Ein auf LinkedIn geposteter Beitrag behauptet, Kinder würden durch den Umgang mit Smartphones und Social Media denselben Gefahren ausgesetzt wie bei einer Autofahrt mit 200 Stundenkilometern (Quelle unten 👇). Der Autor konstruiert daraus ein dramatisches Bedrohungsszenario: Kinder seien ungeschützt, unreif und ohne Anleitung unterwegs in einer digitalen Welt, die darauf angelegt sei, sie abhängig zu machen. Zugleich erhebt er einen pauschalen Vorwurf an ein konstruiertes „Wir“. Wir würden Kinder bewusst Geräte(n) und Anwendungen überlassen, die suchtoptimiert gestaltet seien, ohne Verantwortung zu übernehmen oder Schutzmassnahmen zu treffen.
Schlafmangel, Konzentrationsstörungen, mangelnder Selbstwert und Orientierungslosigkeit Jugendlicher seien unmittelbare Folgen des Umgangs mit digitalen Medien. Gesellschaftliche, schulische oder psychosoziale Einflussfaktoren bleiben ausgeblendet.
Aus dieser Diagnose leitet der Autor drei scheinbar einfache Lösungen ab.
Erstens sollen private Smartphones vollständig aus der Schule verbannt werden. Angeblich nicht aus Technikfeindlichkeit, sondern um die „Kindheit zu retten“.
Zweitens fordert er, Social-Media-Zugänge gesetzlich an den Jugendschutz zu koppeln und nach ausländischen Modellen die Anbieter in die Verantwortung zu nehmen.
Drittens soll Medienkompetenz ausschliesslich über schulisch kontrollierte und gefilterte Endgeräte vermittelt werden, nach dem Vorbild des Autofahrens: erst Übungsplatz, dann Führerschein, dann Strasse.
Der Beitrag folgt damit einem klaren Deutungsmuster:
Digitale Technologien erscheinen als Hauptgefahr für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, Eltern als verantwortungslose Ermöglicher, Schule als rettende Autorität.
Solche Narrative, Analogien und Forderungen tragen weder inhaltlich, noch logisch, noch pädagogisch.
Es ist ein vertrautes Muster: Wo eine Gesellschaft an die Grenzen ihrer eigenen Steuerungsfähigkeit gelangt, entstehen moralische Paniken. Was früher Rockmusik, Comics oder Videospiele waren, sind heute Smartphones und soziale Medien. In diesen Debatten wird nicht nach Ursachen, sondern nach Schuldigen gesucht, und meist trifft es das technisch Neue.
Der falsche Vergleich
Das Bild vom Kind, das „ein Auto fährt“, wenn es ein Smartphone benutzt, ist rhetorisch wirksam, logisch jedoch unhaltbar.
Erstens: Ein Auto ist ein physisches Objekt, das mit hohem Risiko Leben gefährdet; ein Smartphone ist ein Medium, das symbolische Räume öffnet.
Zweitens: Autofahren verlangt standardisierte Abläufe und Regelkenntnis – Kommunikation in digitalen Räumen ist situativ, sozial und kulturell kontextabhängig.
Drittens: Geschwindigkeit ist in der Metapher wörtlich gemeint (200 km/h), während digitale „Geschwindigkeit“ eine Metapher für Informationsdichte ist. Wer diese Ebenen gleichsetzt, verfehlt jede begriffliche Präzision.
Viertens: Ein Führerschein ist ein staatlich geregelter Kompetenznachweis; Medienkompetenz dagegen ist kein Prüfungswissen, sondern ein Prozess sozialer Aushandlung.
Fünftens: Die Metapher verkehrt Verantwortung. Autofahren ist ein kontrollierter Akt im Verkehrssystem; digitale Kommunikation ist ein relationaler Prozess in sozialen Räumen. Wer beides gleichsetzt, verwechselt Technikgebrauch mit kultureller Teilhabe.
Diese Analogie scheitert somit auf logischer, semantischer und anthropologischer Ebene. Sie emotionalisiert, wo differenzierte Reflexion nötig wäre.
Moralische Panik als Struktur
Die Rede vom „wir“, das „unsere Kinder“ schutzlos „durch eine Welt voller Gefahren“ rasen lässt, ist kein Appell, sondern eine Projektion. Sie verallgemeinert und moralisiert, ohne empirische Grundlage. Millionen Eltern begleiten ihre Kinder heute sehr bewusst durch digitale Räume, und zwar reflektierter, als es die Schule Stand heute auf die Reihe bringt.
“Medice, cura te ipsum.”
Ein Satz wie „Wir geben ihnen Geräte, gebaut, um abhängig zu machen“ folgt einer Rhetorik der Entmündigung: Kinder erscheinen als passive Opfer, Eltern als Versager, Technik als dämonische Macht.
Doch diese Dramaturgie lenkt ab von den realen Ursachen jugendlicher Überforderung: von Prüfungsdruck, Mobbing, sozialer Isolation, Lehrpersonenmangel, überfüllten Klassen, psychischer Belastung und dem strukturellen Versagen eines Schulsystems, das bis heute kaum Resonanzräume bietet.
Das eigentliche Problem: ein analoges System in einer digitalen Welt
Schule ist die letzte grosse Analogmaschine in einer digital vernetzten Gesellschaft. Sie organisiert Lernen nach Fächern, Zeitrastern und Bewertungssystemen, die mit der Lebensrealität junger Menschen kaum noch kompatibel sind.
Die Reaktion auf diese Kluft ist nun aber nicht Innovation, sondern Restriktion: Verbote, Filtersysteme, kontrollierte Endgeräte.
Diese Kontrolle verschleiert die eigene Hilflosigkeit. Wenn Schule Medienkompetenz über „schulisch administrierte Endgeräte“ vermitteln will, institutionalisiert sie Überwachung und Zensur und nennt es Jugendschutz.
Lernen funktioniert nicht über Kontrolle, sondern durch Beziehung, Erfahrung und Verantwortung. Kinder lernen Medienkompetenz nicht durch gefilterte Übungsplätze, sondern durch begleitetes Erkunden realer digitaler Räume.
Der autoritäre Reflex
Die Forderung, private Smartphones aus Schulen zu verbannen, ist kein pädagogisches Konzept, sondern ein autoritärer Reflex.
In demokratischen Gesellschaften ist der Eingriff in persönliches Eigentum und individuelle Kommunikationsräume rechtlich wie ethisch hoch problematisch. „Kindheit ist nicht verhandelbar“, heisst es da. Doch wenn das stimmt, dann müsste zuerst das bestehende Schulsystem zur Disposition stehen: jenes System, das Kindheit systematisch verplant, standardisiert und evaluiert.
Kindheit wird nicht durch Technologie bedroht, sondern durch Strukturen, die Kindern keine Stimme geben.
Die Illusion der Altersgrenze
Kaum ein Vorschlag klingt harmloser als jener, Social-Media-Zugänge oder Smartphone-Nutzung an Altersgrenzen zu knüpfen. Doch hinter dieser scheinbar pragmatischen Idee steckt ein massiver Eingriff in Freiheits- und Persönlichkeitsrechte. In einem Rechtsstaat kann der Staat nicht darüber entscheiden, welche Kommunikationsformen oder digitalen Räume Kinder in der Obhut ihrer Eltern nutzen dürfen. Das ist keine Frage der Technik, sondern der Grundordnung: Verantwortung für Erziehung und Begleitung liegt in erster Linie bei den Eltern, nicht bei staatlicher Kontrolle.
Darüber hinaus ist die Idee einer fixen Altersgrenze unhaltbar. Kinder entwickeln sich nicht nach Kalenderjahren, sondern in relationalen, sozialen und kulturellen Kontexten. Der Versuch, einheitlich festzulegen, ab wann ein Mensch „reif genug“ für digitale Kommunikation ist, ist so absurd wie der Versuch, ein fixes Alter für Freundschaft, Verantwortung oder Trauer zu definieren.
Schliesslich ist eine solche Regelung auch praktisch nicht durchsetzbar. Digitale Räume sind keine umzäunten Spielplätze, sondern globale Infrastrukturen. Jede Sperre lässt sich umgehen, jede App neu aufrufen, jeder Account neu anlegen. Was bleibt, ist Symbolpolitik: der Versuch, Kontrolle zu simulieren, wo Bildung, Beziehung und Vertrauen gefordert wären.
Ein Staat, der Kindheit durch Zugangsbeschränkung schützen will, handelt nicht fürsorglich, sondern bevormundend. Er produziert und potenziert genau jene Ohnmacht, die er zu verhindern vorgibt.
Der Diskurs der Angst
Der Diskurs über Social Media ist längst zu einem Angstdiskurs geworden. Seine Grammatik ist die des Fundamentalismus: Er braucht klare Feindbilder, einfache Lösungen, moralische Reinheit.
Doch Angst ist keine Bildungsstrategie. Was Kinder und Jugendliche wirklich gefährdet, ist nicht der Kontakt mit Technologie, sondern das Fehlen einer Gesellschaft, die ihnen zutraut, mit Technologie verantwortungsvoll umzugehen.
Das Gebot der Stunde lautet, Beziehung, Sinn und Teilhabe in der Gegenwart neu zu gestalten. Digitale Räume sind für viele Jugendliche nicht die Ursache ihrer Einsamkeit, sondern ihr einziger verbliebener Resonanzraum. Hier liegt der Hund begraben.
Rationalität statt Kreuzzug
Wenn ein System wie die Schule, das selbst in sich autoritär und hierarchisch organisiert ist, plötzlich zum Wächter moralischer Reinheit in digitalen Räumen wird, offenbart das keinen Jugendschutz, sondern Selbstverteidigung. Was als Fürsorge auftritt, ist in Wahrheit ein Kampf um Deutungshoheit.
Ein Diskurs müsste anders beginnen:
Er müsste anerkennen, dass digitale Sozialität eine Erweiterung menschlicher Kommunikationsformen ist, keine Degeneration.
Er müsste akzeptieren, dass Medienkompetenz kein Verwaltungsakt ist, sondern eine Beziehungsleistung
Er müsste aufhören, Technologie als Bedrohung zu behandeln, und beginnen, sie als Bildungsgegenwart zu begreifen.
Er müsste Kinder und Jugendliche nicht vor der Welt schützen, sondern befähigen, sie mitzugestalten.
Die Verteufelung digitaler Medien ist keine Sorge um das Kind, sondern ein Symptom gesellschaftlicher Überforderung.
Solange Schule Kontrolle über Freiheit stellt, Moral über Erkenntnis, und Angst über Verantwortung, bleibt sie Teil des Problems.
Wenn Erwachsene wirklich Verantwortung übernehmen wollen, dann nicht, indem sie Kindern Geräte wegnehmen, sondern indem sie endlich lernen, mit ihnen gemeinsam in dieser Welt zu leben.
Die öffentliche mediale Debatte über Schule und Bildung läuft heiss. Vorschläge und Antworten auf die Frage, wie Schule ihre eigene Krise überwinden könnte, überschlagen sich.
