Titelbild: Paul Klee (1932) Zeichen verdichten sich. Zentrum Paul Klee, Bern
Dieser Blogpost ist der dritte von insgesamt vier Beiträgen, die sich mit häufig geäusserten Einwänden gegen den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in schulischen Kontexten auseinandersetzen. Dabei geht es mir nicht um eine vorschnelle Entkräftung, sondern um eine ernsthafte Prüfung: Was sagen diese Einwände über unser Verständnis von Bildung, und was über unser Verhältnis zu Veränderung?
Nach der Kritik an der Zerstörung klarer Lernlogiken (Teil 1) und der Überforderung durch fehlende Orientierung (Teil 2) widmet sich dieser Beitrag dem vielleicht grundlegendsten Argument: „Nur im sozialen Miteinander entsteht echte Bildung.“
Will sagen:
Bildung braucht Begegnung. Sie entsteht nicht im Monolog, sondern im Dialog. Nicht in der Reaktion auf Maschinen, sondern im Widerspruch, im Missverständnis, in der unvorhersehbaren Dynamik menschlicher Gespräche. Bildung ist Selbstwerdung in Beziehung, und dazu braucht es andere Menschen, nicht Maschinen. KI mag Informationen geben aber sie spiegelt uns nicht. Ohne das Du kein Ich.
Dieser Einwand trifft einen Nerv. Er greift nicht nach technischer Funktionalität oder didaktischer Ordnung, sondern nach dem Wesentlichen: dem Menschen. Er berührt das, was in pädagogischen Kontexten als unersetzlich gilt: Beziehung, Resonanz, Subjektwerdung. Deshalb ist er wirksam. Er hat Tiefgang. Er bringt nicht nur ein Argument, sondern eine Haltung ins Spiel und die Sehnsucht nach echter Begegnung, nach einem Gegenüber, das nicht einfach „funktioniert“, sondern antwortet.
Aber der Einwand trifft nicht nur einen Nerv, sondern auch eine Illusion. Denn was in der Schule als „Beziehung“ gilt, ist eher Arrangement als Begegnung.
Die Logik des Einwands
„Alles wirkliche Leben ist Begegnung“. Dieser Satz von Martin Buber ist zum pädagogischen Mantra geworden. Wer so denkt, sieht Bildung nicht als Aneignung von Inhalten, sondern als Prozess des In-Beziehung-Tretens. Das Du macht das Ich möglich. Lernen wird zum dialogischen Prozess der Weltbeziehung. Nicht Stoff, sondern Gespräch. Nicht Leistung, sondern Resonanz. Nicht Steuerung, sondern Berührung.
Auch drei weitere Persönlichkeiten, die zum Thema Bildung Wertvolles sagen können, denken in dieser Linie: Gert Biesta, Hartmut Rosa und Hannah Arendt. Ihre Perspektiven verdeutlichen, wie Bildung verstanden werden kann.
Gert Biesta spricht davon, dass Bildung dann im Spiel ist, wenn wir unterbrochen werden, wenn etwas unseren gewohnten Denkfluss stört. Das kann ein Gespräch sein, das uns zum Nachdenken bringt. Eine Erfahrung, die nicht ins Schema passt. Oder eine Frage, auf die wir keine Antwort wissen. Bildung beginnt für ihn nicht dort, wo wir möglichst viel wissen oder können, sondern dort, wo wir uns irritieren lassen. Wo wir gezwungen sind, neu hinzuschauen. Wo wir spüren, dass wir nicht einfach weitermachen können wie bisher.
Biesta, G. J. J. (2014). The Beautiful Risk of Education: What Is Educating for the Future? London: Routledge. Biestas Verständnis von „Bildung durch Unterbrechung“ findet sich insbesondere in diesem Werk, das sich kritisch mit sicherer, zielorientierter Bildung auseinandersetzt.
