalten. Wir erwarten von Führungskräften, sie mögen „mutig vorangehen“ als wäre das System nicht längst mit Sicherungen gegen Mut ausgestattet.
Natürlich haben sie Privilegien. Natürlich haben sie mehr Handlungsspielraum als andere. Aber auch sie sind – wie wir alle – von den Spielregeln geformt, die sie durchsetzen, weitertragen, absichern sollen. Wer also glaubt, Veränderung könne einfach durch „Entscheidungsstärke an der Spitze“ gelingen, erliegt demselben Irrtum wie ein Achtsamkeitspost für das erschöpfte Individuum: Er ersetzt Analyse durch Appell und Systemdenken durch Personalisierung.
Was wir jetzt brauchen: Den Perspektivwechsel vom Ich zum Wir
Wir brauchen keine Programme zur Selbststärkung. Wir brauchen Strukturen, die Menschen nicht vereinzeln, sondern verbinden; die nicht anpassen, sondern ermächtigen; die nicht fordern, sondern ermöglichen, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen.
Wir brauchen keine Coachings, die uns erklären, wie wir mit der Welt klarkommen. Wir brauchen Räume, in denen wir die Welt gemeinsam verändern können.
Bildung beginnt dort, wo wir nicht einfach fragen: „Was hält dich auf?“, sondern auch: „Warum gibt es diese Barrieren – und wem nützen sie?“ Denn Lernen heisst nicht, sich durchzubeissen, sondern gemeinsam die Bedingungen zu verändern, die Lernen behindern.
Wir brauchen eine Sprache, in der Kinder nicht „herausgefordert“ sind, sondern verstanden. Denn der Begriff Herausforderung verschiebt die Verantwortung stillschweigend zurück auf das Kind. Wer stattdessen versucht zu verstehen, fragt nicht, was am Kind schwierig ist, sondern was an den Bedingungen unhaltbar ist.
Wir brauchen eine Schule, in der Scheitern nicht stigmatisiert, sondern politisiert wird, weil Scheitern kein individuelles Versagen ist, sondern die Folge struktureller Schieflagen. Eine Schule, die das anerkennt, fragt nicht, wie das Kind sich ändern muss, sondern was das System lernen muss.
Wir brauchen eine Gesellschaft, in der Macht nicht auf Einzelne projiziert wird, sondern als Systemstruktur erkannt und veränderbar gemacht wird.
Denn solange Macht personalisiert wird, bleibt sie unangreifbar. Erst wenn wir sie als Geflecht von Regeln, Rollen, Routinen begreifen, wird Veränderung möglich. Nicht durch Held:innen, sondern durch gemeinsame Arbeit an den Bedingungen.
Wir brauchen eine Welt, in der das Glück nicht als Lohn erscheint, sondern als kollektives Recht, denn Glück ist kein Wettbewerb und kein Verdienst. Es ist ein Ausdruck gelingender Beziehungen, gerechter Verhältnisse und geteilter Möglichkeiten. Glück sollte nicht die Belohnung für Anpassung sein, sondern der Ausgangspunkt solidarischer Zukunft.
Solange wir glauben, Veränderung beginne beim Willen Einzelner, wird sich eines gerade nicht verändern: die Welt.
„Wir müssen unseren Kindern einen gut gefüllten Rucksack mitgeben.“ Dieser Satz wird gern gesagt, wenn es um Schule geht. Die Rede vom Wissensrucksack, inzwischen auch vom Kompetenzrucksack, klingt nach Fürsorge, nach Verantwortung, nach Zukunftssicherung. Doch diese Metapher ist kein stimmiges oder hilfreiches Bild. Sie ist ein Symptom. Sie steht für ein mechanistisches, tief verankertes Missverständnis dessen, was Wissen ist und wie Bildung funktioniert.
Vielleicht fällt es uns gerade in der Schweiz besonders schwer, diese Metapher loszulassen, denn der Rucksack ist hier nicht nur ein Symbol für Schulbildung, sondern tief verwurzelt in der Kultur der Bergler. Niemand bricht zu einer Bergtour oder zu einem „Schuelreisli“ auf, ohne einen gut gefüllten Rucksack: mit Proviant, Thermosflasche, Schokolade, vielleicht sogar mit einem Sackmesser. Das Schönste am Wandern ist nicht selten die Pause, in der man auspackt, was man bei sich trägt. Kein Wunder also, dass dieses Bild auch in der Schule so fest verankert ist, selbst wenn es pädagogisch längst in die Irre führt.
Die Vorstellung dahinter: Lehrer:innen schleppen „Wissen“ an, Schüler:innen tragen es mit sich fort. Später werden sie es brauchen und kramen es dann hervor. Doch dieser scheinbar logische Vorgang zerfällt, sobald ich ihn erkenntnistheoretisch oder bildungstheoretisch ernst nehme: Wissen ist kein Vorrat. Wissen ist kein Besitz. Wissen ist kein Gepäck.
2. Die alte Speicherillusion
Die Rucksackmetapher lebt von einer Illusion: dass Wissen gespeichert werden kann. Diese Illusion ist nicht neu. Schon im vordigitalen Zeitalter galt das Buch als Speicher, das Archiv als Schatzkammer, das Curriculum als Wissensinventar. Alles, was niedergeschrieben, abgelegt, kategorisiert war, bekam epistemischen Glanz. Es galt als objektiv, gesichert, überzeitlich wahr.
Doch genau das war der Fehler: Was wir für Wissen halten, ist in Wahrheit strukturierte Information. Erst der Mensch, der liest, deutet, verknüpft, interpretiert, erst der Akt der Bezugnahme, des Verstehens, des Anwendens macht aus Information überhaupt etwas, das als Wissen gelten kann.
Diese Unterscheidung wurde über Jahrhunderte hinweg übersehen – oder bewusst ignoriert. Sie wirkt bis heute fort: in Lehrplänen, in Prüfungen, in der Idee, dass Lernen eine Anreicherung sei. Doch sie ist epistemologisch längst überholt.
3. Die digitale Entbindung vom Tragen
Mit der Digitalisierung änderte sich etwas Grundlegendes: Information wurde ubiquitär. Statt Bücher zu schleppen, greifen wir heute in Sekunden auf gigantische Datenmengen zu. Der Mensch ist nicht mehr Speicher, sondern Navigator. Er muss nicht mehr behalten, sondern finden, prüfen, verknüpfen, bewerten.
Die Notwendigkeit, Information zu „tragen“, fällt weg. Der Rucksack bleibt leer. Doch anstatt Erleichterung zu verspüren, klammern sich viele an die alte Speicheridee. Vielleicht, weil sie mit Sicherheit verknüpft ist. Vielleicht, weil sie Ordnung verspricht in einer Welt, die sich zunehmend verflüssigt. Vielleicht, weil sie ein Gefühl von Kontrolle aufrechterhält.
Doch diese Kontrolle ist trügerisch, denn sie verkennt, worum es heute tatsächlich geht: nicht um das Haben von Wissen, sondern umdie Kunst des Wissenmachens.
4. Die Rolle von KI als epistemischer Partner
Spätestens mit dem Aufkommen grosser Sprachmodelle wie ChatGPT wird klar: Der Mensch ist nicht mehr allein im Denken. KI-Systeme unterstützen uns beim Strukturieren, Vergleichen, Erklären, Hypothesenbilden. Sie helfen nicht nur beim Informationszugriff, sondern zunehmend auch bei der Wissensproduktion selbst.
Das bedeutet nicht, dass Maschinen denken wie Menschen. Es bedeutet: Wer heute noch glaubt, Bildung bestehe darin, möglichst viel im Kopf zu behalten, ignoriert die Realität einer Welt, in der kognitive Assistenzsysteme jederzeit zur Verfügung stehen.
Der neue Bildungsauftrag ist nicht, den Rucksack besser zu packen, sondern den Umgang mit der radikalen Fülle an Information zu erlernen und gleichzeitig die Tatsache zu akzeptieren, dass der Rucksack leer bleibt, weil er das falsche Modell ist. Das falsche Skript, das falsche Konzept, das falsche Mindset. Information ist so wenig ein „Inhalt“ wie Wissen oder Kompetenz:
Lerninhalte können nicht wirklich Inhalte von Lernen sein, weil das Verb „Lernen“ einen Prozess beschreibt und Prozesse haben keine Inhalte. Flaschen haben Inhalte. Solch gegenständliches Denken tut dem Begriff und der Vorstellung des Lernens einen Zwang an, der ihm nicht gebührt, weil er seine Möglichkeiten einschränkt. Wer von Lerninhalten spricht, spricht zumindest ungenau und verschleiert dadurch jenen unheimlichen Zweck der „Wissensvermittlung“, der davon ausgeht, dass „Inhalte“, die in einem Lernprozess präsentiert werden, durch „Lernen“ irgendwo hin transportiert werden können.
Christoph Schmitt, in: Bildung auf Augenhöhe, Bern 2013.
Der Reflex, den Rucksack nun mit „Kompetenzen“ oder „Haltungen“ zu füllen, ist verständlich, aber trügerisch. Was es braucht, ist kein neuer Inhalt im alten Behälter, sondern ein neues Verständnis:
Bildung als Fähigkeit zur Orientierung in einer Welt voller Informationen, und zwar situativ, kontextbezogen, gemeinsam ausgehandelt. Nicht was wir tragen zählt, sondern wie wir uns bewegen: wie wir uns in einer überbordenden Informationslandschaft zurechtfinden, sie bewerten, strukturieren und daraus Sinn erzeugen. Denn es geht heute nicht mehr darum, Inhalte mit sich zu tragen, sondern darum, fähig zu sein, in der Bewegung Bedeutungen zu schaffen: im Moment, im Kontext, im Dialog. Es geht darum, fähig zu werden, aus dem Offenen heraus zu denken, nicht aus dem Vorrat.
5. Der psychologische Widerstand
Warum halten so viele Menschen an der Idee fest, dass Gelerntes etwas ist, das ich mit mir trage? Vielleicht, weil diese Vorstellung tief verankert ist in unseren Bildungsbiografien. Vielleicht, weil sie ein Gefühl von „Gewappnetsein“ vermittelt. Vielleicht auch, weil sie mit Identität verknüpft ist: Ich bin, was ich weiss.
Und vielleicht auch, weil die Rucksack-Metapher untrennbar mit einem anderen kulturellen Narrativ verbunden ist: Lernen muss weh tun. In der Volksschule und auch darüber hinaus gilt noch immer: Lernen ist nur dann „richtig“, wenn es mit Anstrengung, Disziplin, Schweiss und Mühe verbunden ist. Der volle Rucksack symbolisiert genau das: sichtbare Last, sichtbarer Fortschritt, sichtbare Leistung. Wer lernt, muss tragen.
Ein weiteres, besonders hartnäckiges Vorurteil ergänzt dieses Bild: Ein Mensch muss erst etwas wissen, bevor er etwas tun kann. Dieses Denken stellt das Tun unter das Wissen, es erzeugt eine Wartehaltung und verhindert die Erkenntnis und die Erfahrung, dass Lernen durch Handeln geschieht. Gerade hier liegt der zentrale Irrtum: Wissen entsteht nicht vor dem Tun, sondern im Tun, im Kontext, im Kontakt mit der Welt.
Und noch ein gewichtiges Vorurteil erschwert und das Lernen:
Die Vorstellung von Lernen als linearem, stufenweise aufbauendem Prozess ist bis heute das Fundament schulischer Organisation. Lehrpläne basieren auf Progression: von einfach zu komplex, von Grundlagen zu Anwendungen.
Unterrichtseinheiten folgen dem Prinzip der methodischen Reihe. Schuljahre bauen aufeinander auf wie Stockwerke. Prüfungen messen Reproduktion entlang von Stoffeinheiten. Diese Struktur wirkt auf den ersten Blick evidenzbasiert: Menschen lernen Schritt für Schritt.
Doch genau das ist eine Illusion. Lernen verläuft nicht in gleichmässigen Etappen. Es verläuft nicht synchron, nicht planbar, nicht gleichmässig, nicht linear. Menschen lernen mäandernd, rhythmisch, unterschiedlich schnell, rekursiv, fragmentarisch und oft gegen die Abfolge schulischer Logiken.
Das ist kein Anzeichen von ADHS. Es ist auch kein Signal für das Vorliegen einer Lernstörung. Wir Menschen lernen so.
Die Annahme, dass Lernen wie ein Haus gebaut werden müsse (erst das Fundament, dann die Wände, dann das Dach), ist pädagogisch wirksam aber kognitiv irreführend. Die Metapher vom Hausbau verstellt den Blick auf das, was Lernen tatsächlich ist: ein Prozess der Aneignung von Welt. Ungleichzeitig, unvorhersehbar, subjektiv. (Textquelle)
Wir dürfen also einiges verlernen: dass Lernen einem linearen Aufbau und Prozess folgt; dass Kompetenz heisst, viel zu wissen; dass Bildung ein Besitz ist; dass Wissen eine Frage von Speichervermögen ist.
Wissen heisst: aus Informationen im Kontext von Problemen Bedeutung zu erzeugen. Und das ist nichts, was ich habe. Es ist etwas, das ich mache. Immer wieder. Immer neu.
6. Schluss: Jenseits des Rucksacks
Die Rucksack-Metapher ist nicht nur falsch. Sie ist gefährlich. Denn sie lenkt uns ab von dem, was heute wirklich gebraucht wird:
epistemische Agilität als die Fähigkeit, sich in einer unübersichtlichen, sich permanent verändernden Informationslandschaft zu orientieren, Perspektiven zu wechseln und flexibel Bedeutungszusammenhänge zu schaffen;
kritische Reflexion als die Kompetenz, Information nicht nur aufzunehmen, sondern zu hinterfragen, ihre Herkunft, Gültigkeit und Relevanz einzuschätzen – und daraus begründete Urteile zu bilden;
kollektive Wissensproduktion als eine soziale Praxis, in offenen und unsicheren Situationen gemeinsam Bedeutung zu erzeugen, Fragen zu formulieren, Hypothesen zu entwickeln und Orientierung zu schaffen.
Bildung beginnt nicht mit dem Einpacken, sondern mit dem Aufbrechen. Nicht der Rucksack hilft uns in die Zukunft, sondern der Mut, ihn abzulegen.
Und bevor wir fragen, was wir Lernenden stattdessen mit auf den Weg geben, sollten wir uns selbst fragen: Was bedeutet das für uns, die Lehrenden? Auch wir sind Lernende. Wir sollten es heute in erster Linie sein. Das Loslassen der Rucksack-Metapher ist ein eigener Lernprozess. Einer, der nicht schwer sein muss, sondern der gerade darin liegt, etwas leichter zu machen. Und genau das fällt uns schwer: Leichtigkeit zuzulassen. Paradox, aber wahr.
Verhältnisse klären.
Statt eines gepackten Rucksacks braucht es ein anderes Bild: Bildung als Beweglichkeit. Nicht das Gewicht auf dem Rücken entscheidet, sondern die Fähigkeit, sich mit leichtem Gepäck durch unbekanntes Gelände zu bewegen, sich neu zu orientieren, Bedeutung zu erzeugen und gemeinsam Lösungen zu entwickeln.