Jedoch: Bei der Frage wie Lernumgebungen für Kinder und Jugendliche aussehen, die in ihnen (allen) gerecht werden, ihrem Lernen, ihren Bedarfen, ihren Potenzialen und Bedürfnissen, und nicht unseren Vorstellungen von Beschulung, da weicht die Diskussion regelmässig aus.
Nicht zuletzt deshalb, weil die Lernenden selbst nicht mit am Tisch sitzen, wenn es darum geht, neue Lernumgebungen zu entwickeln.
Es bleibt bei dem Narrativ, dass Schule vorbereiten muss, auf was auch immer, und dass die einen die anderen vorbereiten, dass die einen lehren und die anderen lernen.
Im Rahmen einer kleinen Podcast-Serie über #Colearning sprechen Christine Feld und ich über unsere Erfahrungen mit diesem kongenialen, neuen Ansatz.
Colearning ist nicht DIE einzig wahre Lösung für alle Probleme. Es ist einfach eine (1) Lösung, die funktioniert. Für Menschen jeden Alters.
Was hat es mit diesem Colearning auf sich, das im Effinger Coworking in Bern entstanden ist, und das im Moment von sich reden macht?
Ich habe gemeinsam mit ChatGPT Dokumente durchforstet, die im Verlauf unserer jungen Geschichte entstanden sind, und daraus eine Textvorlage gemacht, die Notebook LM in einen Audio-Podcast übertragen hat 👇
In 20 Minuten wird nicht nur sichtbar oder spürbar, sondern auch nachvollziehbar, worum es bei Colearning geht.
Der Audio-Podcast erzählt von Lernen jenseits der Schulmatrix, vom gesehen werden und getragen sein, von kleinen gemeinsamen Formen, die Halt statt Kontrolle geben.
Er zeigt, wie aus echtem Interesse eigene Vorhaben werden – selber lernen, aber nicht alleine – und wie eine Community daraus Verbindlichkeit aus Zugehörigkeit wachsen lässt.
Wo Arbeit, Leben und Lernen sich berühren (Coworking, Lernunternehmen, Nachbarschaft), entsteht Wirkung: persönlich, sichtbar, tragfähig.
Wenn du wissen willst, wie Lernen ohne Programme und Takte Orientierung bekommt: hör rein.
Wenn im Podcast von Telos die Rede ist, dann ist damit Ziel gemeint 🙂
Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang das Buch von Manuel Bürli, mit dem er die Idee und das Konzept des Community Branding auf ganz wunderbare Art auf- und durcharbeitet. Vieles von seiner Recherche und Reflektionsarbeit ist in diesen Audio-Podcast eingeflossen.
Immer wieder wird nachgewiesen, dass Schulnoten ungerecht sind. Jüngst durch eine Studie von Chantal Oggenfuss und Stefan Wolter, die von Philippe Wampfler in einem Blogpost aufgegriffen wurde: Mädchen erhalten bessere Noten als Knaben, Kinder mit anderer Erstsprache schlechtere, und wer in einer besonders starken Klasse sitzt, wird zusätzlich benachteiligt. Bis zu 0.6 Noten Unterschied bei gleicher Leistung.Für mich lautet die Frage deshalb schon längst nicht mehr, ob Noten ungerecht sind, sondern warum. Warum ist Schule selbst ein Ort, der Ungerechtigkeit produziert und verstärkt, und warum wird das so selten ausgesprochen?
Noten sind nur das Symptom
Noten sind nicht Ursache schulischer Ungerechtigkeit, sondern sichtbarer Ausdruck einer Schule, die auf Vergleich, Selektion und Homogenisierung angelegt ist. Auch differenzierte, dialogische Bewertungsformen können diese Logik nicht aufheben, denn schulische Bewertung ist als solche immer voraussetzungsreich und reproduziert bestehende Unterschiede.
Solange Gleichzeitigkeit, gleicher Stoff und Vergleich die Organisation von Schule prägen, wirken neue Bewertungsformate lediglich an der Oberfläche. Auch Prozess- oder Teambeurteilung ist unter diesen Umständen immer voraussetzungsreich: Sie verlangt Zeit, gemeinsame Kriterien und diagnostische Kompetenz. Da diese Voraussetzungen ungleich verteilt sind, entstehen wieder neue Ungleichheiten. Zudem machen Bewertungen – ob durch Noten oder durch Alternativen – Unterschiede institutionell wirksam, etwa bei Übergängen und Zugängen, und stabilisieren damit die bestehende Logik.
Schule braucht die ihr eigene Logik der Ungleichheit, um überhaupt funktionieren zu können. Ausgangspunkt dieser Logik ist die widerlegte Grundannahme, dass Lernen von aussen und institutionell steuerbar sei. In dem Moment, wenn Lernen als steuerbar gedacht wird, erscheint Messbarkeit als notwendige Voraussetzung von Steuerung. Dadurch wird Messbarkeit zur Bedingung institutioneller Legitimation.
Schule versteht sich als steuerbare Organisation, die das Lernen, seine Prozesse, seine Inhalte und Ziele reglementiert, und die ihre Legitimation aus „Kontrolle und Rechenschaft“ bezieht.
Adressat dieser Steuerung ist – anders als es auf den ersten Blick erscheinen – primär die Organisation Schule selbst: ihre Prozesse, Ressourcen und Übergänge. Die hierfür genutzten Messwerte stammen jedoch aus dem Lernen der Kinder und Jugendlichen. Sie fungieren als Stellvertretergrössen für die Steuerbarkeit der Institution.
Die dahinterliegende Absicht ist also: Handlungen der Schule sollen nachweisbar, kontrollierbar und administrativ verantwortbar sein. Messung ist in diesem Sinne ein Instrument institutioneller Selbstabsicherung. Schule behauptet dadurch Rationalität und Objektivität, um gegenüber Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit Rechenschaft ablegen zu können.
Mit anderen Worten: Nicht Lernen steht im Zentrum, sondern die Legitimation der Steuerung. Lernen wird messbar gemacht, damit Schule organisiert werden kann.
Um Messbarkeit herzustellen, koppelt Schule vorhandene sprachliche, kognitive, biografische, soziale und körperliche Unterschiede, also jene Heterogenität, die Lernen überhaupt ermöglicht, systematisch an Kennwerte. Erst durch diese Kopplung werden Unterschiede zu Messobjekten, aus denen dann Steuerungsgrössen, Zuteilungen und Rechenschaft abgeleitet werden. Die implizite Annahme lautet:
Ohne messbaren Unterschied keine legitime Steuerung, ohne Steuerung keine Institution.
Entscheidend für jene Ungerechtigkeit, die Schule hervorbringt, sind deshalb nicht die Unterschiede als solche sondern ihre Verwandlung in Vergleichswerte. Wenn wir Bildungsgerechtigkeit anstreben, müssen wir diese Kopplung lösen: Unterschiede sollen sichtbar bleiben und für das Lernen wirksam werden, ohne automatisch in Rankings, Übergänge oder Ressourcenzuteilungen übersetzt zu werden. Solange die Kette Unterschied → Messung → Steuerung → Legitimation unverändert bleibt, verwalten auch neue Bewertungsformen die Ungleichheit, sie überwinden sie nicht.
Diese „Steuerungsillusion“ findet sich in weiteren Grundformen von Schule wieder:
Unterricht, der lehrt statt lernen lässt
Auch wenn der klassische Frontalunterricht vielerorts methodisch variiert wurde, bleibt das Grundprinzip dasselbe: Inhalte werden autoritativ ausgegeben und Lernende nehmen sie rezeptiv auf, ob als Vortrag, Arbeitsblatt, PDF, Padlet, Lernvideo oder über App. Stoff wird zugewiesen, Zeit wird getaktet, das Tempo setzt die Schule oder die Lehrperson. Diese Logik der Beschulung ist so tief in unsere Vorstellung von Schule eingeschrieben, dass wir sie nicht hinterfragen.
Was dabei passiert, ist fatal: Wer mit dieser Lernlogik vertraut ist, etwa Kinder aus bildungsnahen Familien, mit hoher Sprachkompetenz und ruhiger Lernumgebung zu Hause, kommt gut zurecht. Andere, die anders lernen, werden abgehängt. Hinzu kommen die kompetitiven und hinsichtlich der Kommunikation eher künstlichen Bedingungen des Klassenraums: Es wird um Aufmerksamkeit, Redezeit und Anerkennung konkurriert – in vielen Klassen ist es allerdings genau umgekehrt: „bloss nicht auffallen“. Jedenfalls folgen Gespräche vorgegebenen Rollen und Prüfregimen, das „Publikum“ ist nicht echt. Unterricht sortiert also bereits, bevor überhaupt eine Note gesetzt wird.
Das nennt man strukturelle Ungerechtigkeit. Sie geschieht leise, alltäglich und mit systematischer Wirkung.
Ein Curriculum für alle – und damit für niemanden
Der Lehrplan 21 ist nicht in jeder Hinsicht linear. Er ist in Kapitel und Jahresablauf strukturiert und gibt Takte vor, variiert aber die Linearisierung – zumindest der Möglichkeit nach: Kompetenzen werden über Zyklen hinweg gedacht, Spielräume für thematische Zugänge sind angelegt. Gleichwohl entsteht oder bleibt in der Praxis häufig ein linearer Vollzug.
Wichtige Erkenntnis: Dass alle zur selben Zeit am selben Ort dasselbe lernen, geht nicht ausschliesslich von einem Lehrplan aus, sondern von einer gewachsenen Schulkultur: organisatorische Routinen, Stundenpläne, Prüf- und Zeugnisrhythmen, Erwartungshaltungen von Eltern und Institutionen. Diese Kultur ist älter als jeder Lehrplan und übersetzt Öffnungen des Lehrplans oft zurück in Gleichschritt.
Doch kein Mensch lernt linear. Kinder, und nicht nur sie, lernen sprunghaft, interessengeleitet, durch Umwege, Wiederholungen, Gespräche, Irrtümer.
Wenn alle dasselbe zur selben Zeit lernen müssen, wird Gleichbehandlung plötzlich zum Gegenteil von Gerechtigkeit. Denn gleiche Aufgaben für ungleiche Lernvoraussetzungen bedeuten ungleiche Chancen.
Wer also glaubt, der Lehrplan sorge für Fairness, verkennt: Er sorgt für Ordnung, nicht für Gerechtigkeit.
Klassen: Der Versuch, Heterogenität zu verstecken
Auch die Einteilung in Klassen ist ein Versuch, mit der Vielfalt menschlicher Entwicklung fertigzuwerden. Klassen sind Verwaltungsstrukturen, keine pädagogische Notwendigkeit.
Sie erzeugen eine ganz eigene Form von Ungerechtigkeit, denn Klassen sind nie gleich stark, nie gleich gemischt, nie wirklich zufällig zusammengesetzt. Es gibt Klassen mit hohem Bildungsniveau, motivierten Eltern, gutem Ruf, und es gibt die anderen.
Wer in einer „guten Klasse“ ist, profitiert von der Lernkultur. Wer in einer „schwachen Klasse“ landet, hat weniger Chancen, aufzuholen. Studien belegen das immer wieder: Leistungsstarke Umfelder fördern Lernzuwachs, aber nur für jene, die bereits stark sind. Für alle anderen ist der Vergleich lähmend.