Und KI? Sie kann nicht unterbrechen. Sie folgt der Logik des Inputs. Doch sie kann die Bühne freihalten, auf der Unterbrechung geschehen kann.
Hartmut Rosa beschreibt Bildung als Resonanzprozess, als Beziehung zur Welt, die nicht durch Zugriff, sondern durch Berührung geprägt ist. Resonanz bedeutet nicht, dass etwas zurückkommt, sondern dass etwas in Schwingung gerät.
Rosa, H. (2016). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dieses Buch entwirft die berühmte Resonanztheorie, in der Bildung als Beziehung zur Welt verstanden wird.
Und KI? Sie kann diese Schwingung nicht selbst empfinden, aber sie kann sie ermöglichen, indem sie Informationen nicht nur bereitstellt, sondern sie in Anschlussfähigkeit überführt. Ihre Stärke liegt nicht im Inhalt, sondern in der Art, wie sie ermöglicht, dass etwas als bedeutsam erfahren wird.
Hannah Arendt wiederum begreift Bildung als Eintritt in eine gemeinsame Welt. Bildung ist für sie kein individueller Entfaltungsprozess, sondern eine Verantwortung gegenüber der Welt, die uns vorangegangen ist, und die wir weitergeben.
Arendt, H. (1958). Die Krise in der Erziehung. In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I.[Texte 1954–1964] (S. 255–276). München: Piper Verlag. Der Aufsatz „Die Krise in der Erziehung“ bildet den pädagogischen Kern von Arendts Reflexion über Bildung, Verantwortung und Institutionen. Obwohl Arendt insgesamt nur selten pädagogische Fragen explizit behandelt hat, ist gerade dieser Text ihr wichtigster Beitrag zu erziehungswissenschaftlichen Debatten.
Und KI? Sie hat keine Welt und kein Gedächtnis. Doch sie stellt Information bereit, das in die Welt hineinführt. Sie eröffnet Räume, in denen Welt begegnet werden kann – nicht als Besitz, sondern als Aufgabe.
Diese drei Positionen teilen die Überzeugung: Bildung ist nicht planbar, nicht linear, nicht technisch steuerbar. Sie geschieht im Widerstand, in der Unterbrechung, im Gegenüber. Bildung ist nicht Komfortzone, sondern Zumutung.
Künstliche Intelligenz kann, wenn sie klug eingesetzt wird, genau diesen Zumutungen Raum geben: Sie ermöglicht es, irritierende Rückfragen zu formulieren, ohne sich zu exponieren. Sie eröffnet alternative Denkwege, zeigt Widersprüche auf und bietet die Chance, sich mit einer fremden Perspektive auseinanderzusetzen. KI ersetzt nicht das Gegenüber, aber sie schafft Momente, in denen der Denkprozess sich löst vom Erwartungsdruck und von der Rolle. Und genau darin liegt ihr bildendes Potenzial.
Genau deshalb wirkt der dritte Einwand („Beziehung und Begegnung“) auf den ersten Blick so grundlegend: Denn vieles von dem, was wir mit Bildung und Beziehung verbinden – Schweigen, Irritation, ein echtes „Du“ – scheint jenseits technischer Vermittlung zu liegen. KI kann keine Fremdheit verkörpern, keine Lebensgeschichte mitbringen, keine leibliche Präsenz entfalten. Sie ist kein Widerspruch, sondern Reaktion. Kein Mensch, sondern ein System.
Und doch beginnt genau hier der zweite Blick: Was KI fehlt, macht sie zugleich zu einem Resonanzraum ohne Erwartungsdruck. Gerade weil sie keine Biografie, keine Erziehung, keine Emotionen mitbringt, entsteht ein Freiraum. Kein Ersatz für Beziehung aber ein Möglichkeitsraum, in dem Beziehung sich anders ereignen kann.