Wir geben also keine Last mit, sondern eröffnen Möglichkeitsräume. Wir trainieren keine Speicher, sondern wecken Neugier, Dialogfähigkeit und Urteilsvermögen. Nicht das Tragen ist entscheidend, sondern das Erzeugen, Beteiligen, Verantworten.
Das ist kein Mangel. Es ist ein neues Bildungsversprechen. Eines, das der Welt, in der wir leben, gerechter wird.
In Gesprächen mit Lehrpersonen und in der öffentlichen Debatte begegnen mir immer wieder ähnliche Bedenken im Zusammenhang mit KI und Schule. Diese Einwände greifen pädagogische Überzeugungen auf, die über Jahrzehnte hinweg das Selbstverständnis von Schule und Unterricht geprägt haben.
Sie verdienen eine differenzierte Auseinandersetzung. Dadurch wird ihre Argumentationslogik sichtbar und ihre impliziten Voraussetzungen kommen zu Tage. Viele der Einwände gegen KI enthalten nämlich Denkfehler, die uns daran hindern, die Potenziale von KI ernsthaft in den Blick zu nehmen.
Ich habe mir vier der stärksten Einwände ausgesucht, denen ich jeweils einen gesonderten Blog Post widme. Was daraus entsteht, ist keine Verteidigung der KI, sondern ein Plädoyer für ein genaueres Nachdenken und Sprechen über Bildung und Lernen. Künstliche Intelligenz kann uns nämlich dabei helfen, das Lernen von Menschen neu zu verstehen.
Der erste Einwand lautete: „Ohne klare Reihenfolge wird Lernen beliebig. KI zerstört die bewährte Lernlogik.“ Er ist hier abrufbar. Jetzt folgt der zweite:
Ohne Orientierung verlieren sich Kinder. KI überfordert sie – gerade die Schwächeren.
Kinder brauchen klare Strukturen. Sie brauchen Führung, nicht unendliche Möglichkeiten. Lernen ist nicht einfach nur Entdecken. Es muss geplant, gesteuert, geführt werden. Sonst verlieren sich die Kinder und Jugendlichen in der Vielfalt der Möglichkeiten. Gerade schwächere Kinder sind auf klare Abläufe, Ziele und Leitplanken angewiesen. KI aber wirft sie ins Chaos: zu viel Information, zu wenig Orientierung, keine Linie. Das überfordert sie und entwertet unsere pädagogische Arbeit.
In diesem Einwand wird deutlich, wie stark sich die Debatte um KI mit grundlegenden Annahmen über Lernen und Steuerung verschränkt. Die Kritik an KI ist oft gar keine spezifische Kritik an der Technologie selbst, sondern Ausdruck einer tieferliegenden Verunsicherung: dass Lernen ausserhalb institutioneller Struktur nicht gelingen könne. KI bringt diese Verunsicherung ans Licht, weil sie Lernprozesse ermöglicht, die sich nicht an Schulrhythmen, Stoffplänen oder normierten Zielsetzungen orientieren und dadurch als „strukturlos“ erscheinen.
Das fordert uns heraus, unser Verständnis von Struktur neu zu denken, weil hier ein zentrales Thema schulischer Praxis berührt wird: Die Sorge um Überforderung durch Offenheit.
Insbesondere „schwächeren“ Kindern wird gerne unterstellt, sie seien auf feste Strukturen und eindeutige Führung angewiesen. Doch diese Annahme ist problematisch. Womöglich projizieren Lehrpersonen damit ihre eigene Verunsicherung angesichts offener Lernsettings auf jene Kinder, die im klassischen Unterrichtsformat am wenigsten zurechtkommen.
Was wie Fürsorge erscheint, ist dann eine Verschiebung der eigenen Kontrollbedürfnisse, kaschiert durch pädagogische Sprache. Gerade die sogenannten „schwächeren Schüler:innen“ sind dann in Wirklichkeit gar nicht schwach, sondern überfordert durch ein System, das sie zu Objekten macht. Was also wie ein Schutzversprechen klingt, ist nicht Ausdruck von Einsicht ins Lernen, sondern Teil eines Steuerungsparadigmas, das Lernen in vorhersehbare Bahnen zwingen will.
Nota bene: Was als Mangel oder Symptom eines Kindes oder einer Jugendlichen erscheint, kann in Wahrheit eine berechtigte Reaktion auf ein System sein, das sich dem Wesen des Lernens verweigert.
Jedenfalls prägt diese tief eingeschriebene Logik – Lernen muss kontrolliert, gesteuert und abgesichert werden – unser Bild von Schule bis heute. Und genau diese Logik wird durch KI unterlaufen, denn künstliche Intelligenz folgt nicht den Prinzipien pädagogischer Kontrolle. Sie kennt keine Taktung, keine standardisierten Ziele, keine institutionelle Struktur.
Deshalb entzieht sie sich dem Zugriff der traditionellen Pädagogik: Sie lässt sich nicht einpassen in ein System, das Lernen von aussen definiert und kontrolliert. Sie entzieht sich der pädagogischen Fremdzuschreibung, weil sie Lernen nicht von aussen ordnet, sondern weil sie von innen anschliesst an Fragen, Interessen, Kontexte. Das verändert alles. Es wird deutlich:
Gerade der pädagogische Zugriff auf das Lernen, so gut er gemeint sein mag, ist Teil des Problems. Indem er Ordnung, Führung und Struktur gewährleisten will, erzeugt er zuerst ein bestimmtes Bild von Lernen, das dann als „selbstverständlich“ oder „alternativlos“ erscheint, obwohl es erst aus dieser Perspektive heraus entstanden ist.
In der Folge erscheint plausibel, was zwar systemkonform ist, aber nicht lernlogisch begründet. Selbstverständlich sucht Lernen Orientierung – aber gerade darin liegt seine Dynamik: im Suchen, nicht im Finden. Wer „Orientierung gibt“, unterbricht diesen Prozess. Denn sobald von aussen festgelegt wird, woran sich Lernende zu orientieren haben, verliert das Lernen seinen inneren Impuls. Dann wird nicht mehr gesucht, sondern gefolgt.
Das Bedürfnis nach Struktur wird so zur Fremdbestimmung und nicht zur Unterstützung. Lernen braucht nicht mehr Vorgaben, sondern Räume, in denen sich Beziehung, Resonanz und Selbstentfaltung ereignen können. Denn Selbstbestimmung, Selbstermächtigung und Selbstverantwortung sind kein Ausdruck von Strukturferne, sie sind Ausdruck eines Lernens, das die Richtung aus sich selbst entwickelt.
Künstliche Intelligenz wiederum stellt die systemkonforme Ordnung und Struktur in Frage, nicht weil sie Chaos erzeugen würde, sondern weil sie eine andere Form von Ordnung ermöglicht: eine Ordnung, die aus dem Interesse, aus dem Moment und aus der Frage heraus entsteht. Sie zwingt uns nicht in die Beliebigkeit, sondern zu einem Perspektivwechsel.
Das eigentliche Missverständnis: Schule sichert Ordnung, nicht Lernen
Die Angst vor der Beliebigkeit des Lernens führt hingegen zu jenem Missverständnis, das für Schule bis heute handlungsleitend ist: dass nämlich Lernen nur dann wirklich (wirklich) gelingt, wenn es durch klare Vorgaben, Ziele und Raster kontrolliert wird. Dabei wird verkannt, dass wir damit gar nicht über einen Bedarf lernender Menschen sprechen, sondern über das Selbstverständnis von Schule, die sich anmasst, über das Lernen bestimmen zu können. Lernlogisch sind solche Vorgaben und Strukturen nicht notwendig. Sie entspringen der Organisationslogik; sie sind Ausdruck eines institutionellen Bedürfnisses nach Steuerung, nicht eine Folge der Einsicht in Bildungsprozesse.
Das Missverständnis liegt also in der Verwechslung von Struktur mit Sinn: Die institutionelle Ordnung dient der Steuerbarkeit, nicht etwa weil dies dem Lernen dienen würde, sondern weil das System sich so selbst erhalten kann. Es geht nicht um die genuine Lernleistung eines Menschen, nicht um die Fähigkeit, Fragen zu entwickeln, Bedeutung zu erschliessen oder Weltbezüge zu gestalten. Es geht um Reproduzierbarkeit, Vergleichbarkeit, Kontrolle.
Nicht der Mensch mit seiner Lerndynamik steht hier im Zentrum, sondern die Organisation mit ihrem Bedürfnis nach Ordnung. Dass dies verwechselt wird, ist nicht zufällig. Es ist der systemische Kern schulischer Organisation.
KI macht diese Verwechslung sichtbar, und genau darin liegt ihr transformatives Potenzial, denn sie folgt nicht der Logik institutioneller Steuerung, sondern orientiert sich an der Bewegung des Subjekts. Sie zeigt: Lernen geschieht nicht wegen der schulischen Ordnung. Indem KI sich dem Steuerungsanspruch entzieht, macht sie deutlich, dass das bisherige Verständnis von Lernen als plan- und kontrollierbarer Prozess nicht nur technisch überholt ist, sondern dem Lernen selbst widerspricht.
Diese Entkopplung von Lernen und Organisation eröffnet einen neuen Möglichkeitsraum: Sie macht sichtbar, dass das System Schule nicht mehr Voraussetzung für Bildung ist, sondern ein Hindernis.
Lehrpersonen befürchten, dass zu viel Offenheit im Lernen zu Beliebigkeit führt. Doch diese Sorge beruht auf diesem Missverständnis: Es setzt Offenheit mit Orientierungslosigkeit gleich und assoziiert Geschwindigkeit automatisch mit Oberflächlichkeit. Auch die einfache Zugänglichkeit von Information wird rasch mit einem Bedeutungsverlust verwechselt. Doch weder Tempo noch Verfügbarkeit sagen etwas über Tiefe oder Sinn.
Entscheidend ist nicht, wie schnell etwas zugänglich ist, sondern ob es im Subjekt etwas berührt, etwas auslöst, etwas verbindet. KI steht also nicht für Beliebigkeit, sondern für radikale Anschlussfähigkeit. Sie ersetzt nicht Tiefe durch Tempo, sondern schafft neue Möglichkeiten für sinnvolle Beziehungen zur Welt.
Zwischen Plan und Resonanz: Ein Perspektivwechsel auf Struktur
Struktur ist nicht gleich Hierarchie. Orientierung entsteht im Prozess des Lernens selbst. Sie muss nicht von aussen vorgegeben werden. Auch Selbstorganisation kann strukturiert sein. Auch ein persönliches Interesse kann eine starke Richtung geben. Das bedeutet nicht, dass alle Kinder bereits über vollständige Selbststeuerung verfügen. Aber es heisst, dass die Fähigkeit zur Selbstorganisation nicht gefördert wird, indem wir sie durch äussere Führung ersetzen sondern indem wir Räume öffnen und halten, in denen sie entstehen kann. KI bietet dafür eine entscheidende Voraussetzung: Sie unterwirft Lernende nicht einem vorgegebenen Pfad, sondern ermöglicht ihnen eigene Wege zu kreieren, durchaus begleitet, aber nicht gelenkt.
Lernziele sind nicht naturgegeben. Was als Lernziel definiert wird, ist bis heute nicht Ergebnis freier gesellschaftlicher Aushandlung, sondern das Resultat machtvoller institutioneller Setzungen. Im deutschsprachigen Raum etwa werden Lernziele von zentralen Behörden und Institutionen definiert und verbindlich festgelegt. Wer diesen Rahmen vorgibt, entscheidet, was als Bildung zählt und entwirft damit nicht ein Bild des Lernens, sondern ein Bild der Steuerung. Die pädagogische Realität besteht dann nicht in der Beziehung zur Welt, sondern im Versuch, vorgegebene Ziele mit Bedeutung aufzuladen. Die Kunst besteht dann nicht darin, mit Welt in Beziehung zu treten, sondern darin, Lernziele als bedeutsam zu verkaufen. Das Subjekt wird aufgerufen, das zu wollen, was es wollen soll. Das ist eine Simulation von Bildung, die Steuerung mit Selbstbildung verwechselt.
Nicht KI ist beliebig, sondern die Logik vieler Lehrpläne. Lernpläne erscheinen häufig geordnet, weil sie geplant sind. Doch Planung allein erzeugt keine Bedeutung. Relevanz entsteht nicht durch das Setzen von Zielen, sondern durch das, was im Lernprozess Resonanz erzeugt. Dass Lehrpläne beliebig wirken können, liegt nicht an mangelnder Struktur, sondern an ihrer fehlenden Anschlussfähigkeit für die Lernenden. Sie orientieren sich an vorstrukturierten Vorgaben statt an erlebter Bedeutsamkeit. Damit sind sie weniger Ausdruck pädagogischer Einsicht als Ausdruck eines Systems, das Steuerung mit Bildung verwechselt.
Kindliche Entwicklung ist nicht linear steuerbar. Entwicklung folgt keinem Plan. Wer vorgibt, Kinder gezielt zu bilden, überschätzt nicht nur seine Macht, sondern verfehlt das Subjekt. Gerade diese Fehleinschätzung ist Teil einer systemischen Verirrung, die seit der Gründung des modernen Schulsystems tief verankert ist, und die dieses System auf Kosten des Lernens stabilisiert.
Der zweite Einwand unterstellt, dass pädagogische Planung automatisch zu sinnvoller Struktur führt. Doch Struktur ist kein Wert an sich. Sie ist nicht Ausdruck von Einsicht in Lernprozesse, sondern Ausdruck eines institutionellen Bedürfnisses nach Steuerbarkeit. Sie ist eine Form der Selbstreferenz, nicht der Lernerkenntnis. Deshalb ist sie auch nicht neutral. Sie will nicht nur Ordnung stiften, sie behauptet, dass diese Ordnung dem Lernen diene. Und genau das ist der Denkfehler: Die Struktur des Systems wird verwechselt mit einer Struktur des Lernens.
KI macht diese Verwechslung sichtbar, weil sie Ordnung nicht durch Planung herstellt, sondern durch Anschlussfähigkeit: Ein Kind interessiert sich für Vulkane. In einer traditionellen Unterrichtssituation müsste es warten, bis das Thema im Lehrplan vorgesehen ist oder hoffen, dass die Lehrperson spontan darauf eingeht.
Eine KI hingegen reagiert sofort. Das Kind stellt eine Frage, bekommt eine verständliche, anschlussfähige Antwort, stellt die nächste Frage, entwickelt Hypothesen, forscht weiter. Die Struktur dieses Lernprozesses entsteht nicht durch ein Curriculum oder eine externe Steuerung, sondern aus der Dynamik des eigenen Interesses. KI unterstützt diesen Prozess, indem sie jederzeit, ohne Vorbedingungen, anschlussfähig reagiert und so die Eigenlogik des Lernens stärkt.