Ein Einwand von Lehrpersonen und Eltern lautet hier: Schule könne Ungleichheit nicht ausblenden, da sie gesellschaftliche Realität widerspiegelt; eine Schule, die dem entgegenwirkt, schaffe eine künstliche Gegenwelt. Genau hier liegt jedoch die pädagogische Aufgabe:
nicht eine Schutzblase zu bauen, sondern Erfahrungsräume zu gestalten, in denen soziale Realität verstehbar, bearbeitbar und veränderbar wird. Schule simuliert die Welt nicht, sie eröffnet Zugänge zu ihr und reduziert dabei systematische Barrieren, statt sie zu normalisieren.
Selektion als nationale Leidenschaft
Nach der Primarschule ist in der Schweiz Schluss mit der gemeinsamen Bildung. Das Sortieren greift endgültig durch: Sekundar, Real, Sek A oder Sek B, Gymnasium, mit all ihren subtilen sozialen Codes.
Was als „Leistungsdifferenzierung“ etikettiert wird, ist in Wahrheit ein Mechanismus sozialer Reproduktion. Denn wer in welchem Zweig landet, hängt nur zum Teil von Leistung ab, die es als individuell herausrechenbares Phänomen ja gar nicht gibt, wie längst erwiesen ist. Die Bildungskarriere hängt vor allem von Erwartungen ab, vom Elternhaus, von der Sprache, von der Lehrperson, die empfiehlt.
Die Forschung ist eindeutig: Systeme mit früher Selektion haben eine grössere soziale Ungleichheit. Und jedes „Durchlässigkeits“-Versprechen kann diesen Grundmechanismus kaum mildern. Für die Schweiz ist es auch längst widerlegt.
Jahrgänge und der Zwang zur Gleichzeitigkeit
Das Jahrgangssystem wirkt harmlos, fast selbstverständlich. Aber es ist eine der stillen Quellen schulischer Ungerechtigkeit.
Kinder, die vor dem 1. August geboren sind, gelten als „schulreif“. Kinder, die ein paar Monate später geboren sind, als „noch nicht so weit“. Ein Jahr Unterschied in der biologischen Entwicklung entscheidet über den schulischen Erfolg und begleitet Kinder bis ins Berufsleben.
Die Idee, dass alle eines Jahrgangs das Gleiche lernen sollen, ist bequem, aber absurd. Kein Jahrgang ist homogen. Der Versuch, ihn homogen zu machen, führt zwangsläufig zu Benachteiligung.
Wenn Schule vergleicht, verliert sie
Vergleiche sind das Herz der Schule: Noten, Rankings, Übertrittsverfahren, Probezeiten. All das soll objektivieren, wer „gut“ und wer „schwach“ ist.
Doch Vergleiche sind niemals neutral. Sie entstehen in einem Feld, das schon vorher ungleich ist, sozial, sprachlich, emotional. Und weil Noten und Tests diese Ungleichheit sichtbar machen, halten sie das System am Leben. Sie legitimieren die Unterschiede, die das System selbst produziert. So wird aus Ungleichheit Normalität.
Der psychologische Blick auf Abweichung von einem festgelegten Mass erzeugt häufig Beschämung. Aus Schamangst passen sich Kinder und Jugendliche an, sie ordnen sich unter, sie unterdrücken Eigenheiten und richten sich nach äusseren Normen. Das macht sie steuerbar und fügt sie leichter in vorgegebene Rollen ein, bis hin zur Haltung als konsumierende Subjekte. Auch dies ist ein Effekt der Kopplung von Unterschied an Vergleichswerte: Nicht die Vielfalt ist das Problem, sondern der Bewertungsrahmen, der sie in Hierarchien übersetzt.
Was jetzt? Eine Schule, die Ungerechtigkeit nicht repariert, sondern überwindet
Wer Gerechtigkeit ernst nimmt, kann Schule nicht durch kosmetische Anpassungen „gerechter machen“. Solange sie denselben Horizont vorgibt, bleiben alle am gleichen Ziel verankert. Gerechtigkeit beginnt dort, wo Schule aufhört, Ziele für alle zu definieren, und stattdessen Wege eröffnet, die sich unterscheiden dürfen. Sie beginnt dort, wo Schule das Prinzip des Vergleichs selbst aufgibt.
Lernen ohne Zentrum und ohne Rand Schule hört auf, Lernende entlang einer Skala zu ordnen. Stattdessen entstehen Lernräume, in denen jedes Kind ein eigenes Zentrum bildet. Lernzeit, Themenwahl, soziale Dynamik sind nicht normiert, sondern emergent (aus der Interaktion heraus entstehend, nicht von aussen vorgegeben). Lernen verläuft als Expedition, nicht als Marsch.
Wissen als Ko-Kreation statt Stoffvermittlung An die Stelle des Curriculums tritt ein Wissensökosystem, das sich aus Projekten, Fragen, Phänomenen speist. Lehrpersonen werden zu Kurator:innen gemeinschaftlich getragener Erkenntnisprozesse. Es gibt keine Stofflisten, sondern Bewegungen des Denkens, dokumentiert in gemeinsam kuratierten Portfolios.
Beziehungen statt Klassen Lernende gehören nicht mehr fixen Gruppen an, sondern Netzwerken von Zugehörigkeit: Peer-Communities, Projektteams, temporäre Ateliers. Zugehörigkeit entsteht durch Resonanz, nicht durch Zuordnung. Wer etwas versteht, erklärt es anderen; wer etwas sucht, findet Anschluss.
Selektion wird ersetzt durch Einladung An die Stelle von Übergangsprüfungen treten Übergangsbeziehungen: Selbst gewählte Mentor:innen begleiten Kinder über längere Phasen hinweg. Schule lädt zu nächsten Schritten ein, sie wählt und schliesst niemanden aus. Wege verzweigen sich, statt sich zu verengen.
Zeit als individuelles Narrativ Jahrgänge lösen sich auf. Jeder Mensch folgt einem eigenen Rhythmus, der dokumentiert wird, nicht bewertet. Lernzeiten sind dehnbar, verdichtbar, pausierbar. Wachstum wird nicht gemessen, sondern erzählt.
Vergleich verliert seine Funktion Ohne Noten verliert Schule die Notwendigkeit, Leistungen gegeneinander zu stellen. Feedback wird zur gemeinsamen Reflexion, nicht zur Zuteilung von Wert. Beurteilung verwandelt sich in Beziehung: „Wie bist du gewachsen? Was hast du verstanden? Was brauchst du als Nächstes?“
Bewertung als gemeinsames Bewusstsein Bewertung heisst, gemeinsam zu verstehen, was gelungen ist. Kinder, Lehrpersonen, Eltern, Peers reflektieren gemeinsam Fortschritt und Verantwortung. Kein Ranking, sondern Resonanz. Kein Ergebnis, sondern Prozess.
Verantwortung neu gedacht Gerechtigkeit wächst, wenn Verantwortung geteilt wird: für den Raum, für das Lernen, für die Gemeinschaft. Lehrpersonen sind nicht mehr Gatekeeper, sondern Gastgeber. Schule wird zum Gemeingut, nicht zur Institution, die sortiert.
Das ist kein Katalog von Reformen. Es ist eine Richtungsänderung: weg von Schule als Maschine der Gleichmacherei, hin zu Bildung als lebendigem, gemeinschaftlichem Werden.
Fazit
In der Schweiz ist vielen Akteur:innen längst klar, dass Schule Teil des Problems ist. Entscheidend ist nun, was wir daraus folgern und strukturell verändern. Dabei ist die Notenfrage bereits entschieden: Noten können endgültig verschwinden. Im Zentrum steht jetzt die Veränderung der Strukturen, also von Lernräumen, Zeit und Übergängen. Es geht jetzt um einen grundlegenden Perspektivwechsel: Weg von der Idee, dass Gerechtigkeit durch Gleichheit entsteht, hin zu einer Schule, die Vielfalt als Prinzip versteht und gestaltet.
Gerechtigkeit in der Bildung beruht auf drei ineinandergreifenden Ansätzen.
Erstens: Strukturelle Gerechtigkeit entsteht, wenn Lernräume, Zeit und Übergänge so gestaltet sind, dass Unterschiede nicht ausgeglichen, sondern anerkannt werden.
Zweitens: Politische Gerechtigkeit verlangt den Mut, Selektion als zentrales Steuerungsprinzip abzulösen und sie durch Offenheit, Einladung und Durchlässigkeit zu ersetzen.
Drittens: Evidenzbasierte Gerechtigkeit braucht Transparenz, Schulen müssen ihre eigenen Ungleichheitseffekte erfassen, sichtbar machen und gezielt abbauen. In Begriffen der Systemlogik lässt sich das so fassen: Ohne Unterschied keine Messung, ohne Messung keine Steuerung, ohne Steuerung keine Institution. Genau diese Kette gilt es zu durchbrechen, wenn Schule gerecht werden soll.
So verstanden ist Gerechtigkeit keine pädagogische Methode, sondern eine Haltung, die in Struktur, Politik und Praxis verankert werden muss. Eine Schule, die sich auf diesen Weg macht, hört auf zu vergleichen und beginnt, Unterschiede produktiv werden zu lassen, als Grundlage für gemeinsame Entwicklung.
Anlass dieses Blog Posts ist die Kantonaltagung der Lehrpersonen des Kantons Schaffhausen zum Thema „Künstliche Intelligenz: Auswirkungen auf Schule und Gesellschaft“ vom 26.09.2025. Der Vormittag bestand aus zwei Referaten und einer Podiumsdiskussion, der Nachmittag aus Workshops, darunter ein Colearning-Workshop mit Gästen aus Bern und dem Kulturlabor Schaffhausen.
Über beide Veranstaltungsteile hinweg zeigte sich eine interessante Verschiebung des Fokus: Fragen zu Social Media, Bildschirmzeit und Gerätemanagement überlagerten den eigentlichen KI-Diskurs. Die spezifischen Eigenlogiken generativer Systeme wurden deutlich seltener aufgegriffen. Im Kontrast zu Positionen aus Forschung und Technologie, die grosse, sektorübergreifende Veränderungen erwarten, richtete sich die Debatte vor allem auf unmittelbare Unterrichts- und Ordnungsfragen. Auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit Rollen und Prozessen blieb weitgehend aus.
Worum es bei KI in der Bildung geht
Künstliche Intelligenz verändert die Produktion, Zirkulation und Prüfung von Wissen. Das betrifft nicht nur die Frage, wie Unterricht gestaltet wird, sondern die Architektur von Schule insgesamt. Wenn generative und zunehmend agentische Systeme Aufgaben analysieren, Vorschläge erarbeiten, Entwürfe schreiben, Daten auswerten und Prozessschritte automatisieren, dann verschieben sich Zuständigkeiten, Qualitätsmassstäbe und Nachweise. Wer den Diskurs auf Gerätefragen reduziert, lässt die eigentliche Zäsur unadressiert. Nötig ist ein Blick, der Unterricht, Leistungsbewertung, Führung, Datenräume, Ethik und Schulentwicklung als zusammenhängendes System versteht.