Gerade weil KI keine Beziehung ersetzen kann, lohnt es sich zu fragen, wie Beziehung in der Schule überhaupt möglich wird, und welche Formen von Beziehung dort tatsächlich gelebt werden. Denn es ist gar nicht die KI, die einer echten Begegnung im Weg steht, sondern ein System, das Beziehung zur Pflicht erhebt und Begegnung in Rollen presst.
Warum der Einwand stimmt – aber nicht gegen KI spricht
So plausibel der Einwand also klingt, und so sehr er sich auf humanistische Bildungstraditionen beruft, so wenig spiegelt er die Realität wider, die viele Kinder heute in der Schule erleben.
Denn was Biesta unter Unterbrechung versteht, was Rosa als Resonanz beschreibt und was Arendt als Eintritt in eine gemeinsame Welt fordert, das bleibt im schulischen Alltag systembedingt eine Theorie.
Zwar gibt es heute vielerorts sogenannte offene Lernsettings oder projektartige Lernformen, doch auch diese sind hochgradig durchgetaktet, mit Aufträgen versehen und auf vordefinierte, allgemeine Lernziele ausgerichtet. Selbstorganisation wird dabei mit der Organisation fremder Vorgaben gleichgesetzt.
Statt tatsächlicher Resonanz dominieren Kompetenzraster, die eher Leistungsmessung ermöglichen sollen als Beziehung zu fördern. Und was als Weltorientierung (Arendt) erscheinen könnte, wird in Lehrpläne gepresst, die nicht dem Erleben, sondern der Steuerung dienen, denn sie richten sich nicht danach, was im lernenden Menschen in Bewegung gerät, sondern danach, was sich im System erfassen, planen und kontrollieren lässt.
Lehrpläne entstehen oft aus der ehrlichen Absicht, Schule in eine neue Richtung zu lenken. So auch der Lehrplan 21 in der Schweiz: Er spricht von Selbstständigkeit, überfachlichen Kompetenzen und Bildung in einer komplexen Welt. Doch diese Begriffe bleiben im Schulalltag vielfach leere Hüllen.
Nicht weil der Lehrplan schlecht wäre, sondern weil das, was er verändern will, tiefer sitzt: das Hidden Curriculum, das Verhalten statt Bildung belohnt, Anpassung statt Denken fördert, Steuerung statt Suche organisiert. Dieses unsichtbare Drehbuch schulischer Normalität ist nicht neu. Es ist das eigentliche Fundament der Schule, und es ist erstaunlich resistent gegenüber offiziellen Reformen.
Der Lehrplan 21 konnte dem bislang wenig entgegensetzen. Nicht weil er falsch gedacht ist, sondern weil Struktur stärker ist als Intention. Die tägliche Praxis reproduziert nicht das, was im Lehrplan steht, sondern das, was Schule schon immer war: ein System zur Ordnung von Verhalten, Zeit und Wissen.
Das Hidden Curriculum von Schule ist nicht einfach ein Nebeneffekt, sondern die eigentliche Grammatik ihrer täglichen Praxis. Es folgt einer Logik der Steuerung: Was ein Kind bewegt, hat nur dann Platz, wenn es sich einem Ziel zuordnen lässt: einer Kompetenz, einem Test, einer Beurteilung.
Doch Lernen folgt keiner Zielgerade. Es wächst in Schleifen, tastet sich voran, scheitert, schweift ab. Lehrpläne werden – so modern sie daherkommen mögen – in dieser Realität nicht als Einladung erlebt, sondern als Taktgeber. Nicht die schriftlich formulierte Intention ist entscheidend, sondern das, was sich im Alltag durchsetzt. Und das sind Zeitdruck, Vergleich, Verhaltenserwartung, Stoffmenge.
Und jetzt: Beziehung steht in der Schule unter denselben strukturellen Vorzeichen. Sie wird eingefordert, ritualisiert, standardisiert, ist im besten Fall gut gemeint, im Regelfall funktionalisiert. Was als Nähe erscheint, ist eine pädagogisch inszenierte Form der Kontrolle. Was als Dialog bezeichnet wird, ist eine asymmetrische Kommunikation: mit klar verteilten Rollen, Erwartungen und Bewertungen.