Sie zeigt damit, dass Struktur nicht von aussen vorgegeben sein muss, sondern im Lernprozess selbst entstehen kann. Orientierung ist nicht etwas, das man braucht, um zu lernen. Sie entsteht im Lernen. KI eröffnet die Möglichkeit, dass diese Orientierung nicht durch Raster oder Planung erzeugt wird, sondern durch Beziehung, Interesse, Resonanz; durch lebendige Prozesse also, die sich im Vollzug des Lernens selbst strukturieren.
Was Schule übersieht: Vier notwendige Unterscheidungen
1. Struktur ist nicht gleich Bedeutung Die institutionelle Struktur von Schule erzeugt Ordnung, aber diese Ordnung erzeugt nicht automatisch Sinn, weder für die Lernenden noch für das Lernen selbst. Sie dient primär der Steuerung und Stabilisierung des Systems, nicht der Ermöglichung individueller Sinnbildung. Diese Form der Ordnung schafft Orientierung im organisatorischen, nicht im bildenden Sinne. Sie sorgt für Abläufe, nicht für Weltbezüge. Sinn, Bedeutung und echte Lernmotivation entstehen nicht durch äussere Vorgaben, sondern durch Resonanz und das Erleben von Welt. Diese Prozesse lassen sich nicht herstellen, sondern müssen sich entfalten können. Wenn Schule dennoch davon ausgeht, dass Ordnung zu Sinn führt, verwechselt sie ihre eigene Funktionslogik mit den Bedingungen echten Lernens. Die Ordnung entsteht im System, Bedeutung aber entsteht im Subjekt. Wenn Schule vorgibt, was „gutes Lernen“ sei, dann verwechselt sie Steuerbarkeit mit Bildungsqualität. Und damit stützt sie sich auf einen Denkfehler: dass Struktur bereits etwas über das Lernen aussagt. Dabei sagt sie nur etwas über die Schule aus: über ihren institutionellen Anspruch, Lernen steuerbar zu machen.
2. Selbststeuerung ist keine Abwesenheit von Struktur Selbststeuerung bedeutet nicht, dass Lernende ohne jede Form von Orientierung agieren. Sie bedeutet, dass die Orientierung nicht von aussen vorgegeben wird, sondern im Lernprozess selbst entsteht; durch Interesse, Beziehung, Resonanz. Entscheidend ist: Diese Form von Orientierung ist keine Anleitung, sondern ein innerer Kompass. Dabei geht es nicht darum, dass automatisch Sinn oder Bedeutung entsteht, weder durch KI noch durch äussere Struktur.
Es geht vielmehr darum, dass die dialogische Dynamik des Lernens selbst jene Ordnung hervorbringen kann, die anschlussfähig ist, weil sie sich an der subjektiven Bewegung orientiert.
Was das heisst? Künstliche Intelligenz funktioniert nicht nach den Vorgaben institutioneller Bildung: Sie plant nicht voraus, sie prüft nicht nach, sie denkt nicht in Lehrplänen. Deshalb kann ich ihr auch nicht jene Rolle zuweisen, die Schule typischerweise für Lehrpersonen vorsieht: das Lernen von aussen zu strukturieren und zu bewerten.
KI widersetzt sich genau diesem Zugriff: Sie ordnet das Lernen nicht von aussen, sondern reagiert auf das, was im Subjekt selbst lebendig ist. Und genau deshalb lässt sie sich nicht „pädagogisch besetzen“. Sie bleibt offen, anschlussfähig, unberechenbar aus Sicht der Schule. Das ist keine Schwäche, sondern ihr stärkster Impuls zur Veränderung.
KI ersetzt den Lernprozess nicht, sie begleitet ihn, mit ihrer Anschlussfähigkeit an das Lernen des Kindes. Ein Beispiel: Wenn ein Kind sich für Pflanzen interessiert, fragt die KI nicht: „Was steht im Biologie-Lehrplan?“ – sondern: „Was interessiert dich an Pflanzen?“ Darauf aufbauend bietet sie Impulse, Ressourcen, Perspektiven, nicht zur Zielerreichung, sondern zur Orientierung im eigenen Prozess. Das Kind könnte zwar auch eine Lehrperson fragen, aber diese hat in der Regel eine vorstrukturierte Vorstellung davon, was nun zu geschehen hat. Die KI hat das nicht. Und gerade darin liegt ihr Potenzial: nicht im Wissen, sondern in der Offenheit.
3. „Schwächere Kinder“ sind nicht weniger lernfähig. Sie sind besonders verletzlich gegenüber einem System, das sie zu Objekten seiner Steuerung macht Der Ruf nach Struktur wird oft mit einem vermeintlichen Schutz schwächerer Kinder begründet. Doch zuerst ist zu klären, womit oder wodurch diese Kinder überfordert sind. Nicht selten besteht die Überforderung darin, dass sie schlicht nicht gesehen werden in ihrer Lernlogik. Gerade sie brauchen keine Führung, sondern Vertrauen, Resonanz, Halt, und das bedeutet nicht Zwang, sondern Beziehung.
4. Lernen ist nicht Beliebigkeit, sondern subjektive Sinnbildung Wenn Lernen nicht mehr fremdgesteuert wird, heisst das nicht, dass es beliebig wird. Es heisst, dass Bedeutung nicht mehr simuliert werden muss, sondern entstehen kann: in Weltbezügen, die vom Subjekt ausgehen, nicht vom Stoffplan.
KI entzieht sich dem System – und zeigt damit seine Grenzen auf
Künstliche Intelligenz ist kein pädagogisches Konzept, keine Reformidee und kein bildungspolitisches Programm. Gerade deshalb stellt sie die Schule so radikal infrage: Sie folgt nicht der Logik der Schule. Sie funktioniert nach anderen Prinzipien, und genau das macht sie zum Störfaktor im System.
KI entkoppelt Lernen von der Steuerung. Sie verlangt keine Gleichzeitigkeit, keine standardisierten Lernziele, keine Klassenzimmerlogik. Sie antwortet individuell, sofort, kontextbezogen, unermüdlich und orientiert sich am Bedürfnis der Lernenden, nicht an der Prüfungsordnung, nicht an der Fächerlogik, nicht an der Jahrgangstaktung, nicht an linearen Stoffverteilplänen. Sie folgt nicht der schulischen Ordnung, sondern der subjektiven Bewegung. Darin liegt das Potenzial: Sie stellt das System nicht in Frage, weil sie es angreift, sondern weil sie sich ihm entzieht. Sie funktioniert nach einer anderen Logik und zeigt damit auf, dass die bestehende Schulstruktur für gelingendes Lernen nicht mehr notwendig ist.
Gerade deshalb gerät Schule unter Druck. Denn die Gründe für ihre bisherige Form – Rhythmisierung, Jahrgangsdenken, Kompetenzraster – fallen aus technischer Sicht weg. Das ist keine Kritik an Schule, sondern eine Realität: KI braucht keine Organisation, um wirksam zu sein. Ihre Wirksamkeit entsteht im Moment des Fragens, dort, wo ein:e Lernende:r auf die Welt zugeht und nicht sofort auf institutionelle Rahmenbedingungen trifft.
Das ist ein Bruch mit der bisherigen Schulstruktur, denn dort entsteht Ordnung durch Planung, durch Regeln, durch administrative Vorgaben. KI hingegen antwortet nicht mit Vorgaben, sondern mit Resonanz. Sie erzeugt keine Ordnung im klassischen Sinn, sondern knüpft an das an, was im Lernenden lebendig ist.
KI erzeugt keine Ordnung im klassischen Sinn. Sie erzeugt Anschlussfähigkeit. Sie fragt nicht: „Was musst du als Nächstes lernen?“ Sondern: „Woran knüpfst du gerade an?“ Das ist keine Beliebigkeit, sondern dialogische Logik.
Wenn gute Praxis zur Ausnahme wird, stimmt das System nicht
Die Idee, dass Lehrpersonen genau das ermöglichen könnten, was hier beschrieben wird, nämlich individuelle Lernprozesse begleiten, Räume der Resonanz schaffen, Strukturen aufbrechen, ist theoretisch möglich oder richtig. Aber sie verkennt die Systemlogik.
Lehrpersonen arbeiten in einer Schule, die auf Taktung, Vergleichbarkeit und Steuerung basiert. Sie lässt womöglich hier und da Raum für offenes Lernen, aber sie schützt diesen Raum nicht als Institution. Sie lässt punktuell Raum für Beziehung, doch dieser wird durch Prüfungsdruck, vorgegebene Lehrmittel, Zeitvorgaben, Stoffpläne und administrative Vorgaben immer wieder untergraben. Was auf der einen Seite als bildungswirksam oder lernförderlich gilt, wird auf der anderen Seite durch die Systemlogik neutralisiert, nicht weil es an Engagement fehlt, sondern weil es strukturell nicht vorgesehen ist.
Wer mit tatsächlich offenen Lernformen arbeitet, tut das gegen die Ordnung und gegen die Struktur. Es bleibt die Ausnahme.
Es geht also nicht um engagierte Einzelpersonen, sondern um die Notwendigkeit, sich vom bestehenden System zu verabschieden, einem System, das gute Praxis nicht nur selten ermöglicht, sondern strukturell verunmöglicht. Das Problem liegt nicht im Mangel an Willen oder Können von Lehrpersonen, sondern in der Beschaffenheit der Schule selbst, die wir hinter uns lassen, wenn Lernen sich entfalten soll.
KI ersetzt nicht einfach eine gute oder schlechte Lehrperson. Sie ersetzt die Lehrperson in ihrer traditionellen, institutionell verankerten Rolle vollständig. Das betrifft nicht den Menschen, der Lernprozesse begleitet, nicht die Gemeinschaft, die trägt, nicht die Beziehung, die stärkt sondern jene spezifische Funktion der Lehrperson, die mit Planung, Kontrolle, Stoffverteilung und Steuerung betraut ist. Und genau diese Funktion wird durch KI obsolet. Nicht weil sie schlecht ausgeführt würde, sondern weil sie Ausdruck eines Verständnisses von Lernen ist, das sich überlebt hat.
Daraus erwachsen neue Anforderungen an die Professionen in der Schule. Es braucht keine Wissensvermittler mehr, sondern Ermöglicher:innen von Lernverantwortung, Beziehungsgestalter:innen, Raumhalter:innen für Subjektwerdung.
Vielleicht bleibt der Name, aber nicht das System
Wenn wir KI ernst nehmen, denken wir Schule neu: nicht mehr als Institution der Steuerung, sondern als Möglichkeitsraum für Selbstbildung. Nicht als Verteilzentrum von Wissen, sondern als Erfahrungsraum für eigenverantwortliche Weltbegegnung.
Die zentrale Aufgabe der Schule ist dann nicht mehr: „Wie vermittle ich Wissen?“, sondern: „Wie halte ich Räume offen, in denen Fragen wachsen können?“ Nicht mehr: „Wie führe ich Kinder zum Ziel?“, sondern: „Wie begleite ich sie dabei, Verantwortung für ihren eigenen Weg zu übernehmen?“
KI ist kein Ersatz für Beziehung, für Menschlichkeit, für Gemeinschaft. Sie ersetzt jenes System von Zwang, Gleichschritt und Taktung, das Lernen reguliert und zugleich begrenzt. Genau darin liegt ihre befreiende Kraft: Sie ermöglicht, Schule loszulassen und Bildung neu zu denken.
Was daraus entsteht, wird vielleicht noch Schule genannt werden. Vielleicht aber auch nicht. Entscheidend ist nicht der Name, sondern die Haltung: Ob wir bereit sind, die Institution zu verabschieden, um dem Lernen Raum zu geben.
Paul Klee (1932): „Zeichen verdichten sich“ Pinsel auf Papier und Karton. Zentrum Paul Klee, Bern.
In Gesprächen mit Lehrpersonen, in Weiterbildungen, im Kollegium und in der öffentlichen Debatte begegnen mir immer wieder ähnliche Einwände gegen die Nutzung von Künstlicher Intelligenz im Bildungssystem. Diese Einwände greifen pädagogische Überzeugungen auf, die über Jahrzehnte hinweg das Selbstverständnis von Schule und Unterricht geprägt haben.
Sie verdienen eine differenzierte Auseinandersetzung, damit wir ihre Argumentationslogik sichtbar machen können, ihre impliziten Voraussetzungen offenlegen und sie einer kritischen Prüfung unterziehen. Denn viele dieser Einwände enthalten nicht nur berechtigte Sorgen, sondern auch Denkfehler, die uns daran hindern, die Potenziale von KI überhaupt ernsthaft in den Blick zu nehmen.
Ich habe mir vier der stärksten Einwände für diese Auseinandersetzung ausgesucht, denen ich jeweils einen gesonderten Blog Post widme.
Was daraus entsteht, ist keine Verteidigung der KI, sondern ein Plädoyer für ein genaueres Nachdenken über Bildung und Lernen. Künstliche Intelligenz kann uns nämlich dabei helfen, das Lernen von Menschen neu zu verstehen und Schule neu zu gestalten.
Erster Einwand: „Ohne klare Reihenfolge wird Lernen beliebig. KI zerstört die bewährte Lernlogik“
„Lernen funktioniert nicht chaotisch. Es braucht Reihenfolge. Das Kind muss zuerst das Einmaleins verstehen, bevor es Gleichungen lösen kann. Sprache lernt das Kind über Grammatik, nicht über Assoziationen. Kinder brauchen Struktur, sonst werden sie überfordert. Wer das Lernen dem Zufall überlässt, lässt sie im Stich.“
Dieser Einwand hat Gewicht. Er ist anschlussfähig an eingeübte und fachlich scheinbar gut begründete Annahmen über Lernen. Er wirkt neuropsychologisch plausibel, didaktisch vernünftig, gesellschaftlich bewährt. Deshalb ist er so tief in unseren pädagogischen Institutionen verankert.
Die Logik des Einwands, und was ihn so wirksam macht
Die Vorstellung von Lernen als linearem, stufenweise aufbauendem Prozess ist keine pädagogische Kuriosität. Sie ist das Fundament schulischer Organisation. Lehrpläne basieren auf Progression: von einfach zu komplex, von Grundlagen zu Anwendungen.
Unterrichtseinheiten folgen dem Prinzip der methodischen Reihe. Schuljahre bauen aufeinander auf wie Stockwerke. Prüfungen messen Reproduktion entlang von Stoffeinheiten. Diese Struktur wirkt auf den ersten Blick evidenzbasiert: Menschen lernen Schritt für Schritt.
Doch genau das ist eine Illusion. Lernen verläuft nicht in gleichmässigen Etappen. Es verläuft nicht synchron, nicht planbar, nicht gleichmässig, nicht linear. Menschen lernen mäandernd, rhythmisch, unterschiedlich schnell, rekursiv, fragmentarisch und oft gegen die Abfolge schulischer Logiken.
Das ist kein Anzeichen von ADHS. Es ist auch kein Signal für das Vorliegen einer Lernstörung. Wir Menschen lernen so.
Die Annahme, dass Lernen wie ein Haus gebaut werden müsse (erst das Fundament, dann die Wände, dann das Dach), ist pädagogisch wirksam aber kognitiv irreführend. Die Metapher vom Hausbau verstellt den Blick auf das, was Lernen tatsächlich ist: ein Prozess der Aneignung von Welt. Ungleichzeitig, unvorhersehbar, subjektiv.
