Dieser vierte und letzte Beitrag meiner Reihe zu häufig geäusserten Einwänden gegen den Einsatz von KI in schulischen Kontexten wendet sich einem besonders hartnäckigen Vorbehalt zu. Nach der Kritik an der Zerstörung klarer Lernlogiken (Teil 1), der Überforderung durch fehlende Orientierung (Teil 2) und dem vermeintlichen Verlust echter Beziehung (Teil 3) steht nun das Denken selbst im Fokus:
„KI verarbeitet Informationen – aber sie denkt nicht.
So beginnt ein Einwand, der sich auf die philosophische Grundlinie stützt: Maschinen berechnen Wahrscheinlichkeiten, Menschen denken. KI kennt keine Motive, keine Haltungen, keine Relevanzen. Sie weiss nicht, was ein Gedanke bedeutet, weil sie nicht weiss, was ein Subjekt ist, weil sie kein Subjekt ist. Bildung aber – so die gängige Folgerung – heisst: sich zu sich verhalten. Und das kann keine Maschine.
Diese Aussage wirkt auf den ersten Blick wie ein Schutzwall für das Menschliche, und das ist zunächst berechtigt. Doch dahinter verbirgt sich eine Architektur, die das Denken selbst einengt und auf eine Form reduziert, die vor allem praktisch verwertbar, leicht zu überprüfen und offiziell anerkannt ist. Wer KI vorschnell auf „nur Daten“ reduziert, verteidigt also nicht das Denken an sich, sondern womöglich ein verkleinertes, schulkompatibles Abbild davon.
Der Einwand als Spiegel
Die Frage „Kann KI denken?“ sagt mehr über unser Selbstverständnis aus als über die Maschine. Denn was meinen wir eigentlich, wenn wir sagen: „Denken“?
- Ist es das Lösen von Aufgaben?
- Das Abrufen und Ordnen von Wissen?
- Das Fällen von Urteilen unter unsicheren Bedingungen?
Wenn wir Denken auf Aufgabenlösung, Wissensabruf oder Urteilsproduktion verkürzen, rücken wir es in eine Sphäre, in der KI uns unheimlich nahekommt. Wir messen es dann an denselben Parametern, nach denen auch ein Sprachmodell operiert und degradieren es zum schulisch verwaltbaren Verfahren, das sich in Aufgabenheften, Prüfungen und Curricula abbilden lässt.
Genau hier liegt das Missverständnis: Wer Denken so versteht, öffnet nicht nur der KI die Tür ins eigene Revier, sondern verliert den Blick dafür, dass menschliches Denken gerade das Unberechenbare, Offene, Weltbezogene ist – eine lebendige Praxis, die sich keinem Raster unterordnet, keiner Prüfungslogik beugt und nicht in Kompetenzrastern eingefangen werden kann. Hier zeigt sich die eigentliche, grundlegende Kritik an der Schule: Indem sie Denken systematisch auf planbare und abprüfbare Operationen reduziert, entleert sie es seines eigentlichen Sinns. Denken ist mehr als das – es ist freies Sich-Verhalten zur Welt, das Erkunden des Unvorhergesehenen, die fortwährende Selbstbefragung. Dazu gehört ebenso das kreative, problemlösende Denken: der Umgang mit offenen Fragen, das Entwickeln von Hypothesen, das Knüpfen ungewöhnlicher Verbindungen und das Entwerfen neuer Lösungswege. All das sind Dimensionen, die nicht nur in der hohen philosophischen Reflexion, sondern auch in alltäglichen Denksituationen unverzichtbar sind – und die im schulischen Alltag dennoch oft übersehen, marginalisiert oder bewusst ausgeschlossen werden. Genau hier setzt der nächste Schritt an.
Über den Rubikon
Die neue, generative KI – und mit ihr das aktuelle Upgrade von ChatGPT-5 – zeigt uns nicht, wie wir besseren Unterricht machen können. Sie zeigt, wie klein unser Bild vom Denken geworden ist.
Denn dieses System kann:
- Argumentationsketten aufspannen und gegeneinanderstellen
- Gedanken aus völlig verschiedenen Disziplinen in Beziehung setzen
- Brüche in einer Logik sichtbar machen
- Hypothesen unter neuen Voraussetzungen weiterspinnen
- Sprachräume öffnen, in denen eine Frage nicht sofort beantwortet, sondern in Schwebe gehalten wird
All das geschieht jenseits des gewohnten schulischen Settings – und genau darin liegt die Provokation: Es zeigt, dass diese Qualitäten nicht nur ausserhalb der Schule möglich sind, sondern auch innerhalb ihres Rahmens Platz haben müssten. Ohne Prüfungsdruck, ohne Rollenzuweisung, ohne Bewertung, ohne den ständigen Blick auf Lehrpläne oder vorgegebene Ziele – und gerade deshalb als Einladung, Schule selbst zu hinterfragen.