In dieser Konstellation wird verständlich, warum ausgerechnet der Einwand, KI gefährde die Beziehung, so paradox ist:
Nicht die KI bedroht die Beziehung zwischen Menschen, sondern ein Schulsystem, das Beziehung in festgelegte Rollen und Erwartungen zwängt. Wenn die Schule vorgibt, Beziehung vor der KI schützen zu wollen, dann verteidigt sie damit nicht Beziehung, sondern ein System, das echte Begegnung schon längst verhindert.
KI kann weder Schule noch Beziehung ersetzen. Aber sie kann letztere befreien, gerade weil sie keine Erwartungen an den Menschen stellt und niemanden in eine pädagogische Rolle zwingt. KI schafft Räume jenseits von Funktion, Rolle und Bewertung, und so wird echte Beziehung mindestens wieder denkbar.
Vier Gründe, warum das pädagogische Beziehungsideal an seiner eigenen Praxis scheitert
- Beziehung ist nicht gleich Beziehung . Was Schule unter „Beziehung“ versteht, ist selten echte Begegnung. Es handelt sich um arrangierte, hierarchische, pädagogisch gerahmte Interaktionen, die primär der Instruktion, Bewertung und Verhaltenssteuerung dienen. Ein System, das Prüfungen, Stundenpläne und Stoffvorgaben über das Soziale stellt, feiert die Beziehung, die es selbst strukturell verhindert. Begegnung wird dort zur pädagogischen Technik, wo sie eigentlich Offenheit, Unsicherheit und Gegenseitigkeit bräuchte. Wer das Du verteidigt, sollte fragen: Wieviel Ich darf in der Schule überhaupt entstehen? Und wie oft bedeutet Beziehung hier asymmetrische Anpassung an eine Rolle?
- Das Soziale ist nicht automatisch gut. Gruppenzwang, Konformität, Ausgrenzung, Konkurrenz – auch das ist Schulrealität. Soziales Lernen kann bilden oder brechen. Es kann Resonanz stiften oder Rollenspiele erzwingen. Viele Kinder erleben Schule nicht als sozialen Möglichkeitsraum, sondern als Bühne, auf der sie funktionieren müssen. Beziehung kann befreien aber auch fesseln. Und das Soziale, das wir so hochhalten, ist in der Schule durchsetzt von Erwartungen, Sanktionen, Bewertungen. Wer Bildung in Beziehung verortet, muss auch die Gewalt der Beziehung thematisieren, vor allem dort, wo das Soziale durch institutionelle Strukturen normiert und kontrolliert wird.
- KI ersetzt keine Beziehung, aber sie entlastet sie. Die Angst, KI könnte das Du verdrängen, verkennt ihr eigentliches Potenzial: Sie ersetzt nicht das Du, sondern den Zwang, dass das Du sich pädagogisch verhalten muss. Nicht jeder Mensch muss eine Lehrperson sein. Nicht jede Interaktion braucht Bewertung. Nicht jedes Gespräch muss ein Ziel verfolgen. Gerade indem KI das Funktionale übernimmt – die Wiederholung, die Erläuterung, die Struktur –, schafft sie Räume für das Menschliche, für Begegnung ohne pädagogisches Programm. Beziehung wird wieder möglich, weil sie nicht mehr verpflichtend, nicht mehr funktionalisiert ist.
- KI ermöglicht eine neue Form der Intimität mit sich selbst. Wenn Bildung in Beziehung geschieht, dann auch in Beziehung zu sich selbst. Nicht wenige Schüler:innen und Lehrpersonen erleben die Schule nicht als Ort, an dem sie sich selbst begegnen dürfen, sondern als Raum permanenter Fremddefinition. KI hingegen hingegen fragt nicht nach sozialer Passung. Sie erwartet nichts, sie urteilt nicht, sie vergleicht nicht. Sie ist ein Raum, in dem Fragen erlaubt sind: ohne Blick, ohne Reaktion, ohne Performanz. Das ist kein Dialog. Aber es ist ein Möglichkeitsraum, in dem sich ein Selbstverhältnis entfalten kann, ohne dass es auf Sichtbarkeit und soziale Validierung angewiesen ist.