Mich interessiert dabei die Frage: Wo werden solche Desiderate beforscht und reflektiert im Schweizer Bildungssystem? Deswegen habe ich ChatGPT mit einer Recherche beauftragt.
Was untersucht wurde und wie
Befragt wurden die öffentlich zugänglichen Angebote und Veröffentlichungen der PH Zürich, der PH Bern, von BeLEARN, educa und LCH, und zwar daraufhin, ob sie eine systemreife Antwort auf KI in der Bildung liefern. Konkret:
Systemischer Horizont: Wird KI als gesellschaftliche und ökonomische Zäsur verstanden und daraus eine Schularchitektur mit Rollen, Prozessen und Verantwortungen abgeleitet.
Governance: Vorliegende Regeln zu Datenschutz, Datennutzung, Transparenz, Altersstufen, Tool-Zulassung und Beschaffung sowie klare Zuständigkeiten.
Führung und Organisation: Modelle für multiprofessionelle Teamarbeit, Entscheidverfahren, Ressourcensteuerung, Change-Design und überprüfbare Messpunkte.
Kompetenzprogression: Zyklenraster für KI-Literacy mit Lernzielen, Aufgabenbeispielen und Anschluss an den Lehrplan.
Leistungsbewertung: Regeln und Beispiele für transparente KI-Nutzung in Leistungsnachweisen, Portfolio- und Prozessformate, Prüfungsarchitektur mit Rollen und Eskalationswegen.
Inklusion und Gerechtigkeit: Praktiken zur Barrierefreiheit, Bias-Prüfung, Unterstützung und Monitoring.
Fortbildungstiefe: Mehrstufige Pfade für Lehrpersonen und Führung, obligatorische Module, Transferaufgaben im Schulalltag, Evaluation des Lerntransfers.
Evidenz und Transfer: Bezüge zu Forschung und internationalen Leitlinien sowie Mechanismen, um Pilotwissen in die Routine zu überführen.
Trennschärfe: Klare Abgrenzung von KI zu allgemeinen Digitalthemen wie Geräteverwaltung oder Social Media.
Pilot zu Policy: Definierte Kriterien, Zeitachsen, Ressourcen und Zuständigkeiten, wie erfolgreiche Piloten in verbindliche Regelungen übergehen.
Wie wurde vorgegangen? Grundlage waren ausschliesslich öffentlich zugängliche Dossiers, Leitfäden, Kurs- und Projektseiten der genannten Institutionen sowie übergeordnete Referenzrahmen wie UNESCO und OECD. Bewertet wurde mit einer transparenten Rubrik zur Systemreife auf einer Skala von 0 bis 3. Eine 2 wurde nur vergeben, wenn substanziell ausformulierte und übertragbare Lösungen mit klarer Handlungsanleitung vorlagen. Eine 3 setzte eine kohärente, verbindliche Transformationsarchitektur voraus mit Rollen, Prozessen, Indikatoren und Zeitachsen. Einzelkurse, Toollisten oder Absichtserklärungen reichten nicht aus.
Bewertungsmatrix
3 = kohärent und verbindlich, 2 = substanziell und übertragbar, 1 = Ansatz, 0 = nicht erkennbar –“Pilot to Policy“ (Punkt 10) bedeutet: Überführung erfolgreich erprobter Praxis (Pilot) innerhalb eines definierten Zeitfensters in verbindliche Regelungen/Standards (Policy) mit klaren Zuständigkeiten, Ressourcen und Indikatoren; sichert Skalierung und Planungssicherheit.
Beteiligung an einem EU-Leitfaden zum verantwortungsvollen Umgang mit KI und Daten in der schulischen Bildung (Projektseite PHZH mit Verweis auf die Expertengruppe der EU-Kommission). PH Zürich
PH Bern: didaktische Leitplanken und Unterrichtsmaterial
IdeenSets als kuratierte, lehrplankompatible Unterrichtspakete, die auch digitale Medien und KI-Bezüge integrieren können; zentrale Einstiegs- und Suchseiten.
Blog- und Dossier-Beiträge, z. B. zur KI-Orientierung (Sek I, Kanton Bern) als niederschwellige Lehrpersonen-Guides. ttim.phbern.ch
Educa: Datenräume, Datenschutz, Governance
Zentrale Einstiegsseite zur Frage „Wie gestalten wir den digitalen Bildungsraum?“ als Überblick über Governance-Themen. educa.ch
Beiträge und Berichte zur Datennutzungspolitik im Bildungsraum Schweiz mit konkreten Handlungslinien für Trägerschaften. educa.ch
BeLEARN: Forschung, Entwicklung, Vernetzung
Projektgalerie mit laufenden und abgeschlossenen KI-Projekten (Übersicht). belearn.swiss
Beispielprojekte: Mapping of Teachers’ AI-related Competences (Berufsbildung), AI-gestützte Dialogtutoren in der Hochschullehre, ArgueMate (Debattier-Agent), Generative Modelle für Kreativität.
LCH: normative Orientierung und öffentliche Stimme
Positionspapier KI in der Schule: Chancen, Risiken und Forderungen für einen lernwirksamen, sicheren, ethischen Umgang; Kurz- und Vollversion. lch.ch
Themenseite/News zur Einordnung des Positionspapiers und zur politischen Kommunikation Richtung Öffentlichkeit. lch.ch
Diese Initiativen und Dokumente liefern wertvolle Bausteine. PH Zürich und PH Bern sind stark bei didaktischen Leitplanken, Aufgabenformaten und Weiterbildung. Educa adressiert systemische Fragen von Datenräumen und Datenschutz. BeLEARN verbindet Forschung und Entwicklung und vernetzt die Hochschullandschaft. LCH liefert normative Orientierung und eine öffentliche Stimme.
Dennoch wird eine allen gemeinsame Lücke sichtbar:
Es existiert derzeit keine kohärente, verbindliche Transformationsarchitektur, die Unterricht, Beurteilung, Führung, Datenräume und Kommunikation als Gesamtpaket operationalisiert. Die Folge ist ein didaktischer und defensiver Diskurs, während die eigentliche Zäsur der Wissens- und Arbeitswelt nur am Rand vorkommt.
Massnahmen für Kantone, Gemeinden und Schulen
Zielarchitektur beschliessen Zweck: Ein gemeinsames Zielbild, das Unterricht, Bewertung, Führung, Daten und Ethik verbindet. Warum: Ohne verbindliche Architektur bleiben Initiativen punktuell und versanden. Erste Schritte: Steering-Group einsetzen, Verantwortungen festlegen, Prozess- und Datenlandkarte zeichnen, Jahresfahrplan mit Meilensteinen verabschieden. Indikatoren: Beschlussdokument veröffentlicht, Rollen und Prozesse dokumentiert, jährlicher Reviewtermin fixiert. Fallstricke: Sammelsurium einzelner Projekte ohne Durchgriff, unklare Zuständigkeiten.
Kompetenzprogression je Zyklus Zweck: Klar definierte KI-Kompetenzen pro Schulzyklus mit passenden Aufgabenformaten. Warum: Lernziele geben Orientierung und verhindern Grauzonen in der Nutzung. Erste Schritte: Zyklenraster entwerfen, Beispielaufgaben und Reflexionsformate bereitstellen, Lehrplanbezüge ausweisen. Indikatoren: Raster online, mind. zwei Aufgabenbeispiele pro Zyklus, Schulversuch in drei Schulen. Fallstricke: Nur Toolkunde statt Kompetenzaufbau, fehlende Anschlussfähigkeit an den Lehrplan.
Pilot zu Policy Zweck: Erfolgreiche Piloten innert 12 bis 18 Monaten in verbindliche Praxis überführen. Warum: Wirkung entsteht erst, wenn Gutes skaliert wird. Erste Schritte: Drei bis fünf Leuchttürme mit klaren Kriterien, Datenschema, Budgetrahmen und Zuständigkeiten starten. Entscheidfenster für den Rollout terminieren. Indikatoren: Evaluationsbericht pro Pilot, Rolloutbeschluss mit Termin, Ressourcen und Supportpaket. Fallstricke: Piloten ohne Ausstiegs- oder Überführungslogik, fehlende Datenbasis.
Führungscurriculum Zweck: Verbindliche Qualifizierung von Schulleitungen und Behörden für Führung im KI-Kontext. Warum: Kultur, Prozesse und Qualität werden über Führung gesteuert. Erste Schritte: Pflichtmodule zu Governance, Organisationsdesign, Portfolio-Assessment, Team- und Datenarbeit sowie Ethik definieren. Coaching und kollegiale Fallberatung einplanen. Indikatoren: Teilnahmequote der Leitungen, Umsetzungsprojekte an Schulen, messbare Entlastung durch klare Prozesse. Fallstricke: Einmalige Schulung ohne Praxisaufgaben, fehlende Verbindlichkeit.
Kommunikationsrahmen Zweck: Verständliche, trennscharfe Kommunikation zu KI jenseits von Smartphone-Debatten. Warum: Orientierung reduziert Widerstände und vermeidet Scheindiskussionen. Erste Schritte: Kernbotschaften formulieren, FAQ und Leitfäden für Eltern und Öffentlichkeit bereitstellen, Musterbriefe und Präsentationssets erstellen. Indikatoren: veröffentlichte Materialien, Medienresonanz, Rückgang von Anfragen zu Missverständnissen. Fallstricke: Alarmismus oder Beschwichtigung, fehlende Bezüge zur Praxis der Schule.
Inklusion by Design Zweck: KI so einsetzen, dass Teilhabe steigt und Risiken kontrolliert werden. Warum: KI kann Barrieren senken, birgt aber Bias- und Datenschutzrisiken. Erste Schritte: Toolauswahl mit Barrierefreiheits- und Bias-Check, definierte Unterstützungsangebote, Datenschutzprüfung und Einwilligungsprozesse. Indikatoren: dokumentierte Prüfprotokolle, Zahl der Lernenden mit wirksamem Support, Beschwerde- und Meldewege. Fallstricke: ungeregelte Einzelfalllösungen, unklare Datenverarbeitung, fehlende Evaluation.
Technik und Energie vorausschauend planen Zweck: Tragfähige Infrastruktur für Unterricht, Prüfung, Datenräume und Sicherheit. Warum: KI-Nutzung benötigt Netz, Rechenleistung, Speicher, Identitäts- und Zugriffsmanagement. Erste Schritte: Infrastruktur-Sollbild definieren, Kosten- und Energiebilanz erstellen, Beschaffungsrichtlinien und Sicherheitsstandards festlegen, Supportstruktur planen. Indikatoren: Roadmap mit Budget und Zeitplan, Verfügbarkeit und Performance messbar, Sicherheits- und Datenschutz-Audits bestanden. Fallstricke: Insellösungen ohne Skalierung, unterschätzte Folgekosten, fehlender Support.
Was ist zu erwarten, wenn das System abwartet?
Die Kompetenzlücke wächst, weil Lernende KI-Fähigkeiten ausserhalb der Schule erwerben und ungleich verteilt einsetzen.