Die fünf Denkfehler hinter dem Einwand
Lernen sei sequenziell. Tatsächlich ist Lernen nie auf eine einzige Reihenfolge angewiesen. Menschen steigen quer ein, springen zurück, knüpfen an Erlebtes an. Auch komplexe Themen lassen sich ohne Vorwissen verstehen, durch Neugier, Kontexte, Erzählung.
Wissen sei substantiell. Die Vorstellung, dass man Wissen „besitzt“ wie ein Vorrat, der sich Schicht für Schicht aufbaut, ist kognitiv falsch. Wissen ist eine Aktivität, keine Substanz. Es entsteht im Moment seiner Anwendung, situativ, funktional, kontextbezogen.
Reproduktion sei ein Zeichen von Verständnis. Wenn Menschen scheinbar dasselbe sagen oder schreiben, reproduzieren sie jedoch nicht identisch, sondern rekonstruieren unter veränderten Bedingungen. Auch Schauspieler rezitieren nicht „identisch“, sie aktualisieren Bedeutung im Spiel.
Lernwege seien vorgegeben und Umwege problematisch. Diese Vorstellung geht von einem Zielweg aus, von dem man abweicht. Aber es gibt diesen Zielweg gar nicht. Lernen verläuft nicht auf Routen, sondern erzeugt seine eigene Struktur erst im Rückblick. Der Sinn des Lernweges entsteht durch Rückbezug auf eigene Erfahrung, nicht durch Befolgen eines Curriculums.
Nur Aufbauwissen sei nachhaltiges Wissen: Gerade das Gegenteil ist der Fall. Wissen, das durch Fragen, Konflikte, biografische Bedeutsamkeit oder praktische Anwendung entsteht, ist deutlich nachhaltiger als Stoff, der „aufgebaut“ wurde. Denn: Was nicht bedeutsam war, wird auch nicht erinnert, egal wie linear es war.
Vier wichtige Klarstellungen
Menschen lernen nicht synchron. Lernprozesse verlaufen individuell, in unterschiedlichen Tempi, Rhythmen und Intensitäten. Sie lassen sich nicht vereinheitlichen oder parallelisieren.
Lernen ist keine Bewegung auf vorgezeichneten Bahnen. Es gibt keine Route, die vorher feststeht. Es gibt nur den Rückblick auf den Weg, den ich gegangen bin und die Bedeutung, die ich diesem Weg gebe.
Sinn entsteht nicht durch Stofffolge, sondern durch subjektive Konstruktion. Lernen ist kein Reproduzieren, sondern ein Weltverhältnis. Wer lernt, antwortet nicht auf einen Plan, sondern auf ein Problem, eine Irritation, eine Frage.
Das Gehirn entwickelt sich durch Bedeutung, nicht durch Wiederholung. Neurologisch bedeutsam ist nicht die Menge an Übung, sondern der Grad an Relevanz. Was emotional, existenziell oder kontextuell aufgeladen ist, wird verarbeitet, nicht, was im Lehrmittel steht.
Anne Sophie Mutter über das Üben und Repetieren
Die Rolle von KI, und warum ausgerechnet sie das System Schule infrage stellt
KI macht das Steuerungsmodell Schule obsolet, weil sie eine zentrale pädagogische Notlüge entlarvt:
Dass man Menschen zwingen könne, das zu lernen, was ihnen noch nicht wichtig ist, und dass daraus Bedeutsamkeit entstehen werde.
Künstliche Intelligenz kann nicht zaubern, doch sie beendet die Notwendigkeit, Kinder durch ein einheitliches, standardisiertes Bildungssystem zu schleusen, das mit ihrem Lernen nichts zu tun hat.
Sie erlaubt Lernen ohne Gleichschritt, weil sie nicht auf Gruppenlogik, sondern auf individuelle Kontexte reagieren kann. Sie unterstützt Rhythmen statt Takte, weil sie sich nicht an den Stundenplan hält, sondern an das Interesse.
Sie entlastet Lernbegleiter:innen von der Illusion, Lernprozesse steuern zu können und eröffnet Möglichkeiten um Räume zu gestalten, in denen Lernen geschieht.
Sie macht es möglich, das Lernen selbst zum Gegenstand zu machen; nicht als Stoffaneignung, sondern als Sinnbildung, Beziehung, Urteil, Handlungsfähigkeit.
Könnten Lehrpersonen das nicht auch leisten, wenn sie möchten?
Einerseits lässt das System es in seiner gegenwärtigen Struktur nur in Ausnahmefällen zu. Wer offene Lernformen praktiziert, tut das meist gegen den Strom: gegen den Lehrplan, gegen das Zeitregime, gegen die Prüfungslogik, gegen Elternvorstellungen, gegen politische Steuerung. Die Schule ist nicht neutral gegenüber Formen des Lernens. Sie ist ein Steuerungsinstrument, und sie belohnt das, was ich messen, takten und vergleichen kann. Offenes Lernen ist in diesem Rahmen vielleicht pädagogisch geduldet, aber institutionell nicht getragen.
Andererseits arbeiten nicht wenige Lehrpersonen implizit nach dem oben beschriebenen Lernverständnis, das durch die Ausbildung, durch Erfahrung im System und durch institutionelle Erwartungen geprägt wurde. Dieses Verständnis ist zwar nicht selbst gewählt, doch es ist tief in die Profession eingeschrieben.
Es folgt einem Bild von Lernen als Aneignung vorstrukturierter Inhalte, als linearer Aufbau von Kompetenzen, als steuerbare Abfolge von Lehrzielen. Diese Vorstellung ist das Produkt eines Systems, das Lernen planbar machen will, und das dafür Steuerungsmodelle, Prüfungsroutinen, Kompetenzraster und Stoffpläne entwickelt hat.
Die Annahmen, die daraus erwachsen, etwa dass Lernprozesse geführt, kontrolliert und abgeprüft werden müssen, sind vielen Lehrpersonen längst zur zweiten Natur geworden. Sie strukturieren nicht nur das didaktische Handeln, sondern auch die Wahrnehmung dessen, was als „gutes Lernen“ gilt. Gerade weil diese Annahmen systemisch konsistent sind, bleiben ihre Alternativen oft unsichtbar.
Deshalb braucht es Klarheit: Nicht ob eine Lehrperson das theoretisch leisten könnte, ist die Frage, sondern warum sie es systemisch nicht kann, und warum KI ein Katalysator ist, der diesen Widerspruch nicht mehr überdecken lässt. Genau darin liegt der Unterschied, der einen Unterschied macht.
Mein Fazit
KI entkoppelt Lernen von der Gruppenlogik, von Prüfungszwängen, von Zeitrasterung, nicht weil sie irgendeine (pädagogische) Absicht hat, sondern weil sie es technisch kann. Deshalb ist KI funktional inkompatibel mit der bisherigen Schularchitektur.
Das erzeugt einen neuen und radikalen Möglichkeitsraum.
Wenn wir diesen Raum nicht als Einladung zur Systemtransformation verstehen und nutzen, wird KI zwar die Schule nicht abschaffen, aber sie wird in jedem Fall sichtbar machen, wie wenig Schule mit Lernen zu tun hat.
KI ist also nicht einfach ein Werkzeug. Sie ist ein kulturelles Angebot, das den Zwang zur Linearität aufhebt und damit die pädagogische Architektur von Schule grundsätzlich infrage stellt. Denn ein Sprachmodell wie GPT kann
jederzeit anschlussfähig antworten, ohne Wartezeit, ohne Vorwissen vorauszusetzen
individuell anknüpfen an Bilder, Interessen, Fragen, Sprache, Denkstile
dialogisch reagieren, in Schleifen, mit Feedback, Wiederholungen, Perspektivenwechsel
multiperspektivisch strukturieren, ohne monologische Lehrgänge
unendlich oft üben lassen, ohne Ermüdung, ohne Bewertung
kreative Wege ermöglichen, mit Text, Bild, Ton, Code, Story, Logik
Aber, und das ist entscheidend, KI funktioniert nur, wenn ich als lernendes Subjekt etwas will. KI ersetzt nicht das Denken. In keinem Alter, zu keinem Anlass, in keinem Beruf. Sie ersetzt den Zwang zu einer Form des Lernens, das mit Denken wenig zu tun hat.
KI ermöglicht nicht Lernen. Sie entlastet vom falschen Lernen. Das heisst auch: KI ersetzt die Lehrperson in jener Form, wie sie im traditionellen System definiert ist. Sie ersetzt nicht die mitfühlende Begleiterin, nicht den herausfordernden Gesprächspartner, nicht die erwachsene Person, die ein Kind sieht und ihm oder ihr zur Seite steht.
Aber sie ersetzt die Rolle der Lehrperson als Wissensvermittlerin, als Prüfungsinstanz, als Kontrollorgan des Lernens. Sie ersetzt das Berufsbild, das Unterricht als Stoffsteuerung versteht, als Instruktionslogik, als Progressionsmanagement entlang vorgegebener Ziele.
Genau dieses Bild von Schule wird durch KI obsolet, weil Lernen jetzt anders möglich ist. Nicht ohne Erwachsene und selbstverständlich nicht ohne Peers, aber ohne das alte Verständnis von Lehrer*innenmacht über Lernwege.
KI macht möglich, dass wir Lernen so organisieren, dass es dem Menschen gerecht wird. Nicht weil sie mehr kann, sondern weil sie uns zeigt, was nicht mehr nötig ist: Der Zwang zur Gleichzeitigkeit, zur Reihenfolge, zur Steuerung, zur Bewertung, zur Reproduktion.
Wir müssen nicht mehr tun, was die KI besser kann. Wir dürfen tun, was sie nicht kann: Räume schaffen, in denen der Mensch zu sich kommen kann im Lernen.
Und das ist vielleicht das erste Mal, dass wir ernsthaft gefragt sind, das Lernen des Menschen gegen seine Zurichtung zu verteidigen.
Im nächten Blog Post geht es dann um folgenden Einwand:
Lernen ohne Anleitung führt zu Beliebigkeit. Kinder brauchen Vorgaben, Ziele und Orientierung.
Schule funktioniert nach dem Prinzip Safari: vorgegebene Routen, pädagogische Konsumlogik, klar verteilte Rollen, Sicherheit durch Planung, standardisierte Erlebnisse, kontrollierbare Ergebnisse. Doch Lernen in einer Welt voller Unsicherheit braucht etwas anderes: Beteiligung statt Belehrung, gemeinsame Orientierung statt vorgezeichneter Wege. In diesem Blogpost habe ich eine Metapher ausgearbeitet, die mich seit Jahren begleitet, und die mir in meiner Arbeit als Bildungs- und Schulentwickler Orientierung gibt: Lernen als Expedition. Nicht nur Schule muss und wird sich in diese Richtung entwickeln. Auch Schulentwicklung ist heute Expedition – ein Aufbruch ins Offene, der alle Beteiligten in Bewegung bringt.
Dieser Beitrag entstand im Dialog mit ChatGPT. Die Unterscheidung zwischen Safari und Expedition trage ich schon sehr lange mit mir herum. Jetzt habe ich diesen grundsätzlich anderen Ansatz für Schule und Bildungsarbeit in die Form eines Blogpost gebracht – als weitere Etappe meines fortlaufenden Schreibprozesses mit KI.
Ein Bild gewinnt Kontur. Einführung in die Metapher
Stellen dir vor, du buchst eine Safari. Du weisst in etwa, was dich erwartet: spektakuläre Tiere, eine gut geplante Route, kompetente Guides, ein sicheres Fahrzeug, klare Etappen. Du bist nicht allein sondern Teil einer Gruppe. Deine Aufgabe: zu staunen, zu beobachten, zu geniessen – vielleicht ein bisschen zu fotografieren. Am Abend gibt es ein warmes Essen, ein Dach über dem Kopf, die Tagesroute ist geschafft. Das Abenteuer hat Struktur. Es ist berechenbar. Es ist sicher.
Stell dir nun eine Expedition vor. Niemand kann dir genau sagen, was dich erwartet. Es gibt Kartenfragmente, die stimmen vielleicht nicht. Du trägst den Proviant selbst. Es kann anstrengend werden. Es wird Zwischenstopps geben, vielleicht Rückschläge, Unsicherheiten. Aber es gibt auch Nähe, Beteiligung, Entscheidungsspielraum. Eine Expedition ist kein vorgefertigter Ablauf, den ich konsumiere – und sie ist keine „Schulreise“.
Sie wird durch das Tun und Denken der Beteiligten erst zur Expedition. Jede Perspektive verändert den Verlauf und ist deshalb wesentlich.
Eine Expedition ist kein Rundgang mit Erklärungstafeln. Sie entfaltet sich, weil Menschen aufmerksam mitgehen, Spuren lesen, Fragen stellen, Umwege riskieren. Ohne meine eigene Bewegung bleibt sie bloss eine Karte. Mit mir wird sie ein Weg.
Zwei Entscheidungen – zwei Haltungen
Wer eine Safari bucht, sucht bewusst oder unbewusst eine Mischung aus Sicherheit, Erlebnis und Überblick. Es geht darum, etwas zu sehen, etwas zu erleben, was andere vorher schon entdeckt haben; etwas zu geniessen, das vorbereitet wurde. Safari bedeutet mich führen lassen, mich beeindrucken lassen, auch mich berühren lassen, ohne selbst Teil einer Unsicherheit zu werden. Lernen heisst in diesem Modus beobachten, aufnehmen, verstehen, aber nicht selbst ins Offene gehen.
Wer sich auf eine Expedition begibt, folgt einem anderen Impuls. Hier geht es nicht nur um Neugier, sondern um Beteiligung. Nicht nur um Erleben, sondern um Verantwortung für das gesamte Projekt und sein Gelingen, angefangen von der Planung, der Organisation, der Durchführung und das Gelingen. Ich will nicht wissen, was andere gesehen haben, ich will selbst entdecken, deuten, beitragen, Teil des Suchens werden. Lernen heisst hier: ausprobieren, irritiert sein, umdenken – gemeinsam mit anderen, nicht allein. Die Expedition richtet sich an Menschen, die sich sagen: „Was ich suche, gibt es noch nicht – aber wir können es finden.“
Was passiert, wenn wir Schule durch dieses Bild neu sehen
Sowohl Safari als auch Expedition sind freiwillige Unternehmungen. Ich entscheide mich dafür. Aus Interesse, Abenteuerlust, Neugier.
Schule ist nicht freiwillig. Kinder entscheiden sich nicht, zur Schule zu gehen. Schule ist Pflicht. Insofern stehen alle Kinder und auch die meisten Jugendlichen nicht vor der Wahl zwischen Safari oder Expedition, und erst recht nicht für keines von beidem. Sie müssen mitgehen. Egal wohin.