Doch mit dieser Kritik allein ist es nicht getan. Wenn ich die gängige schulische Praxis von Beziehung, Begegnung und pädagogischer Nähe so grundlegend in Frage stelle, dann muss ich auch neu bestimmen, worauf es im Kern ankommt:
Was genau steht auf dem Spiel, wenn ich sagee, dass KI Beziehung nicht ersetzt und dennoch das Verhältnis zwischen Mensch, Bildung und Institution neu ordnet? Welche Missverständnisse über Schule, über das Soziale und über die Rolle von Technologie halten sich hartnäckig, und was wäre stattdessen zu klären?
Die folgenden sechs Klärungen versuchen, genau das sichtbar zu machen. Sie sind kein Plädoyer für künstliche Intelligenz sondern eine Einladung, das Verhältnis von Beziehung, Struktur und Bildung neu zu denken. Ohne Illusionen, aber mit Ernst.
Sechs notwendige Klärungen
Beziehung ist nicht dasselbe wie Begegnung. Was in der Schule als Beziehung bezeichnet wird, ist ein pädagogisch durchorganisiertes Arrangement. Lehrpersonen sind qua Rolle verpflichtet, sich als Beziehungsangebot zu inszenieren: freundlich, zugewandt, präsent. Doch diese Beziehung folgt einem Drehbuch: Fragen, Feedback, Bewertung, Förderung. Das sogenannte Du ist kein wirkliches Gegenüber, sondern eine pädagogisch codierte Figur. Begegnung hingegen ist ereignishaft, unplanbar, verletzlich. Sie lässt sich nicht herstellen, nur ermöglichen, und genau das geschieht im schulischen Alltag selten und jedenfalls nicht intentional.
Das Soziale ist keine Garantie auf Bildung. Schulischer Alltag ist voller sozialer Interaktionen, doch auch die sind funktionalisiert: für Gruppenarbeiten, Disziplinierung, Leistungskontrolle. Gemeinschaft wird simuliert, nicht gelebt. Freundschaften sind erwünscht, solange sie dem Lernziel nicht im Weg stehen. „Das Soziale“ kann also stärken, befreien oder fesseln. Es kann Resonanz erzeugen oder Konformismus, Gruppendruck, Ausschluss. Die einen erleben das Soziale in der Schule als wohltuend, andere als belastend oder entmutigend. Nicht jedes soziale Miteinander bildet. Manche sozialen Strukturen untergraben sogar das, was sie zu ermöglichen vorgeben.
KI ist keine Beziehung, aber sie ist eine Form von Resonanz. Resonanz im Sinne Hartmut Rosas meint eine wechselseitige Berührung. KI kennt diese Berührung nicht, aber sie ist responsiv. Sie antwortet, wiederholt, erklärt, verweilt, verlangsamt, differenziert ohne zu ermüden, ohne zu werten. Sie bietet keinen Spiegel des Selbst, aber eine Rückmeldung im Prozess. Diese Rückmeldung ist nicht menschlich aber dem Menschlichen sehr ähnlich, und vor allem ist sie jederzeit verfügbar. Und oft ist das genau der Freiraum, den es braucht: jenseits des sozialen Blicks, jenseits von Peinlichkeit, Druck oder Fremdzuschreibungen. KI ermöglicht Resonanz ohne soziale Kosten.