Leistungsnachweise verlieren an Aussagekraft, weil intransparente KI-Nutzung weder adressiert noch produktiv gerahmt wird.
Der Anschluss an die Arbeitswelt schwächt sich, da sich Kompetenzanforderungen verschieben.
Schliesslich steigen strategische Abhängigkeiten von Plattformen, wenn Governance zu spät kommt. Die unterlassenen Investitionen in Führung, Prüfung und Datenverantwortung werden später als höhere Anpassungskosten sichtbar.
Colearning als Brücke: konkret und unterscheidbar
Einer der zahlreichen Workshops auf der Kantonaltagung hat sich zum Ziel gesetzt, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern einen Einblick zu geben in ein Konzept, dass sich als „Alternative für Schule“ versteht: Colearning.
Dabei war es nicht die Absicht, zwei Systeme, einander gegenüber zu stellen, sondern im besten Fall eine Begegnung zwischen Menschen zu ermöglichen, die in unterschiedlichen Systemen arbeiten und womöglich den einen oder anderen inspirierenden Gedanken für die schulische Praxis zu formulieren.
Für eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Konzept Colearning können die folgenden Impulse wertvoll sein:
Sibille Tschanz, Lehrperson, Schulleiterin und Mutter, stellt die Idee und das Konzept von Colearning vor
Lern- und Arbeitswelt verschmelzen. Colearning siedelt Lernen bewusst in einem realen Coworking-Ökosystem an. Jugendliche und Erwachsene arbeiten und lernen im selben „Space“; Kontakte zu Berufsrollen entstehen beiläufig, Projekte wachsen aus echten Aufträgen. Das zielt auf Kompetenzen, die in einer dynamischen Arbeitswelt zählen: Situationsverständnis, Kooperation, Selbststeuerung.
Soziokratische Organisation statt Klassenlogik. Entscheidungen werden nach Prinzipien der Soziokratie getroffen (Konsent, Kreise, doppelte Verknüpfung, soziokratische Wahl). Das bindet alle Beteiligten gleichwertig ein, stärkt Verantwortung und psychologische Sicherheit, also die relevanten Kulturmerkmale für gemeinsames Arbeiten mit KI-Systemen.
Klare Rollen, echtes Onboarding. Einstieg über ein mentoriell begleitetes Onboarding mit Probephase (bei Jugendlichen), danach Anpassung des individuellen Programms. Zuständigkeiten und Kommunikationswege sind transparent geregelt.
Mentoring als Taktgeber. Wöchentlich, 30 Minuten, schlank und beziehungsorientiert; Fokus auf Erfolgserlebnisse Herausforderungen, Inspiration (Netzwerk öffnen), Sichtbarmachen und Weitergeben des Gelernten. Mentoring ist unvergüteter, kulturstiftender Kern, kein Zusatzmodul.
Sichtbarmachen des Lernens statt reine Leistungsnachweise. Lernwege werden kontinuierlich dokumentiert, zum Beispiel im Lernblog oder Portfolio als Grundlage für Mentoring und Feedback. Das schafft Transparenz über Prozesse, Entscheidungen und KI-Einsatz und macht Reflexion zur Routine.
Schatzhebungstreffen als öffentlicher Resonanzraum. In regelmässigen Formaten (Präsentation, Barcamp, Open Space) zeigen Colearner:innen Ergebnisse, holen Feedback ein, entscheiden Anliegen im Konsent und prüfen die Balance von Geben und Empfangen. Das verankert Rechenschaft und Community-Lernen.
Lernmarkt statt Fächerverwaltung. Angebote entstehen aus Bedarf: fachliche Begleitung, Maker-Space, Service Learning, Working-out-Loud-Zyklen, Lernunternehmen (zum Beispiel Pilzfarm, YOLU, Colearning Akademie), Übergangsbegleitung, Bezüge zur Berufsbildung. Der Lernmarkt ist anschlussfähig an Schule, aber nicht von Fächerrastern begrenzt.
Digitale Eigenständigkeit. Jede Person nutzt eine eigene Domain oder Identität (zum Beispiel vornamenachname.ch) für das öffentliche Sichtbarmachen; intern wird kollaborativ mit modernen Tools gearbeitet. So wird professionelle digitale Autorenschaft früh geübt, entscheidend im Umgang mit generativer KI.
Gemeinwohl-Finanzierung mit Transparenz. Beiträge fliessen in persönliche Kasse, Spende und Fonds; besondere Aufwände oder Startfinanzierungen werden in der Schatzhebung im Konsent entschieden. Das trainiert ökonomische Urteilskraft und kollektive Verantwortung.
Warum das im KI-Kontext trägt.
Agentische Zusammenarbeit üben: Soziokratie, Mentoring und Portfolio fördern die Fähigkeit, Aufgaben zu zerlegen, Verantwortung zu teilen und mit KI-Systemen nachvollziehbar zu arbeiten.
Transparente Bewertung ermöglichen: Laufende Lernwegedokumentation macht Inputs und Outputs sichtbar und erlaubt regelhafte Offenlegung von KI-Nutzung, eine Antwort auf Grauzonen klassischer Prüfungen.
Brücken zur Arbeitswelt bauen: Coworking-Einbettung und Lernmarkt schaffen reale Problemstellungen und Netzwerke, in denen KI-Werkzeuge sinnvoll eingebettet werden.
Kurz: Colearning ist kein „Projektformat“, sondern eine Architektur: Rollen, Rhythmen, Räume, Regeln. Sie organisiert Lernen als gesellschaftliche Praxis. Genau diese Architektur fehlt Schulen oft, wenn KI nur als Tool verhandelt wird. Colearning zeigt, wie man Kultur, Organisation und Nachweise so verknüpft, dass Menschen mit KI kompetent, verantwortungsvoll und sichtbar lernen können.
Schlussgedanke
Wir stehen nicht am Ende einer Debatte, sondern am Anfang einer guten Gestaltung. KI zwingt uns nicht zu schnellen Tricks, sie lädt uns zu klaren Entscheidungen ein. Wenn wir Schule als lernfähige Organisation begreifen und Lernräume so bauen, dass Verantwortung, Transparenz und Zusammenarbeit selbstverständlich werden, wächst Qualität fast von selbst. Colearning ist dabei kein Gegenmodell zur Schule, sondern eine Einladung, Kultur, Organisation und Nachweise neu zusammenzudenken.
Der Weg ist machbar: ein gemeinsames Zielbild, wenige klare Regeln, kleine Piloträume mit echtem Lernen, danach verlässlich in den Alltag überführen. Was heute als Ausnahme beginnt, kann morgen Standard sein. So entsteht eine Schule, die junge Menschen auf eine Welt vorbereitet, in der Menschen und Maschinen gemeinsam Probleme lösen. Nicht perfekt, aber Schritt für Schritt besser. Das reicht, um jetzt zu beginnen.
Was mir nicht nur in der Schule, aber insbesondere dort auffällt, ist dies: wir beobachten, beurteilen und diagnostizieren praktisch ausschliesslich Menschen, wenn etwas nicht rund läuft, eskaliert, entgleist.
Wir beobachten ihr Verhalten und fragen uns, wie wir Menschen dabei unterstützen können, ihr Verhalten zu verändern, sich in ein System, in ein Umfeld, in eine Klasse, in ein Team zu integrieren, sich anzupassen, besser mit der Situation klar zu kommen. Auch bezogen auf uns selbst sind wir darauf programmiert, uns zu fragen: Was kann ich noch tun? Was stimmt mit mir nicht? Das sind die Fragen, die sich bereits das Kind stellt, wenn in seiner Umwelt etwas nicht stimmt, wenn Beziehungen aus dem Lot geraten. Fragen an denen das Kind nicht selten verzweifelt oder scheitert.
Die psychologische Forschung hat uns schon vor langer Zeit gezeigt, dass Menschen vor allem in ihrem frühen Leben dazu neigen, sich selbst zum Problem zu machen oder sich als die Ursache dafür anzunehmen, wenn ihre Umgebung auseinander zu fallen droht.
Die Blickrichtung mag sich im Verlauf des Lebens ändern, der Fokus hingegen bleibt derselbe. Auch Menschen, die die Schuld bei anderen suchen, suchen sie bei anderen Menschen – nah und fern.
Dieses Schuldprinzip hat die menschliche Evolution überlebt. Nicht nur in der Juristerei.
Was ich so gut wie nie erlebe: dass die Situation in den Blick kommt, in der bestimmte Menschen ein bestimmtes Verhalten zeigen: Reaktionen, Muster, Emotionen. Wir sprechen von Neurodiversität, von Hypersensibilität, von ADHS, und zielen damit immer auf Menschen, nie auf Situationen, in denen sich etwas zeigt und anderes nicht.
Wir ziehen nicht in Betracht, dass Menschen niemals „sind“, sondern sich immer verhalten. Wir fragen uns, wie das sein kann, dass immer mehr Menschen auffälliges Verhalten zu zeigen scheinen, doch Verhalten gibt es nie unabhängig von Situationen.
Selbstverständlich sind wir heute aufmerksamer geworden. Hellhöriger. Wir sehen und erkennen heute mehr und früher, was schief läuft, wo Missbrauch im Spiel ist und Mobbing, und zielen damit immer auf den einzelnen Menschen, nicht auf sein oder ihr System.
Ausser um es zu stabilisieren.
Was wir entweder nie im Blick hatten oder komplett aus dem Blick verloren haben, ist die Situation selbst und ihr Einfluss auf den Menschen. Den bedingenden Einfluss, den unterstützenden Einfluss, den überfordernden Einfluss, den blockierenden Einfluss – und damit eben auch den ermöglichenden, den befreienden, den ermächtigenden Einfluss.
Wir haben ein ganzes Arsenal an Instrumenten entwickelt, um Menschen zu helfen, in und mit bestimmten Situationen besser klarzukommen. Das moderne Coaching ist ja nichts anderes. Nur das eine Instrument nutzen wir so gut wie nie: an der Situation zu arbeiten. Gemeinsam.
Da müssen wir jedoch heute ansetzen. Davon bin ich überzeugt. Wir sind ja keine Stämme mehr, die im Angesicht einer übermächtigen Natur oder eines Fressfeindes zu überleben hätten, und wo deshalb von Anpassung an Umgebungen das Überleben abängt. Dieses Prinzip, das im Post-Kapitalismus als Relikt überlebt hat, gehört in eine andere Epoche der Menschheitsgeschichte.
Wir sind längst im Zeitalter der Kollaboration angekommen. Frederic Laloux hat dazu schon vor Jahren sein Pionierwerk geschrieben, Otto Scharmer forscht daran ebenfalls seit Jahrzehnten, Rutger Bregman hat in seinen historischen Arbeiten den Mensch als kooperatives Wesen entlarvt.
Unsere Situation ist längst die der planetaren, materiellen Überfülle, und wir wissen nichts anderes mit ihr anzufangen als sie zu verschwenden. Systemisch, systematisch. Wir finden uns slso längst nicht mehr in Situationen wieder, wo Menschen sich Systemen unterordnen müssten, damit diese Systeme überleben. Wir können heute Umgebungen gestalten um sie menschlich zu machen, einfach weil wir die Möglichkeiten dazu haben.