Bei einer Safari oder Expedition im klassischen Sinn kann ich frei entscheiden: Ich überlege mir, was besser zu mir passt: Sicherheit oder Aufbruch, Struktur oder Suche. In der Schule ist das anders. Kinder haben keine Wahl. Deshalb gilt für mich:
Weil Schule durchgehend Pflichtveranstaltung für Kinder und Jugendliche ist, ist es so entscheidend, wie sie gestaltet ist: Nicht nur als Frage des Stils oder der Vorliebe, sondern als Frage einer alternativen Erfahrung:
ob ich einfach „mitlaufe“, oder ob ich beteiligt bin
ob ich durch ein Programm geführt werde, oder ob ich mitgestalte
ob ich Antworten auswendig lerne, oder selber Fragen stellen kann
ob ich bewertet werde, oder mit anderen zusammen etwas entwickle
ob ich kontrolliert werde, oder Vertrauen erfahre
ob ich mich anpassen muss („fitting in“), oder ob ich zeigen darf, wer ich bin („belonging to“)
ob ich einfach mitfahre, oder selber mitgehe
ob ich einer festen Route folge, oder mitentscheide, wohin wir abbiegen
ob ich im sicheren Fahrzeug sitze, oder mit Proviant im Rucksack unterwegs bin
ob ich erklärt bekomme, was andere entdeckt haben, oder selbst mit der Karte in der Hand unterwegs bin
ob ich still beobachte, oder mit anderen bespreche, was wir gerade sehen
ob ich ein Ziel erreiche, oder unterwegs auch lerne, warum wir überhaupt losgegangen sind
Schule als Safari nimmt die Unfreiwilligkeit ernst, indem sie Sicherheit herstellt: durch Pläne, Programme, Prüfungen, Fachlogiken, Bewertungssysteme.
Schule als Expedition nimmt Unfreiwilligkeit auch ernst, aber sie antwortet anders: Sie schafft Beteiligung. Sie macht das Gehen bedeutsam. Sie lädt ein zur Mitgestaltung. Sie verwandelt Pflicht in Möglichkeit, ohne zu verschleiern, dass der Weg auch anstrengend sein kann. „Expedition“ ist damit kein romantischer Gegenentwurf und auch nicht das Gegenteil von Schule, sondern eine Entscheidung, Lernen in der Schule stärker an der individuellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Wirklichkeit der beteiligten Menschen auszurichten – also an uns.
Warum diese Unterscheidung einen Unterschied macht
Die Welt, in der wir lernen und lehren, verändert sich nicht sprunghaft, aber spürbar. Das wird auch schon länger wissenschaftlich reflektiert.
Eltern und Gesellschaft erwarten zunehmend, dass Schulen nicht nur „Wissen vermitteln“, sondern dass es in der Schule auch um Kompetenzen wie Resilienz, Kreativität und digitale Souveränität geht. Ein umfassender Überblick über die Bedeutung von Persönlichkeitsbildung in Zeiten der Digitalisierung findet sich in dem Sammelband Persönlichkeitsbildung in Zeiten von Digitalisierung. Das Buch untersucht, wie Schulen auf die veränderten gesellschaftlichen Erwartungen reagieren können, indem sie neben fachlichem Wissen auch persönliche Kompetenzen fördern.
Ein Artikel, der die Auswirkungen der digitalen Realität auf das Lernen beleuchtet, ist dieser hier: Digitale Realität – Ein Weckruf für Lehrkräfte und Eltern. Er beschreibt, wie digitale Technologien die Lerngewohnheiten von Kindern verändern und welche Herausforderungen und Chancen sich daraus für die Schule ergeben.
Traditionelle Vorstellungen von Bildung als linearer, jahrgangsbezogener Prozess werden durch die vielfältigen Lernwege von Kindern und Jugendlichen herausgefordert. Ökonomische Rahmenbedingungen verschieben sich: Nicht mehr nur Schulabschlüsse zählen, sondern Fähigkeiten, die sich in dynamischen Umfeldern bewähren. Flexibilität, Lernfähigkeit, Kooperation sind die „neuen Zeugnisse“, die nicht nur Arbeitgeber suchen, und zugleich sind es typische Fähigkeiten, die auf einer Expedition benötigt werden und entstehen.
Auch der Lehrplan 21 der Deutschschweiz legt einen starken Fokus auf überfachliche Kompetenzen wie Selbstständigkeit, Teamfähigkeit und Lernbereitschaft. Diese Kompetenzen sind essenziell, damit sich Schülerinnen und Schüler in den Anforderungen der heutigen Lebens- und Arbeitswelt zurechtfinden: „Überfachliche Kompetenzen umfassen personale, soziale und methodische Kompetenzen. Sie sind für das Lernen in allen Fachbereichen bedeutsam und tragen dazu bei, dass Schülerinnen und Schüler in der Gesellschaft und der Arbeitswelt bestehen können.“ (Quelle)
In der Optik der Safari-Schule sind das tatsächlich noch überfachliche Kompetenzen. In einer Expeditions-Schule sind es hingegen Kernkompetenzen im Sinne von Fähigkeiten, die in der modernen Lebens- und Arbeitswelt gefragt sind.
In der Safari Schule geben Lehr- und Unterrichtspläne die Route vor, die zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Zeitraum von allen Lernenden abzufahren ist. Diese relative Stabilität der Prozesse und Abläufe deckt sich nicht mit der aktuellen Lebenswirklichkeit von Familien, Kindern und Jugendlichen, Lehrpersonen, von Gesellschaft und Arbeitswelt. Die Räume, die sich Jung und Alt lebenslang erschliessen, verändern sich mittlerweile so schnell, dass der Safari-Modus mit seinen Methoden längst an seine Grenzen gekommen ist.
Auch die Aussagekraft von Zeugnisnoten als zentrales Orientierungssignal für Bildungs- und Berufswege geht verloren, weil sie weder Teamfähigkeit noch Innovationskraft oder Reflexionsfähigkeit abbilden. Dieses Thema habe ich in einem eigenen Blogpost behandelt.
In dieser Situation genügt es nicht, Bildungsprozesse entlang festgelegter Pfade zu planen und durchzuführen wie eine Safari. Es braucht eine Haltung, die Beweglichkeit zulässt, ohne Halt zu verlieren, eine Haltung, die Orientierung nicht vorgibt, sondern gemeinsam entwickelt, die Unsicherheiten nicht ausklammert, sondern als Teil des Weges mitdenkt.
Einwand: Expedition überfordert Kinder
Ein oft zu hörender Einwand lautet: „Kinder können doch noch gar nicht wissen, wohin es gehen soll. Sie brauchen klare Vorgaben, nicht offene Prozesse.“
Diese Sorge führt schnell zu einer Ablehnung der Expeditionsidee aus Angst vor Überforderung, Chaos oder Verlust von Verantwortung: Wie soll Orientierung gemeinsam entwickelt werden mit Kindern, die das doch noch gar nicht können?
Die Frage berührt einen wunden Punkt in vielen Bildungsdebatten: Wir trauen Kindern weniger zu, als sie tatsächlich leisten können, vor allem wenn es um Mitverantwortung und Beteiligung geht. Dabei ist es ein fundamentaler Unterschied, ob Kinder wissen sollen, wohin es geht, oder ob sie lernen dürfen, wie sie sich orientieren. Bildung heisst ja nicht alles schon zu wissen. Bildung heisst lernen, mit Nicht-Wissen umzugehen. Das lerne ich auf einer Expedition, nicht auf einer Safari.
Kinder müssen auch gar nicht „die Richtung vorgeben“, und sie sollen auch nicht allein über Richtungen entscheiden. Es geht nicht darum, dass Kinder auf sich alleine gestellt Wege erfinden. Es geht bei der Expedition darum, dass sie erleben: Orientierung entsteht im Zusammenspiel, im Aushandeln, im Mitdenken. So erfahren Kinder, dass „Richtung“ (Entwicklung, Ziele, Etappen, Routen) nichts ist, was ich fertig übergestülpt bekomme, sondern etwas, das im Dialog entsteht: mit mir selbst, mit anderen, mit der Welt.
Wenn wir lernenden Menschen das vorenthalten, weil wir glauben, sie könnten es (noch) nicht, dann verpassen sie genau jene Erfahrungen, die sie brauchen, um in einer dynamischen Welt handlungsfähig zu werden. Das betrifft nicht nur Kinder.
Wir Menschen stellen Fragen. Wir sind irritiert, wir deuten. Als Kinder ebenso wie als Erwachsene. Wir tragen Entscheidungen mit, auch wenn wir sie nicht alleine treffen, und wir lernen, dass Verantwortung etwas ist, das geteilt werden kann. Das ist eine der wichtigsten Erfahrungen, die ich Menschen wünsche. Wer Kindern keine Mitverantwortung zumutet, verwechselt Fürsorge mit Entmündigung.
Expedition ist eine Zumutung – und ein Versprechen
Die Frage, ob Expedition oder Safari das passendere Bild für Bildung sei, ist keine didaktische Spielerei. Sie berührt den Kern unseres Bildungsverständnisses: Wie begleiten wir uns Menschen – ob jung oder alt – dabei, mit einer sich verändernden Welt in Beziehung zu treten?
Für Kinder ist Expedition das Natürlichste der Welt. Sie lernen durch Entdecken, durch Fragen, durch Irritation. Unsicherheiten schrecken sie selten. Vielmehr sind die ja Teil des Spiels, der Suche, des Wachsens.
Die eigentliche Zumutung betrifft nicht Kinder und Jugendliche. Sie gilt jenen Erwachsenen, die Schule bisher im Modus von Kontrolle, Planung und Steuerung erlebt haben und praktizieren: Lehrpersonen, Eltern, Bildungspolitiker:innen. Für sie bedeutet Expedition ein Loslassen von Sicherheiten, ein neues Selbstverständnis.
Der Safari-Modus bietet Lehrpersonen und Eltern Sicherheit durch Planung, Struktur und Vorwissen. Der Expeditions-Modus ermöglicht allen zusammen Entwicklung durch Beteiligung, Unsicherheit und gemeinsames Deuten. Beides hat seinen Platz. Aber wer Bildung als Zugehen auf eine offene Zukunft versteht, wird Expedition ernst nehmen, nicht als Methode, sondern als Haltung.
Gerade weil Schule für Kinder nicht freiwillig ist, muss sie ein Raum sein, in dem Menschen erfahren: Ich bin Teil dessen, was entsteht. Ich kann mich einbringen. Ich lerne mit Unsicherheit leben und mit anderen daraus etwas zu entwickeln.
Expedition ist kein Gegenmodell zur Schule. Sie ist eine Möglichkeit, Schule mit der gesamten Lebenswelt von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Verbindung zu bringen.
Selber lernen aber nicht alleine.
Expedition als Bruch mit der Weltlogik von Schule
Diese Bewegung ist nicht technischer, sondern existenzieller Natur. Sie betrifft das Verhältnis zur eigenen Autorität, zu Unsicherheit, zu Verantwortung. Wer Expedition ernst meint, ist bereit, sich selbst als Teil des Geschehens zu verstehen, nicht nur als dessen Rahmengeber oder als Steuernde.
Noch einmal: Das traditionelle Bildungssystem funktioniert nach der Logik der Safari: Es gibt einen vorgezeichneten Pfad, klar definierte Ziele, fixierte Rollen. Diese Ordnung suggeriert Sicherheit. Sie basiert auf einem Weltbild, das Stabilität, Steuerbarkeit und Linearität voraussetzt. Doch dieses Konzept hat tiefe Risse bekommen, denn die Herausforderungen der Gegenwart folgen einer anderen Logik: Sie sind dynamisch, plural, widersprüchlich. Sie verlangen nach anderen Haltungen des Lernens.
Gesellschaftlicher Wandel
Gesellschaftlich erleben wir einen tiefgreifenden Wandel. Orientierung, wie wir sie kannten, verliert ihre Eindeutigkeit. In einer hochgradig fragmentierten, beschleunigten und pluralisierten Welt gibt es nicht mehr den einen richtigen Weg. Widersprüche, Werteverschiebungen und vielfältige Lebensentwürfe prägen unseren Alltag. Klassische Autoritäten und Orientierungssysteme haben an Wirksamkeit eingebüsst. Auch wenn sie hier und da wieder verstärkt Zustimmung erhalten, ist das nicht mit Wirksamkeit gleichzusetzen.
Gerade deshalb braucht es Lernräume, in denen Unsicherheit nicht als Defizit gilt, sondern als Ausgangspunkt. Expedition bedeutet hier: Geteilte Aufmerksamkeit. Dialogisches Entscheiden. Gemeinsame Sinnsuche. Nicht gegen die Unsicherheit, sondern mit ihr und miteinander.
Kultureller Wandel
Auch kulturell verändern sich die Grundlagen unseres Selbstverständnisses. Identität ist heute kein fester Besitz mehr, sondern ein andauernder Aushandlungsprozess. Menschen leben in multiplen Rollen und immer häufiger bereits in digital designten Öffentlichkeiten. Lernen als Expedition bietet hier nicht nur die Möglichkeit, etwas über die Welt zu lernen sondern auch über sich selbst. Wer gemeinsam aufbricht, teilt Verantwortung und Risiko, erlebt Irritation nicht als Scheitern, sondern als Beginn von Verstehen. Expedition schafft Räume für Selbstklärung (wer bin ich? was will ich mit meinem Leben? wohin möchte ich?) ohne Vereinzelung.
Technologischer Wandel
Die technologischen Umbrüche, insbesondere durch Künstliche Intelligenz, verstärken diese Dynamik. KI verändert das Verhältnis von Wissen und Nichtwissen grundlegend. Routinen lassen sich automatisieren, Verfahren und Urteile lassen sich simulieren. Was KI noch nicht kann: in unvorhersehbaren Situationen Orientierung generieren. Das wird zur neuen Kernkompetenz – und genau hier setzt Expedition an:
Expedition ist Training im Umgang mit dem Unvorhersehbaren anhand des Unvorhersehbaren.
Entscheidungen werden nicht antizipiert, sondern in der konkreten Situation verantwortet. Sicherheit entsteht nicht durch Vorwissen, sondern durch Beziehung, Reflexion und Zusammenarbeit im offenen Feld.
Ökonomischer Wandel
Auch die Ökonomie ist nicht länger geprägt von stabilen Berufsbildern oder klar definierten Karrieren. In dynamischen Kontexten verlieren abgeschlossene Kompetenzen an Wert. Gefragt ist nicht mehr, was ich weiss sondern wie ich lerne: wie ich mich mit eigenem und fremdem Nichtwissen bewege. Expedition ist dafür das passende Modell: Lernfähigkeit statt Wissensreproduktion, temporäre Orientierung statt fester Struktur, geteilte Verantwortung statt individueller Leistung.
Wer Expeditionserfahrung hat, bringt Urteilskraft mit, nicht nur angelerntes Wissen.
Pädagogische Konsequenz
Diese Veränderungen hinterfragen institutionelle Bildung grundsätzlich, auch wenn das von vielen Menschen, die mit Bildung zu tun haben, noch gar nicht so erlebt wird. Für Vertreter:innen des traditionellen Safari-Systems ist vielmehr klar: Sie setzen weiterhin auf Sicherheit durch Struktur, weil sie sich in ihrer Vorstellung von Bildung an Ordnung und Kontrolle orientieren; nicht aus Absicht, sondern aus biografischer Prägung und aus dem nachvollziehbaren Wunsch nach Orientierung, und nicht selten aus dem Bedürfnis, die eigene Unsicherheit zu regulieren.