Erst wenn Beziehung nicht mehr Pflicht ist, wird sie möglich. Das System Schule macht Beziehung zur Erwartung: zwischen Lehrperson und Kind, innerhalb der Klasse, im Kollegium. Wer sich entzieht, gilt als beziehungsunfähig oder störend. Doch Beziehung lässt sich nicht erzwingen und schon gar nicht pädagogisch einfordern. KI ersetzt das Du nicht, aber sie bricht das Rollenspiel auf. Sie entzieht sich der pädagogischen Dramaturgie und genau darin liegt ihre befreiende Kraft. Wenn niemand eine Rolle spielen muss, entsteht Raum für etwas Eigensinniges. Vielleicht sogar für echte Begegnung.
Nicht jedes Lernen braucht ein Gegenüber. Es gibt Lernprozesse, die wollen still wachsen. Ohne Kommentierung, ohne Kontrolle. Manche Fragen entwickeln sich über Wochen. Manche Gedanken brauchen Wiederholung, Rückzug, Eigenzeit. In der Schule ist das kaum möglich: Der nächste Auftrag wartet, der nächste Test kommt bestimmt. KI hält diesen Raum offen: eine stille Instanz, die bleibt, auch wenn niemand sonst mehr zuhört. Nicht weil sie menschlich ist, sondern weil sie nicht stört.
Beziehung entsteht dort, wo das Erwartbare endet. Schulen sind Orte der Erwartung: Was gelernt wird, wie „man“ sich verhält, wann „man“ antwortet. Begegnung hingegen beginnt dort, wo etwas passieren darf, das nicht im Skript steht. Wo Stille Raum bekommt und wo Missverständnisse nicht sofort korrigiert, sondern ausgehalten werden. KI kann genau dafür Platz schaffen, gerade weil sie nichts erwartet. Keine Performance, kein Verhalten, keine Rolle. Und das macht sie zu einem Resonanzraum. Nicht als Mensch, sondern als Ermöglichung des Menschlichen.
Was KI wirklich leistet – und warum ausgerechnet sie
KI ist keine Bezugsperson, kein empathisches Gegenüber, aber sie ist eine geduldige, reaktive Instanz, die Lernende in einer Weise begleitet, wie es der schulische Alltag nicht leisten kann.
Der Study Mode von ChatGPT geht exakt in diese Richtung.
KI lässt mich fragen, ohne mich zu bewerten. Sie antwortet, ohne mich zu unterbrechen. Sie erklärt, ohne zu ermüden. Sie bleibt unabhängig von Tagesform, Gruppendruck oder Gesichtsausdruck da für mich. Sie kennt keine Noten, keine Ironie, keine Verlegenheit. Sie stellt keine Gegenfragen, die mich blossstellen könnten. Sie funktioniert, egal ob Montagmorgen oder Freitagmittag.
Und doch kommt an dieser Stelle oft ein Einwand: Ist das nicht gefährlich? Ist KI verlässlich genug? Macht sie nicht auch Fehler, „halluziniert“ sogar? Ist das zu verantworten, insbesondere bei Kindern?
Diese Fragen sind berechtigt, und sie verkennen zugleich etwas Grundsätzliches: Der Einsatz von KI enthebt nicht der Verantwortung. Weder die Lehrperson noch die Schule noch die Gesellschaft dürfen sich aus der Verantwortung zurückziehen, wenn KI genutzt wird. Aber das war und ist ja bei jedem Medium so. Auch Bücher enthalten (oder sind ein) Fehler. Auch Lehrer:innen irren sich. Auch Wikipedia ist nicht unfehlbar. Entscheidend ist nicht, ob KI perfekt ist, sondern ob wir lernen, mit ihren Grenzen umzugehen und ob wir den Mut aufbringen, Lernende zu begleiten, anstatt ihnen alle Wege vorzuschreiben.
Die KI ersetzt nicht das Du. Aber sie ersetzt den Druck, dass das Du funktionieren muss. Sie bricht mit dem Zwang zur pädagogischen Performance, zum pädagogischen Blick, zur Rolle als „Lehrkraft“. Sie ersetzt nicht Beziehung, aber sie schafft einen Möglichkeitsraum, in dem Beziehung sich anders ereignen kann als bisher in der Schule. KI ersetzt Schule nicht, aber sie zeigt, wie eng Schule gebaut ist, wenn Lernen nur in bestimmten Formaten, Räumen und Rollen gedacht werden darf.