Das ist dann mehr als nur zu überleben.
Ich würde so gerne die Perspektive beliebt machen, dass wir uns in Erziehung und Bildung immer weniger die Frage stellen, was junge Menschen brauchen, um sich anpassen und einordnen zu können, sondern dass wir konsequent fragen, wie wir die konkrete Lebenswelt und Arbeits- und Lernwelt so gestalten, damit sie für das Kind gut ist.
Hier brauchen wir einen radikalen Perspektivwechsel. Wir brauchen Systeme, Umgebungen, Gelegenheiten, die dem Kind erst die Entwicklungsmöglichkeiten geben, die es ihm erlauben, sich in seiner Welt sicher zu bewegen, diese Welt zu seiner Welt zu machen und zu ihrer – und aller dazwischen und ausserhalb.
Ein Essay über Strukturen, Abhängigkeiten und eine andere Logik von Bildung
Auf LinkedIn wurde ich mit dem Vorwurf konfrontiert, ich würde undifferenziert kommunizieren in meiner Kritik der Volksschule Schweiz. Der Vorwurf lautet konkret, dass ich privat geführte Initiativen und Volksschule immer in einem Schwarz-Weiss-Denken gegeneinander ausspiele: Hier die ‚Gralshüter‘, da die Volldeppen, so die Kritik.
Das löst natürlich etwas bei mir aus, zum Beispiel die Frage, wie hoch der Differenzierungsgrad meiner Kritik tatsächlich ist. Darüber kann sich jede und jeder ein eigenes Bild machen durch die Lektüre meiner Beiträge hier im Blog. Mein Eindruck ist, dass ich über die letzten Jahre und verdichtet in den letzten Monaten hochwertige, differenzierte Beiträge publiziere, in denen ich aufzeige, in welche Richtung sich Volksschule möglichst rasch weiter entwickeln muss.
In meinen Beiträgen auf LinkedIn greife ich vor allem tagesaktuelle Themen aus dem Schulkontext auf, kontextualisiere sie und mache auch hier fundierte Vorschläge, wie die Volksschule der Schweiz darauf reagieren kann, wenn sie sich zu einer zeitgemässen Volksschule entwickeln möchte. Privat geführte Initiativen weisen hier ganz klar den Weg.
Der Vorwurf des Undifferenzierten hat in mir gewirkt. Wie so oft ist daraus ein Text entstanden. Die Arbeit mit Texten (im Dialog mit ChatGPT) hilft mir bei der Klärung, was mir wirklich wichtig ist, worum es mir geht und worum nicht. In letzter Zeit ist mir immer wichtiger geworden, die Berufe der Schule aus der Schusslinie zu nehmen, in der sie schon lange stehen, wenn es um die Qualität von Schule geht. Für mich ist ganz entscheidend, dass wir erkennen: wir haben systemische Probleme, wir haben strukturelle Probleme, wir haben keine Probleme mit Lehrpersonen, deswegen lösen wir diese Probleme auch nicht, indem wir Lehrpersonen oder andere Berufe der Schule adressieren. Wir müssen Strukturen adressieren. Von dieser Überzeugung ist auch dieser Blog Post getragen, wie auch meine gesamte praktische Arbeit.
Und los.
Der folgende Text bewertet nicht. Er beschreibt, was ist. Er zeigt, wie Schule heute organisiert ist. Er zeigt, wie diese Organisation das Verhalten von Kindern prägt. Er zeigt, warum Rückmeldungen aus diesem System strukturell verzerrt sind. Er zeigt, was Lernen jenseits dieser Ordnung ist. Er zeigt, dass es bereits jenseits der Strukturen der Volksschule in der Schweiz eine Praxis gibt, die diese andere Logik lebt.
Was Schule ist
Volksschule gibt Kindern und Jugendlichen die Strukturen, die Prozesse, die Inhalte und die Ziele vor. Schulisches Handeln ist darauf ausgelegt, den Schulalltag entlang dieser Kette zu organisieren, zu administrieren, zu kontrollieren und zu bewerten. Die Inhalte sind in Curricula festgehalten. Sie definieren, was in welchem Alter und in welcher Stufe gelernt werden soll. Der zeitliche Ablauf ist getaktet. Lektionen strukturieren den Tag. Prüfungen (in welcher Form auch immer) strukturieren die Etappen. Der Stoff ist gesetzt, der Rahmen ist gesetzt, der Takt ist gesetzt.
Ja, es gibt Volksschulen, in denen Kinder innerhalb eines vorgegebenen Rahmens mehr Freiheiten haben, etwa bei der Reihenfolge von Aufgaben oder beim Zeiteinsatz für ein bestimmtes Projekt. Aber diese Spielräume sind nicht identisch mit Selbstbestimmung über den Tag. Der Zeitrahmen ist gesetzt: Schule beginnt und endet zu bestimmten Zeiten. Die Inhalte sind gesetzt: Die Aufgaben stammen aus dem Curriculum, nicht aus den Kindern selbst. Die Ziele sind gesetzt: Es geht immer darum, vorgegebene Stoff zu bewältigen, in welcher Form auch immer sich dieser Stoff präsentiert. Die Verbindlichkeit ist gesetzt: Am Ende muss jedes Kind zeigen, dass es die Vorgaben erfüllt hat.
Wenn Kinder also „den Takt selbst setzen“, tun sie das nur innerhalb einer engen institutionellen Schablone. Sie entscheiden nicht, ob sie heute Mathe machen oder lieber draussen forschen. Sie entscheiden nicht, mit wem sie zusammenarbeiten, und sie entscheiden nicht, warum eine bestimmte Aufgabe relevant sein soll.
Ja, in manchen (eher wenigen, eher sehr wenigen) Schulen „dürfen“ Kinder verschieben, was sie wann tun. Aber sie dürfen es nicht weglassen. Mathe muss gemacht werden, irgendwann, nach vorgegebenen Kriterien. Damit bleibt es Zwang, nur zeitlich variabel.
Ja, in manchen Schulen und Fällen „dürfen“ Kinder sich Partner:innen aussuchen. Aber die Gruppe, aus der sie wählen, ist vorgegeben. Sie entscheiden nicht, mit welchen Menschen, ausserhalb der zugeteilten Kohorte sie arbeiten wollen. Es ist Wahlfreiheit innerhalb eines geschlossenen Systems, nicht zwischen offenen Möglichkeiten.
Kinder entscheiden bezüglich ihrer Lernprozesse nicht, ob ein bestimmter Inhalt für sie bedeutsam ist. Sie spüren und wissen: bedeutsam ist ein Inhalt, eine Aufgabe, ein Ziel, weil Schule das vorgibt. Sie müssen Mathe machen, ob es ihnen sinnvoll erscheint oder nicht. Das „Warum“ ist institutionell gesetzt: weil es im Curriculum steht, weil es geprüft wird, weil es dem System als unverzichtbar gilt.
Echte Selbstbestimmung würde heissen: Kinder gestalten ihre Lernzeit aus ihren eigenen Fragen, Interessen und Projekten heraus.
Ja, Individualisierung ist möglich, jedoch nur als Anpassung an die Vorgabe. Schulen erlauben verschiedene Wege zum selben Ziel. Sie erlauben unterschiedliche Tempi. Sie erlauben Varianten der Bearbeitung. Die Logik bleibt gleich. Kinder sollen vorgegebenen Stoff verarbeiten und vorgegebene Ziele erreichen.
Innovationen innerhalb des Systems „Volksschule Schweiz“ verändern deshalb nicht die Logik. Die Vorgabe wird nicht verändert sondern die Dosierung und Portionierung. Es gibt grössere und kleinere Einheiten. Es gibt mehr Wahlfreiheit bei Methoden. Es gibt offenere Settings. Die Grundordnung bleibt. Was gelernt wird, steht fest. Die Bewegungsfreiheit liegt darin, wie das Vorgegebene bewältigt wird.
Was in der Volksschule der Schweiz gilt
Die Logik der scheinbaren Kinderzentrierung
Die Volksschule spricht vermehrt eine Sprache der „Orientierung am Kind“. Es gibt Förderpläne, Diagnoseinstrumente, individuelle Lernziele, Lerntagebücher, Lernateliers, Schulinseln. Alles klingt nach Orientierung am Kind. Der Bezugspunkt bleibt trotzdem der Stoff und das vorgegebene Lernziel. Kinder dürfen (allenfalls) herausfinden, wie sie besser lernen. Kinder dürfen (allenfalls) Hilfen wählen. Kinder dürfen (allenfalls) Methoden bevorzugen. Die Fragen nach Inhalt, Ziel und Zeitpunkt sind jedoch gesetzt.
Das ist der zentrale Mechanismus. Er erzeugt den Eindruck von Freiheit und behält die Kontrolle über Zweck und Richtung. Das Kind organisiert (allenfalls) Wege. Die Institution definiert Wozu und Wohin. Die Individualisierung dient nicht der Öffnung, sondern der Optimierung im System. Das ist keine moralische Feststellung. Es ist eine Beschreibung der Struktur.
Abhängigkeit als Grundbedingung
Kinder sind in der Schule nicht aus eigener Entscheidung. Sie entscheiden nicht, mit wem sie dort sind, wann sie dort sind, welche Regeln gelten und nach welchen Kriterien sie beurteilt werden. Sie sind in einem Abhängigkeitsverhältnis. Dieses Verhältnis ist nicht punktuell, sondern umfassend. Es betrifft Zugang zu Anerkennung, zu Noten, zu Fördermassnahmen, zu Übergängen.
In dieser Lage beziehen auch die Lehrpersonen einen grossen Teil der Bestätigung über die Qualität ihrer Arbeit aus der Klasse. Das ist Teil des Spiels, es ist systemisch bedingt. Lehrpersonen beobachten Reaktionen, Stimmungen, Kooperationsbereitschaft, Ruhe und Aufmerksamkeit. Sie deuten diese Phänomene als Rückmeldung auf eigenes Handeln und Intervenieren. Diese Rückmeldungen kommen von Menschen, die von ihnen abhängig sind. Das ist eine strukturelle Asymmetrie. Sie prägt beide Seiten. Sie prägt, wie Lehrpersonen sich selbst und ihre Wirkung sehen. Sie prägt, wie Kinder sprechen, schweigen und handeln.
Aus dieser Asymmetrie folgt ein weiterer Punkt. Kinder können im System Volkssschule keine freien Rückmeldungen geben. Jede Rückmeldung ist durch die Abhängigkeit bestimmt. Kinder antizipieren Folgen. Sie schützen Beziehungen. Sie vermeiden Nachteile. Sie suchen Vorteile. Sie bewegen sich in einer Ordnung von Macht, Anerkennung und Sanktion. Das gilt für Lob und Kritik. Das gilt für Zustimmung und Widerspruch. Es ist kein Vorwurf an Kinder, keiner an Lehrpersonen. Es ist eine Folge der Struktur von Volksschule.