Dieses Bedürfnis wird dann auf Kinder projiziert. Doch Kinder brauchen nicht mehr Struktur, sondern mehr Beziehung; nicht mehr Kontrolle, sondern Resonanz.
Die Frage, ob wir Bildung anders gestalten wollen, ist daher keine technische oder didaktische Herausforderung, sondern eine kulturelle und psychologische. Noch immer operieren Schulen nach dem Prinzip der Steuerbarkeit. Stoffpläne, Prüfungsformate, festgeschriebene Rollen geben vermeintlich Halt. Doch was damit in Wirklichkeit konserviert werden soll, ist ein heute untragbar gewordenes Bild von Bildung.
Expedition ist also auch in pädagogischer Hinsicht kein methodisches Extra. Sie drückt eine kulturelle Verschiebung aus nämlich: Auf einer Expedition lernen nicht nur die, die dazu verpflichtet sind, sondern alle, weil sie beteiligt sind. Lernen wird nicht delegiert, sondern geteilt. Kontrolle weicht Verantwortlichkeit.
Ungewissheit wird nicht eliminiert, sondern gemeinsam getragen. Wer Schule heute ernst nimmt, denkt sie als sozialen Raum, in dem das Nichtwissen nicht mehr als Ausnahme gilt, sondern als fortlaufender Ausgangspunkt.
Expedition bedeutet in diesem Sinn: Zumutbarkeit neu definieren und Bildung als gemeinsame Bewegung in eine ungewisse, aber gemeinsame Zukunft gestalten.
Expedition vs. Safari – eine systematische Gegenüberstellung
Um die beschriebenen Unterschiede zwischen Expedition und Safari konkret fassbar zu machen, folgt jetzt eine vergleichende Gegenüberstellung zentraler Dimensionen. Sie verdeutlicht nicht nur zwei unterschiedliche pädagogische Haltungen, sondern auch zwei konkurrierende Logiken im Umgang mit Bildung, Beziehung und Verantwortung.
Aspekt
Safari
Expedition
Was haben wir vor?
Erkunden eines vorstrukturierten, bekannten Feldes
Gemeinsames Annähern an ein unbekanntes Feld
Zielverständnis
Ziel ist klar definiert und methodisch erschliessbar
Ziel wird unterwegs überprüft und angepasst
Gestalten der Bewegung
Ablauf ist vorgeplant (Route, Zeitplan)
Verlauf entwickelt sich prozesshaft im Dialog
Rollenverteilung
Feste Rollen: Führende vs. Geführte
Verantwortung ist geteilt, Rollen entstehen situativ („Soziokratie“)
Verhältnis zu Autorität
Vertrauen basiert auf Vorwissen der Führenden
Vertrauen entsteht durch Beziehung und gemeinsames Gehen
Umgang mit Ungewissheit
Ungewissheit wird minimiert oder kompensiert
Ungewissheit wird erwartet und produktiv genutzt
Umgang mit Fehlern
Fehler gelten als Abweichung
Fehler gelten als Schlüsselmomente des Lernprozesses
Dynamik und Steuerung
Bewegung wird durch Planung kontrolliert
Bewegung entsteht aus kollektiven Entscheidungen
Sicherheit
Sicherheit durch Struktur und Kontrolle
Sicherheit durch Beziehung und geteilte Erfahrung
Entscheidungslogik
Entscheidungen sind vorab getroffen und im Kern nicht verhandelbar
Entscheidungen entstehen unterwegs im Dialog
Diese Tabelle ist kein Bewertungsraster im klassischen Sinn. Sie verdeutlicht, wie tiefgreifend sich die jeweilige Haltung auf das Lernen, das Lehren und auf das Zusammenleben auswirkt. Das Mindset „Expedition“ fordert mich auf, nicht nur neue Methoden zu denken sondern neue Beziehungen, neue Rollen und eine neue Logik von Bildung.
Wenn Begleiten nicht reicht: Expedition als gemeinsame Bewegung
Ein blinder bzw. weisser Fleck in der Diskussion um Schul- und Bildungsentwicklung ist die Rolle der Begleitenden selbst. Ein pädagogisches Programm und Konzept kann ja durchaus zur Expedition aufrufen, während Lehrer:innen, Coaches, Schulentwickler:innen oder Weiterbildende in sicherer Distanz zum Prozess bleiben. Sie sprechen vom Aufbruch, organisieren womöglich partizipative Prozesse. Selber bleiben sie jedoch in einer Rolle, die nicht mitgeht.
Diese Form von Begleitung ist durch gute Absicht motiviert, doch sie bleibt im Modus der Beobachtung, der Steuerung, der Absicherung. Sie ist Teil des Safari-Systems, selbst wenn sie sprachlich an Expedition anschliesst. Denn wer Expedition ernst meint, bewegt sich selbst mit. Auf Schule hin gesprochen beginnt Expedition also nicht beim Kind, sondern bei den Erwachsenen, die sie durch konsequentes Mitgehen ermöglichen.
Berufe der Schule sehen sich dann vor grundlegende Fragen gestellt:
Was heisst es für mich, nicht nur zu begleiten, sondern mitzugehen?
Wie verlasse ich meine vertraute Rolle als Planende, Erklärende, Kontrollierende, ohne meine Wirksamkeit zu verlieren?
Was verliere ich, und was gewinne ich, wenn ich mich auf Ungewissheit einlasse?
Expedition ist kein Abenteuerformat für Schüler:innen. Sie ist eine Haltung, die alle betrifft. Sie verlangt, dass wir als Erwachsene und als Professionelle bereit sind, unser eigenes Verhältnis zu Kontrolle, Nichtwissen und Beziehung neu zu justieren. Wer Expedition nur organisiert, sie aber selbst nicht selbst wagt, bleibt im Safari-Modus – auch mit den besten pädagogischen Absichten.
Die grösste Herausforderung liegt daher nicht in der Entwicklung neuer Methoden, sondern im Loslassen alter Selbstbilder
des Experten, der weiss, was richtig ist
der Lehrerin, die den Plan hat
des Schulleiters, der Orientierung vorgibt
Expedition bedeutet, das eigene Nichtwissen nicht zu verstecken, sondern es als Teil des Lernprozesses sichtbar zu machen. Es bedeutet, sich als Teil eines kollektiven Wagnisses genannt „Lernen“ zu begreifen, nicht als dessen Moderator. Das ist zu Beginn unbequem, und es macht dauerhaft verletzlich. Dadurch schafft es Räume für Resonanz, Mitgestaltung und echte Veränderung.
In diesem Sinn ist Expedition eine professionelle Zumutung, und sie ist zugleich ein Versprechen auf wirkliche Entwicklung in Beziehung.
Selber lernen aber nicht alleine.
Expedition als Veränderung des Selbstbilds
Lässt sich „Expedition“ als Haltung im Sinne einer Massnahme einführen?
Im Normalfall verbinden wir mit Schulentwicklung die Einführung neuer Formate, Methoden oder Strukturen. Doch im Kontext von Expedition erreicht keine Massnahme eine nachhaltige Wirkung, solange sich das Selbstverständnis der Beteiligten nicht weiterentwickelt.
Expedition beginnt nicht mit einem Konzeptpapier, sie beginnt im inneren Vollzug. Dort, wo Erwachsene nicht nur neue Wege organisieren, sondern sich selbst infrage stellen (lassen).
Diese Bewegung ist leise. Sie zeigt sich nicht in Tools, sondern in einem veränderten zur eigenen Rolle, zum Lernen. Nicht das theoretische Bekenntnis zu Offenheit ist entscheidend, sondern die eigene Rolle, Autorität und die eigenen Kontrollbedürfnisse konkret zu hinterfragen – erst recht dann, wenn sie sich stattdessen hinter gut gemeinten pädagogischen Haltungen verbergen könnten. Es bedeutet Prozesse auszuhalten, die ich nicht kontrollieren kann sondern mitgestalten.
Diese Veränderungen des Selbstbilds lassen sich exemplarisch an der Rollenbeschreibung von Lehrpersonen zeigen, je nachdem, ob sie sich im Safari- oder Expeditionsmodus bewegen:
Fehler als Störung, die vermieden bzw. behoben werden soll
Fehler als Schlüsselmomente und „Entdeckungen“ im Lernprozess
Haltung zur Ungewissheit
Wird reduziert oder ausgeblendet
Wird zugelassen und geteilt
Ziel von Unterricht
Stoffvermittlung, Planerfüllung
Erkenntnisgewinn, gemeinsame Orientierung
Wenn Strukturen offen sind und Menschen noch zögern
So klar das Bild der Expedition auch scheint, so anspruchsvoll ist seine Umsetzung, denn Expedition ist kein reformpädagogisches Stilmittel und keine methodische Variante von Innovation. Sie ist eine strukturelle Herausforderung für Institutionen und für alle, die in ihnen Verantwortung tragen.
Solange Schulentwicklung als Optimierung bestehender Abläufe verstanden wird, bleibt der Handlungsspielraum eng. Expedition hingegen verlangt einen Perspektivwechsel: weg vom Planen, hin zum Gestalten; weg vom Sichern, hin zum Aushalten; weg vom Wissensvorsprung, hin zur gemeinsamen Orientierung.
Genau hier liegt die grosse Herausforderung. Expedition ist institutionell zwar denkbar aber individuell aus dem traditionalen Selbstverständnis von Lehren und Lernen heraus nur schwer vorstellbar.
Lehrpersonen, Schulleitungen und andere Bildungsverantwortliche bewegen sich in hochregulierten Feldern, in denen Unsicherheit eher als Problem denn als Ressource gelesen wird. Der Mut, nicht zu wissen, wird selten belohnt. Die Bereitschaft, Kontrolle zu teilen, oft als Schwäche ausgelegt.
Deshalb braucht Expedition Räume, in denen Nichtwissen geteilt wird; in denen Lernen nicht bloss einseitig beobachtet wird, sondern mitvollzogen; wo Erwachsene nicht nur begleiten, sondern teilnehmen und teilgeben. Wo diese Räume entstehen, löst sich das Bild von der Expedition ein; nicht als Metapher, sondern als neue Wirklichkeit von Bildungsarbeit.
Gemäss Recherche wohl kein Zitat, aber nahe an Arendt dran.
Was Schule möglich macht, wenn sie anders denkt, oder: Expedition braucht Räume und Entscheidungen
Expedition kann nicht verordnet werden. Sie braucht Bedingungen, unter denen sich Beteiligte überhaupt auf das Ungewisse einlassen können. Dazu gehören nicht nur Zeit und Ressourcen, sondern vor allem physische, soziale und symbolische Räume, in denen Unsicherheit nicht sanktioniert, sondern zugelassen wird.
Solche Räume entstehen nicht durch Dekrete, sondern durch die Entscheidung
Sicherheit nicht durch Kontrolle zu organisieren, sondern durch Beziehung
nicht nur Ergebnisse zu beurteilen, sondern vor allem Prozesse
nicht zuerst das System zu sichern, sondern die Menschen zu stärken, die es tragen.
Das ist keine romantische Idee. Es ist eine hochpolitische Frage: Wer bekommt Raum? Wer darf gestalten? Wer trägt das Risiko, und wer gibt den Ton an? In traditionellen Schulsystemen sind diese Fragen klar geregelt.
Expedition hingegen beginnt dort, wo diese Ordnung durchlässig wird. Wo „zuständige Erwachsene“ Lernprozesse nicht vollständig kontrollieren müssen; wo Kinder nicht nur antworten, sondern eigene Fragen zum Ausgangspunkt des gemeinsamen Lernens machen, nicht, weil sie Antworten von Erwachsenen erwarten, sondern weil sie laut denken und den Raum dafür bekommen; wo Schulentwicklung nicht auf Programme reduziert wird, sondern Räume schafft für etwas, das noch nicht ist aber möglich werden soll.
Exaktes Zitat (instagram) nicht auffindbar – nur in Teilen.
Expedition braucht Vertrauen und ein anderes Verständnis von Verantwortung
Expeditionen sind riskant. Nicht, weil sie leichtsinnig wären, sondern weil sie auf Kontrolle verzichten. In schulischen Kontexten ist genau das eine Zumutung: Wer Verantwortung trägt, will absichern, will wissen, wohin der Weg führt, und wofür er oder sie später zur Rechenschaft gezogen wird.
Doch Expedition fordert ein anderes Verständnis von Verantwortung: nicht als Garantie für Ergebnisse, sondern als Bereitschaft, sich in echte Prozesse zu begeben: gemeinsam, sichtbar, verletzlich. Verantwortung bedeutet hier nicht, alles im Griff zu haben, sondern präsent zu sein, sich ansprechbar zu machen, wenn etwas nicht gelingt, Entscheidungen nicht im Voraus abzusichern, sondern sie gemeinsam auszuhandeln, und nicht zuletzt auch den Mut zu haben, Unfertiges stehen zu lassen, weil Entwicklung nicht vollständig steuerbar ist – aus systemischer Perspektive ist sie sogar komplett „unsteuerbar“.
Vertrauen ist dabei keine naive Hoffnung, dass „alles gut wird“. Es ist eine professionelle Haltung: Ich traue mir und den anderen zu, dass wir den Weg gemeinsam gestalten können ohne ihn vollständig zu kennen. Solche Verantwortung entsteht nicht durch Hierarchie, sondern durch eine gleichwürdige Form der Beziehung, und solches Vertrauen entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch Resonanz. Im Modus der Expedition sind beide untrennbar verbunden: Vertrauen in die Menschen und die Verantwortung, den Raum offen zu halten, in dem sich etwas entwickeln kann.
Was dieses neue Verständnis von Verantwortung konkret bedeutet, lässt sich in der folgenden Gegenüberstellung verdeutlichen:
Verantwortung als …
Traditionelle Schule
Expedition
… Definition
Ergebnisverantwortung
Prozessverantwortung
… Rolle der Erwachsenen
Absicherung, Kontrolle
Präsenz, Beziehung, Mitgehen
… Umgang mit Scheitern
Vermeidung, Sanktionierung
Reflexion, gemeinsame Neuorientierung
… Strukturprinzip
Hierarchie, Planung
Resonanz, Aushandlung
… Beziehung zur Zukunft
Planungssicherheit
Offenheit für Emergenz
Expedition ist keine Methode sondern eine Frage an das System
Erste Ansätze, Schule partizipativ zu gestalten (etwa im Rahmen der von UNICEF Schweiz entwickelten partizipativen Schule), zeigen: systemische Öffnung ist möglich. Kinder erhalten Mitspracherechte, werden in Entscheidungsprozesse eingebunden und erleben Schule als gestaltbaren Ort.