Das ist kein Denken im vollen menschlichen Sinn – denn KI hat weder Bewusstsein, Erfahrung noch ein Selbst, das sich zur Welt verhält. Aber gerade deshalb liegt hier der Reiz: Sie kann als Spiegel und Resonanzraum wirken, der uns zwingt, unser eigenes Denken – mit all seinen bewussten, erfahrungsbasierten und verantwortlichen Dimensionen – aus den Fesseln institutioneller Formate zu befreien – weil erst in dieser Befreiung ein Denken möglich wird, das nicht mehr auf Prüfungen, Raster und formale Anerkennung schielt. Für Kinder und Jugendliche bedeutet das die Eröffnung eines Erfahrungsraums, in dem Fragen nicht sofort beantwortet, sondern vertieft werden dürfen, in dem Irrtümer nicht sanktioniert, sondern als Teil des Erkenntniswegs begriffen werden, und in dem Kreativität, Widerspruch und Eigenständigkeit nicht abtrainiert, sondern bewusst kultiviert werden.
Bildungsarbeit jenseits des Klassenzimmers
Ja, es ist Teil von Bildungsarbeit, dass junge Menschen lernen, KI zu nutzen. Aber nicht im Sinn einer „Kompetenz im Umgang mit digitalen Tools“.
„KI nutzen lernen“ heisst nicht: Bedienung, Anwendung, Integration in den Unterricht.
Es heisst:
- sich mit einer neuen, fremden Intelligenz auseinandersetzen
- sich irritieren lassen von einer Stimme, die nicht Mensch ist, aber anschlussfähig an menschliche Sprache
- erkennen, wie leicht wir uns mit Kohärenz zufriedengeben – und wie nötig es ist, selbst zu urteilen
- erfahren, dass ein Gespräch mit KI kein Dialog im Buber’schen Sinn ist – und gerade deshalb ein Resonanzraum sein kann
Das kann überall geschehen: im Studio, auf der Strasse, am Küchentisch, allein oder in Gruppen, mit oder ohne pädagogische Begleitung. Es ist gemeinsame Weltkonstruktion, nicht Unterrichtsplanung.
Das eigentliche Risiko
Die Gefahr liegt nicht in einer „denkenden“ KI. Sie liegt darin, dass wir unser Denken nicht mehr ernst nehmen – weder in seiner Tiefe noch in seiner alltäglichen Praxis. Dass wir schnelle Antworten für wohlüberlegte Urteile halten. Dass wir Verstehen mit blossem Wiederholen verwechseln. Und dass wir Bildung weiter als die Kunst betrachten, überprüfbare Leistungen abzuliefern, anstatt als die lebendige Fähigkeit, Bedeutungen gemeinsam zu erschaffen, zu verhandeln und zu hinterfragen. Wenn wir Kindern und Jugendlichen diese Dimension vorenthalten, nehmen wir ihnen nicht nur ein Stück intellektueller Freiheit, sondern auch die Möglichkeit, ihr Denken als selbstbestimmten, kreativen und widerständigen Prozess zu erfahren.
Fazit
KI kennt keine Welt, keine Subjekte, keine Bedeutungen. Der Eindruck, sie täte es doch, entsteht, weil ihre Antworten sprachlich kohärent, inhaltlich plausibel und oft verblüffend anschlussfähig wirken – und wir Menschen dazu neigen, Verständlichkeit mit Verstehen zu verwechseln. Sie spiegelt Muster, die wir in ihr finden wollen, und so projizieren wir in sie hinein: Weltkenntnis, Subjektivität und Bedeutungen. Gerade deshalb ist es entscheidend, unser eigenes Denken zu schärfen: zu unterscheiden zwischen sprachlicher Passung und gelebter Erfahrung, zwischen Datenmustern und Bedeutung. Im bewussten Umgang mit dieser Differenz liegt die Chance, KI als Auslöser für Denkprozesse zu nutzen – und nicht als Ersatz. So kann sie eine Welt aufschliessen, in der wir wieder lernen, was es heisst, zu denken.
Sie befreit das Denken nicht, indem sie selbst denkt, sondern indem sie zeigt, wie sehr wir es an Strukturen gebunden haben, die es ersticken.
„KI nutzen lernen“ bedeutet dann nicht, sich ein Werkzeug anzueignen, sondern eine neue Form des Zusammenlebens mit Intelligenz zu erproben – einer Intelligenz, die weder menschlich noch harmlos, weder perfekt noch neutral ist, aber fähig, unser Denken zu spiegeln, zu reizen, zu weiten.
Wer hier stehen bleibt, hat den Rubikon nicht überschritten.
Wer ihn überschreitet, erkennt: Es geht nicht darum, KI in die Schule zu bringen. Es geht darum, die Schule aus der Enge des Schuldenkens zu entlassen: in eine Welt, in der Bildung weit über das hinausreicht, was sich in Prüfungen abbilden oder messen lässt.