Verhalten als Spiegel der Struktur
Sprache, Körperhaltung, Gestik, Aufmerksamkeit, Unruhe, Rückzug, Widerstand und Kooperation sind in der Schule nie neutral. Sie sind Reaktionen auf einen Ort, der fremdbestimmt ist. Kinder wählen diesen Ort nicht. Sie wählen die Zeit nicht. Sie wählen die Gruppe nicht. Sie wählen die Regeln nicht. Ihr Verhalten entsteht in dieser Konstellation. Die schulische Praxis aber deutet ihr Verhalten individuell. Als Abweichung. Wenn ein Kind nicht klar kommt, wird das Problem im Kind lokalisiert.
Daraus folgen Massnahmen. Unterstützung, Förderung, Belohnung, Bestrafung, heilpädagogische Begleitung, Therapie, Separation. Diese Instrumente wirken auf das Kind. Die strukturelle Ursache bleibt unangetastet. So immunisiert sich das System fortlaufend.
Die Volksschule verwandelt Irritationen des Rahmens in Eigenschaften der Kinder.
Damit verliert die Volksschule die Chance, aus Verhalten etwas über sich selbst zu lernen. Das System erhält keine unverstellte Rückmeldung über seine eigenen Bedingungen. Es liest alles als Anpassungsfrage. Es interpretiert Abweichung als Defizit. Es stabilisiert sich – über Massnahmen am Kind.
Was Lernen ist
Lernen gehört nicht der Schule. Lernen geschieht immer. Es organisiert sich selbst. Kinder erkunden Welt. Sie beobachten, vergleichen, imitieren, kombinieren, entwerfen, verwerfen und beginnen neu. Dieser Prozess beginnt vor der Schule, er setzt sich ausserhalb der Schule fort und er endet nicht mit Schulschluss.
Da Lernen sich konsequent selbst organisiert, besteht die Aufgabe der Lernenden nicht in der Übernahme einer fremden Steuerung. Ihre Aufgabe besteht darin, die eigene Selbstorganisation bewusst zu gestalten. Dazu gehören Orientierung, Zielbildung, Auswahl von Ressourcen, Kooperation, Umgang mit Irritationen, Massstäbe der Qualität und die Fähigkeit, Gründe zu nennen.
Rechenschaft ist in dieser Sicht keine Pflicht, die von aussen gesetzt wird. Sie ist Teil der Praxis. Lernende entscheiden, wann sie etwas zeigen, wem sie es zeigen, in welchem Forum sie es zeigen und warum sie es zeigen. Ausstellung, Gespräch, Verteidigung, Dokumentation und Artefakt sind Formen dieser Praxis. Sie entstehen aus dem Bedürfnis, Arbeit zu teilen, zu prüfen und zu verbessern.
Was daraus für Schule folgt
Wenn Lernen sich selbst organisiert, liegt die Aufgabe nicht darin, dass Schule zusätzliche Bedingungen schafft. Kinder und Jugendliche brauchen keine von aussen hergestellte Resonanz, keine künstlich eingerichteten Beziehungen, keine institutionell definierten Qualitätsmassstäbe. Sie sind bereits in Resonanz mit Welt. Sie stehen in Beziehungen zu Menschen, Orten, Fragen und Öffentlichkeiten. Sie verhandeln Bedeutung, Anerkennung und Massstäbe alltäglich: in Familien, in Freundschaften, in digitalen Räumen, in Sport und Kultur, in Konflikten, in vielfältigen Gemeinschaften.
Doch die Volksschule geht davon aus, dass sie entweder qualifiziertes Lernen überhaupt erst hervorbringt, oder dass sie dem „informellen Lernen“ eine besondere, qualifizierte Form verleiht. Das ist ein grundlegendes Missverständnis. In Wirklichkeit lenkt sie das ohnehin selbstorganisierte Lernen der Kinder in institutionelle Bahnen, formt es nach eigenen Vorgaben um, nimmt es den Kindern aus der Hand und gibt es ihnen als schulisch organisiertes, gesteuertes und kontrolliertes wieder zurück.
Doch Schule ist keine unverzichtbare Instanz zur Ermöglichung von Lernen. Sie ist eine Einrichtung, die Lernen in institutionelle Bahnen zwingt, und die die ohnehin schon vorhandene Resonanz kanalisiert und umcodiert. Sie beansprucht Steuerung, wo Steuerung gar nicht nötig ist, weil Lernen immer schon geschieht. Das erklärt, warum schulische „Innovationen“ selten mehr als kosmetisch wirken: Sie verändern nicht die Logik der Vorgabe, sondern nur die Form ihrer Durchsetzung.
Praktiken, die Lernen nicht enteignen
Big Picture Learning zeigt eine Ordnung, die Interessen der Lernenden in den Mittelpunkt stellt. Jugendliche entwerfen persönliche Lernpläne. Sie arbeiten regelmässig ausserhalb der Schule in Betrieben, Organisationen und Ateliers. Rechenschaft legen sie in Ausstellungen ab. Sie wählen Formate und Adressaten mit. Quelle: https://education-reimagined.org/findings-from-the-big-picture-learning-longitudinal-study/
Agora zeigt, dass Schule ohne Fächer, Stundenplan und Curriculum funktioniert. Jugendliche bringen eigene Fragen ein. Sie arbeiten in Projekten. Sie erhalten Coaching und punktuelle Inputs. Rechenschaft erfolgt im Gespräch, im Portfolio, in der Präsentation. Quelle: https://hundred.org/en/innovations/agora
Die Sudbury Valley School zeigt radikale Selbstbestimmung. Es gibt kein Curriculum, keine Pflichtkurse, keine Noten. Ähnlich die Villa Monte im Kanton Schwyz. Entscheidungen fallen demokratisch in der Schulversammlung. Unterricht findet statt, wenn Lernende ihn wollen:
The Sudbury model is a unique approach to education based on children’s natural desire to learn. We believe that humans are designed to learn. The most important things to young people’s growth are time, space, and resources within a caring community.“ Quelle: https://www.tallgrasssudbury.org/sudbury-modelzenademocraticschool.org+8Wikipedia
Learnlifeversteht sich als globale „Community of learning“, die das Paradigma selbstorganisierten, lebenslangen Lernens stärkt. Im Zentrum steht die Idee, dass Menschen ihren eigenen Sinn (ikigai) als Motor für Lernen entwickeln. Ziel ist nicht, Lernumgebungen künstlich zu erzeugen, sondern vorhandene Selbstorganisation zu unterstützen und Vielfalt von Zugängen sichtbar zu machen.Quelle: https://www.learnlife.com/faq
Von Anpassung zu Selbstorganisation
Die von mir beschriebenen und kritisierten Effekte lassen sich aus der Struktur ableiten. Ich muss also zu keinem Zeitpunkt Lehrkräfte adressieren, denn es geht um eine Struktur, die auch Lehrkräfte bindet. Die Verhältnisse, in denen Lehrpersonen arbeiten, geben den Raum vor, in und zu dem sich Lehrkräfte verhalten können. Das war’s.
Für die Kinder wiederum gilt: Wenn Vorgabe, Takt und Bewertung dominieren, wird Kindheit zu einem Prozess der Annäherung an Normen. Verhalten wird zur Anpassungsfrage. Abweichung wird zum Defizit. Rückmeldungen werden zu Strategien. Lehrpersonen lesen aus Abhängigkeit Bestätigung. Kinder lernen, Erwartungen zu bedienen. Die Institution stabilisiert sich.
Wenn Selbstorganisation anerkannt wird, verschiebt sich die Aufmerksamkeit. Nicht mehr das Abarbeiten von Stoffplänen oder das Erreichen vorgegebener Ziele steht im Vordergrund, sondern das, was Kinder und Jugendliche tatsächlich tun: ihre Fragen verfolgen, etwas erforschen, etwas herstellen, etwas sichtbar machen. Dieses Tun – die eigene Lernarbeit – bildet den Mittelpunkt.
Zeit richtet sich nach der Sache, nicht nach dem Stundenplan. Öffentlichkeit entsteht nicht durch den Blick einer Lehrperson, sondern durch das Teilen der Arbeit mit anderen. Qualität wird gemeinsam verhandelt. Rückmeldungen entstehen nicht mehr aus Abhängigkeit, etwa aus dem Bedürfnis, es einer Lehrperson recht zu machen, Nachteile zu vermeiden oder Belohnung zu erhalten. Sie entstehen aus Gründen, die im Lernprozess selbst liegen:
aus der Suche nach Kriterien, die Qualität plausibel machen und an denen ich wachsen kann
aus dem Bedürfnis, meine Arbeit zu verbessern
aus dem Wunsch, meine Idee oder Lösung mit anderen abzugleichen
aus der Verantwortung gegenüber einer Gemeinschaft, die an gemeinsamen Fragen arbeitet
aus der Freude, etwas Öffentliches beizutragen, das Bestand hat
Anerkennung entsteht nicht mehr aus dem Gefälle zwischen Lehrperson und Kind, sondern aus dem, was eine Arbeit inhaltlich trägt. Sie ergibt sich aus der Güte der Arbeit selbst: ob eine Idee stimmig begründet ist, ob ein Produkt funktioniert, ob eine Darstellung überzeugt, ob ein Beitrag für andere nützlich ist. Diese Anerkennung wird nicht von oben verteilt, sondern entsteht im Feedback einer Gemeinschaft, die die Arbeit sieht, prüft, kommentiert, weiterführt. Sie zeigt sich in der Resonanz der Umwelten, in denen diese Arbeit wirkt. Mitschüler:innen, Eltern, Expert:innen ausserhalb der Schule, die Öffentlichkeit. All diese Stimmen sind kompetent, weil sie aus realer Nutzung, Verständlichkeit und Relevanz urteilen.
Das verändert Identitäten: Kinder erfahren sich nicht mehr als Objekte der Bewertung, sondern als Subjekte, deren Arbeit Wirkung entfaltet. Es verändert Rollen: Lehrpersonen treten nicht länger als Richterinnen auf, sondern als Mitwirkende in einem gemeinsamen Prozess. Und es verändert die Kultur: Lernen wird nicht als Wettbewerb um Noten verstanden, sondern als kollektives Ringen um Qualität, Sinn und Verbindlichkeit.
Was Politik und Öffentlichkeit wissen sollten
Lernen organisiert sich selbst. Es macht seine Arbeit öffentlich, es sucht Resonanz in alltäglichen Beziehungen, es bringt Massstäbe und Kriterien hervor. Kinder und Jugendliche klären Qualität in ihren eigenen Prozessen, sie verhandeln Anerkennung in Gemeinschaften, sie entwickeln Formen, Leistung sichtbar zu machen: in Gesprächen, in Artefakten, in gemeinsamen Auseinandersetzungen über das Erreichte.
Unterstützung wird nicht von aussen verordnet, sondern dort angenommen, wo sie gebraucht und angefragt ist. Übergänge ergeben sich aus Arbeiten, die schon bestehen, nicht aus Punkten, die von oben vergeben werden.