Doch das Mindset der Expedition geht darüber hinaus. Es zielt nicht nur auf institutionelle Beteiligung, sondern auf eine gemeinsame Suchbewegung aller Beteiligten. Nicht nur Kinder werden gehört, auch Erwachsene verlassen ihre sicheren Rollen. Wo partizipative Schule Strukturen demokratisiert, verlangt Expedition eine Kultur der wechselseitigen Verunsicherung – nicht zum Zweck der Destabilisierung, sondern um Lernen als gemeinsamen Möglichkeitsraum zu eröffnen.
Das Mindset der Expedition verändert die Mechanismen, durch die Bildung organisiert wird und stellt Machtverhältnisse in Frage. Nicht ideologisch, sondern strukturell. Nicht gegen das System, sondern aus der Erkenntnis, dass Systeme nur dann resilient sind, wenn sie lernfähig bleiben. Das heisst:
Expedition kann nicht als Projekt organisiert werden, das irgendwann abgeschlossen ist. Sie ist eine Haltung, die fortwährend Spannungen erzeugt zwischen Sicherheit und Offenheit, zwischen Steuerung und Vertrauen, zwischen Kontrolle und Beziehung.
Schulen, die sich auf diesen Weg einlassen, erleben keinen sanften Wandel, sondern eine tektonische Bewegung. Nicht weil sie scheitern, sondern weil sie ernst machen mit der Idee, dass Lernen nicht planbar ist, und dass Bildung nicht reproduzieren soll, sondern hervorbringen.
Expedition bedeutet in diesem Sinne, dass wir das System Schule als lernende Organisation denken, nicht als Maschine, sondern als lebendiges, irritierbares, widerständiges Gefüge. Nur so kann es gelingen, aus der Metapher der Expedition eine reale Praxis zu machen.
Selber lernen aber nicht alleine.
Expedition beginnt mit Kultur, und sie verändert Institution
Viele Reformprojekte starten mit Konzeptpapieren, Leitbildern und Strategien. Expedition lässt sich jedoch nicht verordnen. Sie entsteht nicht auf dem Papier, sondern in der gelebten Kultur einer Schule, in der Art, wie Menschen miteinander umgehen, wie Abweichungen wahrgenommen werden, ob Unsicherheit zugelassen wird.
Kultur zeigt sich im Alltag, besonders dann, wenn niemand hinsieht. In Routinen, in Sprache, im Umgang mit Fehlern. Im stillschweigenden Bild von Lernen und Lehren entscheidet sich, ob Expedition möglich ist.
Jede Expedition ist deshalb auch ein Kulturprozess. Sie verändert, wie wir handeln, wie wir miteinander sprechen, wie wir Pläne machen, wie wir zuhören. Erwartungen wandeln sich, und es entstehen neue Möglichkeitsräume.
Wer Expedition ermöglichen will, braucht kein neues Programm. Vielmehr braucht es die Bereitschaft, Kultur zum Thema zu machen: gemeinsam, ehrlich, auch unbequem. Kultur lässt sich nicht einführen, sie lässt sich gestalten: durch kleine Entscheidungen, symbolische Akte und durch eine Führung, die mittendrin wirkt statt von oben herab.
Schulentwicklung mit Blick auf die Idee der Expedition bedeutet nicht, einen Plan umzusetzen. Sie ist ein Aushandlungsprozess auf Augenhöhe.
Sie entsteht nicht durch Programme oder Strukturen. Sie entsteht dort, wo auch die Erwachsenen bereit sind, sich selbst in Bewegung zu bringen, nicht nur zu steuern, zu begleiten oder zu gestalten, sondern sich irritieren zu lassen, mitzugehen, sich einzulassen.
Das ist womöglich der schwerste Schritt. Nicht, weil es an Konzepten fehlt, sondern weil es Unsicherheit erzeugt. Viele Beteiligte im System Schule sind geübt darin, Orientierung zu geben, aber weniger darin, sie gemeinsam zu suchen.
Doch genau darin liegt der Unterschied zur Safari: Expedition nicht als Methode, sondern als gemeinsamer Vollzug.
Wer dabei mitmacht, gewinnt ein geteiltes Verständnis von Verantwortung, ein anderes Verhältnis zu Wissen und die Möglichkeit, Schule nicht länger nur zu organisieren, sondern als lebendigen Raum für Entwicklung zu erfahren.
Dieser Beitrag entstand im Dialog mit ChatGPT. Ich habe Ideen, Argumente und Formulierungen gemeinsam mit dem Sprachmodell entwickelt, überarbeitet und pointiert – als Teil eines experimentellen Schreibprozesses mit künstlicher Intelligenz. Bilder: Midjourney und Grundacherschule
Du bist ein Vater oder eine Mutter und lebst irgendwo in der Schweiz. Du hast selbst eine ganz normale Schulzeit erlebt, vielleicht auch geschätzt – und jetzt passiert (völlig fiktiv und aus der Luft gegriffen) folgendes: Du liest in den sozialen Medien, dass es zu einer Volksabstimmung über die Abschaffung der Schulnoten kommen soll. Die Begründung: Das heutige Prüfungs- und Notensystem behindere Kinder in ihrer Entwicklung. Es bereite sie nicht wirklich auf ihre Zukunft vor. Prüfungen und Noten, so heisst es jetzt, stammten aus einer Zeit, in der Schule auf Gehorsam, Repetition und Auslese ausgerichtet war. Für die Zukunft unserer Kinder bräuchten wir jedoch ein System, das sie nicht aussortiert sondern stark macht. Das sei kein Wohlfühlprogramm sondern eine ernst gemeinte Antwort auf eine sich rasant verändernde Welt.
Die Frage, die dir jetzt durch den Kopf geht: Wenn die noch gar nicht wissen, welche Zukunft auf unsere Kinder zukommt, warum machen sie dann nicht einfach mit dem weiter, was sie haben? Wieso wollen sie mit etwas aufhören, ohne dass sie schon etwas Neues haben?
Expertinnen und Experten reden immer von der Zukunft der Kinder:
„Dein Kind soll in eine Zukunft hineinwachsen, die heute niemand genau kennt. Eine Welt, in der Berufe verschwinden, neue entstehen, Computer mitdenken, Entscheidungen vorbereiten und sogar Texte schreiben.“
Sie fragen: „Was brauchen Kinder dafür? Was müssen sie mitbringen? Und dann fallen Begriffe wie selbstständiges Denken, kritische Urteilsfähigkeit, Zusammenarbeit, Neugier, Initiative, Verantwortung.“
Doch warum, so fragst du dich, spricht all das gegen das bewährte Prüfungssystem und gegen Schulnoten?
Auf der Suche nach einer Antwort googelst du ein wenig und landest immer wieder auf Seiten, die Schulnoten kritisch beurteilen:
Noten sagen zu wenig über das aus, was wirklich zählt. Eine Note zeigt meist nur, was jemand in einer Prüfungssituation reproduzieren konnte – aber nicht, wie jemand denkt, welche Ideen jemand hat, oder wie jemand Probleme löst, die nicht schon im Schulbuch standen. Kurz: Die wichtigsten Fähigkeiten bleiben unsichtbar. Prüfungen erzeugen Stress – aber kein echtes Lernen.
Wer für eine Prüfung lernt, lernt oft kurzfristig, oberflächlich, unter Druck. Viele Kinder vergessen den Stoff nachher schnell wieder. Was sie dabei nicht lernen: Wie lerne ich eigentlich gut? Wie bleibe ich dran, wenn es schwierig wird? Genau das brauchen sie aber später.
Bewertungen drücken immer auf das Selbstbild eines Kindes. Wenn ein Kind immer wieder die Botschaft bekommt: „Du bist eine Vier“ – dann kann das dazu führen, dass es aufhört, sich Mühe zu geben. Es glaubt, es sei halt „nicht gut in Mathe“ oder „einfach nicht sprachbegabt“. Dabei hat es vielleicht nur länger gebraucht – oder andere Stärken, die auf diesem Weg nicht sichtbar werden.
Das geht dir jetzt alles ein bisschen zu schnell. Du fragst dich:
Wenn das alles stimmt, dann müsste Schule doch einfach ihre Prüfungen anpassen und die Art, wie Noten zu Stande kommen – aber grundsätzlich gegen Noten spricht das alles nicht.
Mit genau dieser Frage wendest du dich jetzt an ChatGPT und bekommst folgende Antwort:
Noten sind immer ein grobes, normiertes Bewertungssystem. Auch wenn du Prüfungen „moderner“ machen würdest (z. B. mit Projekten oder Gruppenarbeiten), bleibst du im alten Raster: Eine Zahl zwischen 1 und 6, die am Schluss sagt: Gut – mittel – ungenügend. Das ist wie wenn ich den Blutdruck eines Menschen mit einem Lineal messen würde. Ich messe dann zwar etwas – aber eben nicht das Richtige.
Beispiel: Ein Kind hat über Wochen eine kreative Lösung für ein reales Problem entwickelt. Es hat gelernt, recherchiert, diskutiert, verworfen, wieder aufgebaut. Am Schluss muss die Lehrperson trotzdem sagen: „Das ist jetzt eine 4,5.“
Das wird dem Lernprozess nicht gerecht – es zerquetscht ihn durch eine Zahl.
Noten erzeugen Konkurrenz – statt Entwicklung
Selbst bei noch so gut gemachten Prüfungen wird das Ergebnis in eine Rangordnung gezwungen. Kinder vergleichen sich. Eltern vergleichen ihre Kinder. Die Schule wird zum Wettkampfplatz. Aber die Zukunft braucht keine Einzelkämpfer. Sie braucht Menschen, die kollaborativ denken, die eigene Fehler reflektieren können, nicht verstecken müssen. Noten verhindern genau das.
Das System bleibt auf Selektion ausgerichtet
Solange Noten entscheiden über Gymnasium oder Lehre, über „förderwürdig“ oder nicht, bleibt das System ein Auslese-Instrument. Es ist kein Entwicklungsraum. Wir können also Prüfungen ändern, modernisieren, digitalisieren, aber solange das Ziel ein Vergleich und eine Selektion ist, bleibt das System gleich.
Kurz gesagt: Noten sind wie ein Thermometer, das du auf eine Pflanze hältst, um zu messen, ob sie gedeiht. Was sie in Wirklichkeit braucht, ist Licht, Wasser, gute Erde – nicht einen „Wert“, der sie mit anderen vergleicht.
Mit dieser Antwort bist du nicht zufrieden, denn deine Erfahrung zeigt: in der Berufswelt und auf dem Arbeitsmarkt geht es um Konkurrenz, und zwar immer.
Da müssen sich deine Kinder doch auch durchsetzen gegenüber anderen, so wie im Schul- und Notensystem. Später im Leben gibt es doch auch Konkurrenz – warum soll mein Kind das also nicht schon in der Schule lernen? Du fütterst also ChatGPT erneut mit deinem Einwand und erhältst folgende Reaktion:
Ja, das hören wir oft. Und es stimmt: Es gibt Konkurrenz im Leben. Aber sie ist heute nicht mehr das, was sie vielleicht einmal war.
Die Welt hat sich verändert. Wer heute erfolgreich sein will – im Beruf, im Studium, im Leben, der oder die braucht ganz andere Fähigkeiten als noch vor wenigen Jahren. Es geht nicht mehr primär um das Beherrschen von Prüfungsstoff oder darum, sich gegen andere durchzusetzen. Was heute zählt, ist Problemlösefähigkeit, Teamarbeit, Selbstorganisation, Lernbereitschaft, Kreativität.
Das sagen nicht nur Bildungsforscher:innen – das sagen auch Google, die ETH Zürich, das Weltwirtschaftsforum und selbst das Schweizer Staatssekretariat für Bildung.
Google: Zukunftskompetenzen im Bildungsbereich. Google hat in Zusammenarbeit mit dem Economist Intelligence Unit eine Studie durchgeführt, die die Schlüsselkompetenzen identifiziert, die Schüler:innen benötigen, um in der zukünftigen Arbeitswelt erfolgreich zu sein. Die Studie hebt insbesondere Problemlösungsfähigkeiten, Teamarbeit, Kommunikation und Kreativität hervor.
ETH Zürich: Förderung überfachlicher Kompetenzen. Die ETH Zürich hat ein Kompetenzraster entwickelt, das neben fachspezifischen Kenntnissen auch überfachliche Kompetenzen wie soziale und persönliche Fähigkeiten betont. Dieses Raster unterstützt Dozierende dabei, Lernziele zu formulieren, die Studierenden helfen, sich auf die Anforderungen der zukünftigen Arbeitswelt vorzubereiten.
Weltwirtschaftsforum (WEF): Zukunft der Arbeit. Im „Future of Jobs Report 2025“ des WEF wird betont, dass Kompetenzen wie analytisches Denken, Kreativität und emotionale Intelligenz zunehmend an Bedeutung gewinnen. Arbeitgeber weltweit suchen vermehrt nach Mitarbeitenden, die über diese Fähigkeiten verfügen, um den Herausforderungen der sich wandelnden Arbeitswelt gerecht zu werden.
Schweizer Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI): Das SBFI betont die Bedeutung von Anpassungsfähigkeit und kontinuierlicher Weiterentwicklung in der Berufs- und Weiterbildung, um den sich wandelnden Anforderungen des Arbeitsmarktes gerecht zu werden. Dies unterstreicht die Notwendigkeit von Kompetenzen wie Selbstorganisation und lebenslangem Lernen.
Die Arbeitswelt braucht Menschen mit Ideen, Haltung und Teamgeist – keine Notenspitzenreiter. Wer also Konkurrenz wirklich ernst nimmt, muss Kinder stärken. Er oder sie sortiert sie nicht.
Schule ist kein Vorhof zum Kapitalismus, und sie ist kein Trainingscamp für Marktverhalten. Schule ist – oder sollte sein – ein Entwicklungsraum. Ein Ort, an dem Kinder sich ausprobieren können. Ein Schutzraum, in dem sie sich kennenlernen können, bevor sie sich vergleichen müssen. Ein Raum, der befähigt – nicht abhärtet.
Wer Kinder schon früh in Konkurrenz zwingt, nimmt ihnen die Chance, ihre eigene Stimme zu finden, ihren eigenen Weg. Denn wenn ein Kind nur deshalb motiviert ist, weil es besser sein will als die anderen, dann bleibt es abhängig vom Vergleich. Es wird unsicher, sobald jemand kommt, der „besser“ ist.
Echtes Selbstvertrauen entsteht nicht durch Sieg, sondern durch Selbstwirksamkeit: Ich habe verstanden. Ich bin gewachsen. Ich bin drangeblieben. Ich kann etwas, was ich vorher nicht konnte. Und genau das passiert nicht durch Noten – sondern durch ehrliche Rückmeldung, durch Erfahrung, durch Vertrauen.
Das ist übrigens auch der Grund, warum eine Schule, die ständig auf den Vergleich setzt, etwas ganz anderes trainiert als Stärke: Sie trainiert Angst. Konkurrenz erzeugt Prüfungsstress, Versagensängste, Leistungsdruck, Scham. Das sind keine bedauerlichen Nebenwirkungen. Das ist der Preis – ein hoher Preis für eine Schule, die Kinder durch Prüfungen und Noten gegeneinander stellt.