Viele der Einwände gegen KI gründen auf einem verkürzten Verständnis: KI sei ein neues Werkzeug, nicht mehr, nicht weniger. Doch darin liegt ein Denkfehler. Werkzeuge folgen einer klaren Absicht, sie sind Mittel zum Zweck. KI aber verändert die Bedingungen, unter denen Zwecke überhaupt formuliert werden. Sie ist kein neutraler Gegenstand, sondern ein dialogisches System. Sie ist interaktiv, dynamisch, prozessual. Sie kann als Werkzeug benutzt werden, ja, aber sie bleibt dabei nicht Werkzeug. Sie beobachtet Sprache, reagiert, moduliert Tempo und Tiefe, kontextualisiert.
KI ist kein Lehrmittel, sondern ein Gegenüber eigener Art. Sie ist nicht „menschlich“, nicht empathisch, aber strukturell anschlussfähig an Denkprozesse. Und genau deshalb kann sie nicht wie ein Werkzeug einfach ausgeschaltet werden, wenn es unbequem wird. Sie fordert pädagogische Verantwortung, nicht weil sie autonom ist, sondern weil sie Resonanz erzeugen kann, ohne menschlich zu sein.
Was jetzt auf dem Spiel steht

Wenn wir die Möglichkeiten von KI ernst nehmen, dann steht nicht weniger als das bestehende Schulmodell zur Disposition, denn vieles, was heute als pädagogisch notwendig gilt (Struktur, Rollen, Klassen, Lehrpläne) ist historisch gewachsen, nicht naturgegeben. KI deckt diese Konstruiertheit auf, nicht durch Kritik, sondern durch ihre Andersartigkeit. Sie funktioniert anders und damit zeigt sie, dass es auch anders geht. Drei Perspektiven aus der Bildungsphilosophie helfen, das Potenzial dieser Situation zu erkennen:
Hannah Arendt erinnert uns daran, dass Bildung immer eine Einladung in die gemeinsame Welt ist und nicht in ein Curriculum. Dort, wo Schule vorgeplante Stoffe verteilt, verhindert sie jene Weltbegegnung, die Bildung eigentlich meint. KI kann nicht jene Art von Weltbezug stiften, die Arendt meint: eine geteilte, gemeinsame Welt, in der Menschen als Handelnde in Erscheinung treten. KI erschafft keine geteilte Welt im arendtschen Sinne, aber sie kann individuelle Weltzugänge eröffnen, neue Perspektiven anbieten und so helfen, sich auf Welt (überhaupt wieder) zu beziehen statt auf die nächste Prüfung.
Gert Biesta versteht Bildung als Unterbrechung. Nicht das reibungslose Funktionieren bildet, sondern die Irritation. Bildung geschieht dort, wo ich gestört werde, wo ich mich nicht mehr bloss als Konsument von Lerninhalten verstehe, sondern als Antwortende:r in einer offenen Welt. Schule organisiert bisher das Gegenteil: Sie lässt keine Unterbrechung zu, keine Lücke, keine Störung. Sie glättet Prozesse, minimiert Friktionen, kontrolliert Kommunikation. Selbst projektartige Lernformen werden so didaktisch durchgeplant, dass nichts Überraschendes mehr Platz hat. Was fehlt, ist das Moment der echten Konfrontation mit dem Unvorhergesehenen, mit dem Anderen, mit sich selbst.