Schluss
Was ich in diesem Blogpost formuliere, ist keine Forderung, sondern eine Folgerung aus dem, was ist. Wer Lernen als eigenlogischen Prozess versteht, erkennt: Die Volksschule kann das in ihrer jetzigen Form gar nicht anerkennen. Ihre Struktur zwingt sie, es zu überformen, zu kanalisieren und damit den Kindern zu entfremden. Anerkennung entsteht ausserhalb dieser Vorgaben, in den Lebenswelten, in Gemeinschaften, in der Selbstorganisation. Was Schule hervorbringt, ist Anpassung. Nicht, weil Lehrpersonen es so wollen, sondern weil die Struktur es erzwingt.
Das ist der Kern meiner Kritik an der Schweizer Volksschule.
Lernen gehört nicht der Schule. Lernen geschieht immer. Es organisiert sich selbst. Der Auftrag für Erwachsene, für Lehrpersonen, für Politik und für Öffentlichkeit ergibt sich daraus fast von selbst. Kinder brauchen keine Besetzung ihrer Lernprozesse. Sie brauchen Anerkennung ihrer Arbeit, Schutz ihrer Zeit, Zugang zu Welt und echte Öffentlichkeiten. Alles Weitere stört mehr, als es hilft.
Ich bin und stehe bereit, jederzeit, immer mit anderen zusammen, in echter Kollaboration, tatsächlich innovative Formen von Bildungsarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu kreieren, wie ich sie hier und bei anderen Gelegenheiten skizziere – mit meiner umfangreichen Erfahrung, mit meiner Fähigkeit, Prozesse der Visionsentwicklung, der Leitbildfindung und der Formulierung von Strategien zu designen zu begleiten, zu steuern und zu evaluieren und daraus gemeinsam Konzepte abzuleiten, mit meiner Expertise als Lehrperson in klassischen Kontexten und als Lernbegleiter und Colearner in innovativen Settings. Verbindlich und nachhaltig.
Wer dafür die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellt und Bereitschaft nicht nur signalisiert, sondern gewährleistet, möge umgehend mit mir Kontakt aufnehmen. Ich stehe bereit.
Titelbild: Lernlandschaft an der Volksschule Wädenswil. Quelle.
„KI verarbeitet Informationen – aber sie denkt nicht. So beginnt ein Einwand, der sich auf die philosophische Grundlinie stützt: Maschinen berechnen Wahrscheinlichkeiten, Menschen denken. KI kennt keine Motive, keine Haltungen, keine Relevanzen. Sie weiss nicht, was ein Gedanke bedeutet, weil sie nicht weiss, was ein Subjekt ist, weil sie kein Subjekt ist. Bildung aber – so die gängige Folgerung – heisst: sich zu sich verhalten. Und das kann keine Maschine.
Diese Aussage wirkt auf den ersten Blick wie ein Schutzwall für das Menschliche, und das ist zunächst berechtigt. Doch dahinter verbirgt sich eine Architektur, die das Denken selbst einengt und auf eine Form reduziert, die vor allem praktisch verwertbar, leicht zu überprüfen und offiziell anerkannt ist. Wer KI vorschnell auf „nur Daten“ reduziert, verteidigt also nicht das Denken an sich, sondern womöglich ein verkleinertes, schulkompatibles Abbild davon.
Der Einwand als Spiegel
Die Frage „Kann KI denken?“ sagt mehr über unser Selbstverständnis aus als über die Maschine. Denn was meinen wir eigentlich, wenn wir sagen: „Denken“?
Ist es das Lösen von Aufgaben?
Das Abrufen und Ordnen von Wissen?
Das Fällen von Urteilen unter unsicheren Bedingungen?
Wenn wir Denken auf Aufgabenlösung, Wissensabruf oder Urteilsproduktion verkürzen, rücken wir es in eine Sphäre, in der KI uns unheimlich nahekommt. Wir messen es dann an denselben Parametern, nach denen auch ein Sprachmodell operiert und degradieren es zum schulisch verwaltbaren Verfahren, das sich in Aufgabenheften, Prüfungen und Curricula abbilden lässt.
Genau hier liegt das Missverständnis: Wer Denken so versteht, öffnet nicht nur der KI die Tür ins eigene Revier, sondern verliert den Blick dafür, dass menschliches Denken gerade das Unberechenbare, Offene, Weltbezogene ist – eine lebendige Praxis, die sich keinem Raster unterordnet, keiner Prüfungslogik beugt und nicht in Kompetenzrastern eingefangen werden kann. Hier zeigt sich die eigentliche, grundlegende Kritik an der Schule: Indem sie Denken systematisch auf planbare und abprüfbare Operationen reduziert, entleert sie es seines eigentlichen Sinns. Denken ist mehr als das – es ist freies Sich-Verhalten zur Welt, das Erkunden des Unvorhergesehenen, die fortwährende Selbstbefragung. Dazu gehört ebenso das kreative, problemlösende Denken: der Umgang mit offenen Fragen, das Entwickeln von Hypothesen, das Knüpfen ungewöhnlicher Verbindungen und das Entwerfen neuer Lösungswege. All das sind Dimensionen, die nicht nur in der hohen philosophischen Reflexion, sondern auch in alltäglichen Denksituationen unverzichtbar sind – und die im schulischen Alltag dennoch oft übersehen, marginalisiert oder bewusst ausgeschlossen werden. Genau hier setzt der nächste Schritt an.
Über den Rubikon
Die neue, generative KI – und mit ihr das aktuelle Upgrade von ChatGPT-5 – zeigt uns nicht, wie wir besseren Unterricht machen können. Sie zeigt, wie klein unser Bild vom Denken geworden ist. Denn dieses System kann:
Argumentationsketten aufspannen und gegeneinanderstellen
Gedanken aus völlig verschiedenen Disziplinen in Beziehung setzen
Brüche in einer Logik sichtbar machen
Hypothesen unter neuen Voraussetzungen weiterspinnen
Sprachräume öffnen, in denen eine Frage nicht sofort beantwortet, sondern in Schwebe gehalten wird
All das geschieht jenseits des gewohnten schulischen Settings – und genau darin liegt die Provokation: Es zeigt, dass diese Qualitäten nicht nur ausserhalb der Schule möglich sind, sondern auch innerhalb ihres Rahmens Platz haben müssten. Ohne Prüfungsdruck, ohne Rollenzuweisung, ohne Bewertung, ohne den ständigen Blick auf Lehrpläne oder vorgegebene Ziele – und gerade deshalb als Einladung, Schule selbst zu hinterfragen. Das ist kein Denken im vollen menschlichen Sinn – denn KI hat weder Bewusstsein, Erfahrung noch ein Selbst, das sich zur Welt verhält. Aber gerade deshalb liegt hier der Reiz: Sie kann als Spiegel und Resonanzraum wirken, der uns zwingt, unser eigenes Denken – mit all seinen bewussten, erfahrungsbasierten und verantwortlichen Dimensionen – aus den Fesseln institutioneller Formate zu befreien – weil erst in dieser Befreiung ein Denken möglich wird, das nicht mehr auf Prüfungen, Raster und formale Anerkennung schielt. Für Kinder und Jugendliche bedeutet das die Eröffnung eines Erfahrungsraums, in dem Fragen nicht sofort beantwortet, sondern vertieft werden dürfen, in dem Irrtümer nicht sanktioniert, sondern als Teil des Erkenntniswegs begriffen werden, und in dem Kreativität, Widerspruch und Eigenständigkeit nicht abtrainiert, sondern bewusst kultiviert werden.
Bildungsarbeit jenseits des Klassenzimmers
Ja, es ist Teil von Bildungsarbeit, dass junge Menschen lernen, KI zu nutzen. Aber nicht im Sinn einer „Kompetenz im Umgang mit digitalen Tools“. „KI nutzen lernen“ heisst nicht: Bedienung, Anwendung, Integration in den Unterricht. Es heisst:
sich mit einer neuen, fremden Intelligenz auseinandersetzen
sich irritieren lassen von einer Stimme, die nicht Mensch ist, aber anschlussfähig an menschliche Sprache
erkennen, wie leicht wir uns mit Kohärenz zufriedengeben – und wie nötig es ist, selbst zu urteilen
erfahren, dass ein Gespräch mit KI kein Dialog im Buber’schen Sinn ist – und gerade deshalb ein Resonanzraum sein kann
Das kann überall geschehen: im Studio, auf der Strasse, am Küchentisch, allein oder in Gruppen, mit oder ohne pädagogische Begleitung. Es ist gemeinsame Weltkonstruktion, nicht Unterrichtsplanung.
Das eigentliche Risiko
Die Gefahr liegt nicht in einer „denkenden“ KI. Sie liegt darin, dass wir unser Denken nicht mehr ernst nehmen – weder in seiner Tiefe noch in seiner alltäglichen Praxis. Dass wir schnelle Antworten für wohlüberlegte Urteile halten. Dass wir Verstehen mit blossem Wiederholen verwechseln. Und dass wir Bildung weiter als die Kunst betrachten, überprüfbare Leistungen abzuliefern, anstatt als die lebendige Fähigkeit, Bedeutungen gemeinsam zu erschaffen, zu verhandeln und zu hinterfragen. Wenn wir Kindern und Jugendlichen diese Dimension vorenthalten, nehmen wir ihnen nicht nur ein Stück intellektueller Freiheit, sondern auch die Möglichkeit, ihr Denken als selbstbestimmten, kreativen und widerständigen Prozess zu erfahren.
Fazit
KI kennt keine Welt, keine Subjekte, keine Bedeutungen. Der Eindruck, sie täte es doch, entsteht, weil ihre Antworten sprachlich kohärent, inhaltlich plausibel und oft verblüffend anschlussfähig wirken – und wir Menschen dazu neigen, Verständlichkeit mit Verstehen zu verwechseln. Sie spiegelt Muster, die wir in ihr finden wollen, und so projizieren wir in sie hinein: Weltkenntnis, Subjektivität und Bedeutungen. Gerade deshalb ist es entscheidend, unser eigenes Denken zu schärfen: zu unterscheiden zwischen sprachlicher Passung und gelebter Erfahrung, zwischen Datenmustern und Bedeutung. Im bewussten Umgang mit dieser Differenz liegt die Chance, KI als Auslöser für Denkprozesse zu nutzen – und nicht als Ersatz. So kann sie eine Welt aufschliessen, in der wir wieder lernen, was es heisst, zu denken. Sie befreit das Denken nicht, indem sie selbst denkt, sondern indem sie zeigt, wie sehr wir es an Strukturen gebunden haben, die es ersticken. „KI nutzen lernen“ bedeutet dann nicht, sich ein Werkzeug anzueignen, sondern eine neue Form des Zusammenlebens mit Intelligenz zu erproben – einer Intelligenz, die weder menschlich noch harmlos, weder perfekt noch neutral ist, aber fähig, unser Denken zu spiegeln, zu reizen, zu weiten.
Wer hier stehen bleibt, hat den Rubikon nicht überschritten. Wer ihn überschreitet, erkennt: Es geht nicht darum, KI in die Schule zu bringen. Es geht darum, die Schule aus der Enge des Schuldenkens zu entlassen: in eine Welt, in der Bildung weit über das hinausreicht, was sich in Prüfungen abbilden oder messen lässt.