Die Kinder, die wir stark machen wollen, brauchen keine Angst. Sie brauchen Mut, Freude, Neugier, Kooperationsfähigkeit. Und das entfalten sie in einer entwicklungsorientierten Schule besser als in jedem Konkurrenzsystem.
Und wieder kommt dir ein Einwand in den Sinn: Aber Kinder wollen doch gewinnen! Sie vergleichen sich ständig. Beim Spielen, beim Sport, sogar bei den Hausaufgaben. Konkurrenz liegt doch in ihrer Natur.
Also warum sollte Schule nicht genau das aufnehmen und fördern? Aus dieser Perspektive machen Noten doch total Sinn!
Die KI antwortet: Stimmt, Kinder wollen gewinnen. Sie wollen sich messen. Sie haben Ehrgeiz. Aber es lohnt sich, genauer hinzuschauen, worum es ihnen dabei wirklich geht.
Wenn Kinder im Spiel gewinnen wollen, dann nicht primär aus dem Drang heraus, andere zu besiegen, sondern weil sie sich selbst erleben wollen: ihre Fähigkeiten, ihr Wachstum, ihren Mut, ihre Ideen. Natürlich wollen Kinder gewinnen – aber sie spielen, um sich zu erleben, nicht um zu siegen.
Aber wenn die Anstrengung nur entsteht, um (wieder) besser als andere zu werden, dann geht es um Abhängigkeit. Es nicht um das Lernen sondern um das Gewinnen, und genau das macht das Selbstwertgefühl anfällig. Denn es wird ständig verglichen. Der Selbstwert muss immer wieder neu bewiesen werden. Er gerät ins Wanken, sobald jemand kommt, der schneller, begabter oder einfach besser vorbereitet ist.
Und vor allem: Im Spiel ist die Konkurrenz freiwillig, temporär, spielerisch. Ein Kind kann verlieren und gleich nochmal spielen. Es darf gewinnen ohne jemanden zu demütigen. Es lernt dabei nicht, dass es besser als andere ist, sondern dass es etwas geschafft hat.
In der Schule aber wirkt Konkurrenz anders. Sie ist nicht frei gewählt sondern strukturell eingebaut. Sie ist nicht zeitlich begrenzt, sondern sie wiederholt sich Woche für Woche. Und sie hat reale Konsequenzen: Noten, Übergänge, Laufbahnen, Selbstbilder.
Konkurrenz im Spiel stärkt das Ich. Konkurrenz in der Schule macht Selbstwert abhängig vom Abschneiden.
Es ist ein Unterschied, ob ich motiviert bin, weil ich besser sein möchte, oder weil ich Angst habe, schlechter zu sein. Wer nur stark ist im Vergleich, bleibt abhängig. Wer sich nur über das Bessersein definiert, macht sein Selbstwertgefühl abhängig vom Vergleich – und verliert die innere Sicherheit, sobald jemand kommt, der oder die „besser“ ist.
Anstrengung ist wichtig. Entscheidend ist jedoch die Quelle dieser Anstrengung. Wenn ein Kind sich anstrengt, weil es etwas verstehen will, weil es wachsen will, weil es selbst spürt: „Ich kann das schaffen“, dann entsteht Selbstwirksamkeit. Dann ist die Motivation stabil, eigenständig, langfristig tragfähig.
Wer sich nur über das Bessersein definiert, lernt nicht, mit sich selbst in Kontakt zu kommen und zu bleiben sondern wird getrieben – von aussen, vom Blick der anderen. Das kann kurzfristig zu Leistung führen. Aber es macht Kinder auf Dauer anfällig für Druck, Perfektionismus, Angst vor Versagen und Erschöpfung.
Es geht also nicht darum, den natürlichen Ehrgeiz von Kindern zu unterdrücken, sondern darum, ihm eine andere Richtung zu geben: Nicht „Ich will gewinnen – also muss jemand verlieren“, sondern: „Ich will wachsen – und kann das auch mit anderen gemeinsam.“
Denn was Kinder noch viel tiefer motiviert als das Gewinnen, ist Bedeutsamkeit. Das Gefühl: Ich zähle. Ich werde gesehen. Ich kann etwas beitragen. Dafür braucht es eine Schule, die nicht selektiert, sondern stärkt; die nicht vergleicht, sondern begleitet; die nicht ständig fragt, wer vorne ist, sondern wohin jede:r unterwegs ist.
Wettbewerb motiviert – aber er darf nicht über Zugehörigkeit entscheiden. Kinder brauchen Räume, in denen sie sich entwickeln dürfen, ohne sich beweisen zu müssen.
Allerdings verstehst du immer noch nicht so ganz, warum das gegen Noten sprechen sollte. Sie sind doch eine wunderbare Möglichkeit für Kinder und Jugendliche, um zu sehen, wo sie stehen, was sie können und was nicht.
Oder: Woher soll denn ein Kind wissen, was es wirklich kann, wenn es keine Noten mehr bekommt? Eine Note sagt dem Kind doch ganz genau, wo steht und was es kann, und was es noch nicht kann.
Das ist eine berechtigte Frage, sagt die KI, und auf den ersten Blick klingt es ja auch logisch: Wenn etwas wichtig ist, sollte man es auch bewerten können. Aber genau da liegt das Problem.
Noten tun so, als könne man komplexe, lebendige Fähigkeiten in eine Zahl pressen. Doch das wird diesen Fähigkeiten nicht gerecht. Es macht sie sogar unsichtbar. Stell dir vor: Dein Kind zeigt Empathie, löst Konflikte, bleibt dran, denkt originell. Was genau wäre dann eine 3,5 in „Teamfähigkeit“? In welchem Moment? In welchem Team? Unter welchem Druck? Und warum nicht 4,0 oder 2,5?
Solche Qualitäten sind dynamisch, situationsabhängig, nicht objektivierbar. Sie brauchen Gespräche, Beobachtung, Begleitung – keine Zahl, denn sobald eine Zahl ins Spiel kommt, verschiebt sich der Fokus: Kinder fragen nicht mehr „Wie kann ich lernen?“, sondern „Was muss ich tun für die Fünf?“ Sie lernen nett zu sein, wenn es drauf ankommt. Sie vergleichen sich: „Ich war hilfsbereiter als sie – warum habe ich nur eine 4,5?“, und sie beginnen zu performen statt zu lernen.
Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, freundlich zu sein, wenn es darauf ankommt. Aber genau das ist der Punkt: Freundlichkeit, die aus Anpassung entsteht, ist nicht dasselbe wie Freundlichkeit, die aus Haltung kommt. Wenn Kinder freundlich sind, weil sie dafür eine gute Note erwarten, dann ist das keine soziale Kompetenz – sondern strategisches Verhalten:
Sie „performen“ Freundlichkeit, weil sie wissen, dass es benotet wird. Sie sind hilfsbereit, solange es nützt aber nicht unbedingt, wenn es schwierig, unpopulär oder unbeobachtet ist, und sie lernen dabei nicht: „Ich will kooperieren“ sondern: „Ich sollte kooperieren – sonst gibt’s Abzug.“ Das mag auf den ersten Blick gut aussehen – aber es ist nicht stabil. Es ist eine Maske, kein Charakter.
Lehrer:innen berichten, dass heute mehr Kinder als früher frech, unkonzentriert oder übergriffig auftreten. Da mag etwas dran sein, aber Noten als Verhaltenssteuerung helfen da nicht nachhaltig. Wer sich nur gut verhält, wenn’s benotet wird, wird nicht automatisch respektvoll. Er und sie werden taktisch, nicht wertorientiert. Wirklich tragfähige Sozialkompetenz entsteht nicht durch Belohnung oder Strafe, sondern durch Beziehung, Vorbild und Reflexion.
Eine Freundlichkeit, die auf Wirkung zielt, ist nicht dieselbe wie eine Freundlichkeit, die aus Überzeugung kommt. Wenn Schule echtes Miteinander fördern will, dann braucht es Beziehungsarbeit, nicht Bewertung, und es braucht Räume, in denen Kinder erleben, warum es Sinn macht, zu kooperieren, nicht nur, dass es belohnt wird.
Egal, wie wir es drehen und wenden: Noten führen nicht zu Entwicklung, sondern zu Anpassung. Noten machen aus Entwicklung ein Urteil. Ein Kind, das heute Mühe hat mit Selbstorganisation, kann morgen riesige Fortschritte machen. Aber wenn es dafür eine 3 bekommen hat, denkt es womöglich: „Ich bin halt nicht gut darin.“ Und genau das blockiert Entwicklung.
Was stattdessen hilft, ist Feedback. Nicht: „Du bekommst eine 4,5 in Kreativität“ sondern: „Du hast tolle Ideen eingebracht und warst mutig, und du bist nach der ersten Kritik zurückgezuckt. Lass uns zusammen überlegen, wie du nächstes Mal dranbleibst.“ Das ist konkret, ehrlich, aufbauend. Es vergleicht nicht – es stärkt.
Noten sind wie Stempel. Feedback hingegen ist wie ein Kompass. Und genau darum geht es: Wenn wir ernsthaft wollen, dass Kinder sich entwickeln, dann brauchen sie keine Bewertungen, die sie vergleichen sondern Rückmeldungen, die ihnen zeigen, wo sie stehen und wie es für sie weitergehen kann. Ich kann vieles messen. Aber nicht alles, was zählt, lässt sich benoten. Und nicht alles, was ich benoten kann, ist wirklich wichtig.
Und dann kommt sie – diese eine, vielleicht ehrlichste Frage: Wenn doch all diese Argumente gegen Noten stimmen – warum halten dann praktisch alle Schulen an ihnen fest?
Oder: Wenn Schulen, die doch Expertinnen für Bildung sind, weiterhin Noten geben, dann muss doch irgendetwas dran sein.
Die Antwort von ChatGPT ist keine schnelle. Und sie ist keine bequeme, denn sie zeigt: Schule ist kein neutrales System. Schule ist nicht einfach ein pädagogischer Raum, der sich rational optimieren lässt. Sie ist ein historisches, politisches, kulturelles Gebilde. Noten sind darin zwar nicht notwendig, aber sie haben zentrale Funktionen:
Erstens: Noten wirken vermeintlich „objektiv“
Eine Zahl fühlt sich gerecht an. Eine 5 auf einem Blatt Papier – das ist eine „harte Tatsache“. Noten geben das Gefühl von Klarheit. Eine 5 wirkt wie ein Beweis: sachlich, neutral, unanfechtbar. So entsteht der Eindruck: Die Leistung spricht für sich. Doch in Wahrheit wird damit Komplexität reduziert – und Verantwortung wird in eine Zahl ausgelagert.
Die Objektivität („Ich habe fair benotet“) ist eine Illusion. Kein Mensch ist eine 4,5. Kein Text ist eine 3. Kein Verhalten ist eine 5. Lernen ist kein Temperaturwert. Lernen ist lebendig. Es entsteht im Dialog, im Kontext, in Beziehung. Und das entzieht sich der Illusion einfacher Messbarkeit.
Zweitens: Noten schaffen Ordnung – nicht Entwicklung
Noten helfen, Kinder zu sortieren: für Übergänge, Zuteilungen, Fördergelder. Sie helfen Behörden beim Vergleichen von Schulen. Noten entlasten die Politik, weil sie suggerieren, dass Leistung einfach eine Funktion von Fleiss ist: Wer genug tut, ist gut. Das klingt vernünftig – und ist genau deshalb gefährlich.
Denn daraus entsteht ein stiller Umkehrschluss: Wer nicht gut abschneidet, hat sich wohl nicht genug angestrengt. Und genau das ist falsch – und es ist blind für die gesellschaftlichen Zusammenhänge.
Leistung ist nie nur das Ergebnis von Fleiss. Sie ist abhängig von Startbedingungen, sozialen Kontexten, psychischer Sicherheit, Beziehungserfahrungen und strukturellen Chancen.
Die Vorstellung, man müsse nur „genug tun“, um erfolgreich zu sein, stabilisiert ein System, das den Unterschied zwischen Chancengleichheit und Ergebnisgleichheit systematisch verwischt. Das ist aber kein pädagogisches Argument. Es ist ein System-Erhaltungsargument – das sich als Leistungsgerechtigkeit tarnt.
Drittens: Noten sind ein tiefes kulturelles Erbe
Unsere Gesellschaft ist durchzogen vom Leistungsdenken; vom Vergleichen; von Zertifikaten. Für viele Menschen – auch Lehrpersonen –ist „ohne Noten“ gleichbedeutend mit ohne Ordnung, ohne Kontrolle, ohne Disziplin. Das ist zwar nicht rational, und es ist falsch, aber es sitzt tief. Denn viele von uns wurden selbst geprägt von einem System, das früh sagte: „Du bist eine 3, eine 5, ein Problemfall, ein Talent.“ Das haben wir verinnerlicht – auch wenn es uns verletzt hat.
Viertens: Es braucht Mut, Kontrolle loszulassen
Was wäre die Alternative? Vertrauen in Entwicklung statt Bewertung? Vertrauen in Beziehung statt Punktzahl? Vertrauen in Feedback statt Selektion? Das klingt gut. Aber es fordert uns heraus. Denn es verändert nicht nur das Instrument sondern das Menschenbild. Und genau deshalb bleibt es oft beim Alten. Nicht, weil wir nichts wüssten, sondern weil uns der Mut fehlt, die Konsequenz zu ziehen.
Fünftens: Veränderung beginnt nicht bei Erkenntnis sondern bei Verantwortung
Viele wissen längst, dass Noten problematisch sind. Aber wer sie abschafft, muss Alternativen entwickeln; muss Eltern mitnehmen und Kinder begleiten; muss Lehrpersonen fortbilden; muss neue Formen von Feedback finden, von Orientierung, von Übergängen.
Das ist aufwändig. Es braucht Ressourcen, es braucht Rückhalt, es braucht politische Entscheidungskraft. Und es braucht eine öffentliche Debatte, die bereit ist, alte Gewissheiten zu hinterfragen.
Und deshalb, lieber Vater, liebe Mutter: ja – du hast recht. Das Notenthema ist widersprüchlich. Schule weiss oft, dass Noten schaden, und sie benutzt sie trotzdem. Nicht, weil das besser ist. Sondern weil es einfacher ist. Genau deshalb braucht es jetzt eine Bewegung: von innen und von aussen.
Von Eltern, die fragen: „Was stärkt mein Kind wirklich – nicht nur auf dem Papier?“
Von Lehrpersonen, die sagen: „Ich will nicht mehr sortieren – ich will begleiten.“
Von Schulen, die zeigen: „Es geht auch anders – menschlicher, ehrlicher, lernwirksam.“
Und eine Schule, die jetzt beginnt neue Wege zu gehen, ist zwar noch nicht in der Mehrheit – ganz im Gegenteil. Aber sie ist nicht naiv. Sie ist nicht radikal. Sie ist konsequent, weil sie verstanden hat: Kinder brauchen keinen Platz im Ranking. Sie brauchen einen Ort, an dem sie wachsen dürfen.