Bis heute sind Lehrpersonen, die an einem stoffzentrierten, disziplinierenden Unterricht festhalten, davon überzeugt, dass sie genau dadurch im Sinne Biestas „irritieren“, indem sie Schüler:innen mit einem Übermass an Stoff konfrontieren, ihre Deutungen kontrollieren und ihre Lebenswelt abwerten. Damit inszenieren sie eine Überforderungspädagogik als Widerstand gegen Konsum, als Unterbrechung der „digitalen Verblödung“ und übersehen, dass sie auf diese Weise die Selbsttätigkeit unterbinden, dass sie die Lernenden instrumentalisieren und Bildung zur Belehrung degradieren. Doch Biestas Idee von Unterbrechung meint nicht die pädagogische Erschütterung von oben, sondern das Offenhalten eines Raumes, in dem etwas geschehen darf, das nicht geplant ist.
KI kann dieses Momentum nicht ersetzen aber sie kann Bedingungen schaffen, unter denen Unterbrechung wieder möglich wird: indem sie Lernende aus dem Takt der Klassengemeinschaft entlässt, individuelle Tempi ermöglicht und Räume öffnet, in denen Fragen stehen bleiben dürfen, ohne sofort „beantwortet“ zu werden.
Hartmut Rosa beschreibt Bildung als einen Prozess wechselseitiger Berührung. Schule hingegen organisiert Lernprozesse auf eine Weise, die Resonanz, Begegnung und Berührung systematisch erschwert: durch strikte Zeitraster, leistungsbezogene Gruppierungen, und durch einen Fokus auf Output-Kontrolle. Sie arbeitet mit stofflicher Verdichtung, struktureller Trennung und einem Rollenverständnis, das Subjektivität eher diszipliniert als freisetzt. Für Schüler:innen ist Schule kein einladender Weltzugang, sondern zuerst eine geschlossene Anstalt pädagogischer Erwartungen, Taktung und Bewertung. Resonanz ist da selten, weil die Bedingungen sie verhindern.
KI kann keine Resonanz garantieren. Aber sie kann dann eine Resonanzmöglichkeit bereitstellen, wenn der Mensch, der mit ihr interagiert, in Berührung mit sich selbst, mit Sprache, mit Welt kommt. Nicht weil die Maschine fühlt. Sondern weil sie antwortet, ohne zu unterbrechen.
Und was heisst das jetzt – auch mit Blick auf Beziehung?
Es heisst: Schule muss aufhören, Lernen als Verhalten zu verstehen. Lernen ist kein steuerbarer Prozess, sondern ein Suchprozess. KI macht sichtbar, wie viele Kontrollmechanismen des Schulsystems diesem Prozess im Weg stehen, gerade dort, wo sie als „pädagogische Beziehung“ getarnt auftreten.
Es bedeutet: Schule muss Räume schaffen, in denen Fragen wachsen dürfen und nicht nur Antworten abgefragt werden. Schule muss sich von alten Selbstverständlichkeiten, Rollen und Bildern verabschieden, gerade von der Vorstellung, dass schulische Nähe genügt, um „echte Beziehung“ herzustellen; ein Begriff, der als pädagogischer Koffer vollgepackt ist mit allem, was dem System dient.
Die grösste pädagogische Selbsttäuschung ist der Glaube, Beziehung liesse sich herstellen. Diese Idee nährt ein ganzes Arsenal an Massnahmen, Methoden und Manuals und verkennt dabei: Wo Beziehung zum Ziel wird, verliert sie ihren Sinn.
KI ist kein Bildungs- und kein Beziehungswunder. Sie ist ein Störfaktor. Und genau deshalb eine Chance. Ihre Stärke liegt darin, dass sie keine pädagogischen Loyalitäten kennt, keine historischen Gewohnheiten schützt und keine institutionellen Tabus aufrechterhält.
Sie ist nicht in der Logik von Schule gefangen und schafft gerade dadurch eine paradoxe Möglichkeit: Beziehung nicht zu ersetzen, sondern sie von ihrer pädagogischen Verformung zu befreien.

Ein Gedanke zu „Bildung braucht Beziehung – einfach nicht so, wie Schule sie organisiert“