Wissen trägt nicht. Und wir sollten aufhören, es zu schleppen

Ein Blogpost über das Ende der Speicher-Illusion und die Entdeckung von Wissen als Handlung

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1. Der Rucksack als Symptom

„Wir müssen unseren Kindern einen gut gefüllten Rucksack mitgeben.“ Dieser Satz wird gern gesagt, wenn es um Schule geht. Die Rede vom Wissensrucksack, inzwischen auch vom Kompetenzrucksack, klingt nach Fürsorge, nach Verantwortung, nach Zukunftssicherung. Doch diese Metapher ist kein stimmiges oder hilfreiches Bild. Sie ist ein Symptom. Sie steht für ein mechanistisches, tief verankertes Missverständnis dessen, was Wissen ist und wie Bildung funktioniert.

Vielleicht fällt es uns gerade in der Schweiz besonders schwer, diese Metapher loszulassen, denn der Rucksack ist hier nicht nur ein Symbol für Schulbildung, sondern tief verwurzelt in der Kultur der Bergler. Niemand bricht zu einer Bergtour oder zu einem „Schuelreisli“ auf, ohne einen gut gefüllten Rucksack: mit Proviant, Thermosflasche, Schokolade, vielleicht sogar mit einem Sackmesser. Das Schönste am Wandern ist nicht selten die Pause, in der man auspackt, was man bei sich trägt. Kein Wunder also, dass dieses Bild auch in der Schule so fest verankert ist, selbst wenn es pädagogisch längst in die Irre führt.

Die Vorstellung dahinter: Lehrer:innen schleppen „Wissen“ an, Schüler:innen tragen es mit sich fort. Später werden sie es brauchen und kramen es dann hervor. Doch dieser scheinbar logische Vorgang zerfällt, sobald ich ihn erkenntnistheoretisch oder bildungstheoretisch ernst nehme: Wissen ist kein Vorrat. Wissen ist kein Besitz. Wissen ist kein Gepäck.


2. Die alte Speicherillusion

Die Rucksackmetapher lebt von einer Illusion: dass Wissen gespeichert werden kann. Diese Illusion ist nicht neu. Schon im vordigitalen Zeitalter galt das Buch als Speicher, das Archiv als Schatzkammer, das Curriculum als Wissensinventar. Alles, was niedergeschrieben, abgelegt, kategorisiert war, bekam epistemischen Glanz. Es galt als objektiv, gesichert, überzeitlich wahr.

Doch genau das war der Fehler: Was wir für Wissen halten, ist in Wahrheit strukturierte Information. Erst der Mensch, der liest, deutet, verknüpft, interpretiert, erst der Akt der Bezugnahme, des Verstehens, des Anwendens macht aus Information überhaupt etwas, das als Wissen gelten kann.

Diese Unterscheidung wurde über Jahrhunderte hinweg übersehen – oder bewusst ignoriert. Sie wirkt bis heute fort: in Lehrplänen, in Prüfungen, in der Idee, dass Lernen eine Anreicherung sei. Doch sie ist epistemologisch längst überholt.


3. Die digitale Entbindung vom Tragen

Mit der Digitalisierung änderte sich etwas Grundlegendes: Information wurde ubiquitär. Statt Bücher zu schleppen, greifen wir heute in Sekunden auf gigantische Datenmengen zu. Der Mensch ist nicht mehr Speicher, sondern Navigator. Er muss nicht mehr behalten, sondern finden, prüfen, verknüpfen, bewerten.

Die Notwendigkeit, Information zu „tragen“, fällt weg. Der Rucksack bleibt leer. Doch anstatt Erleichterung zu verspüren, klammern sich viele an die alte Speicheridee. Vielleicht, weil sie mit Sicherheit verknüpft ist. Vielleicht, weil sie Ordnung verspricht in einer Welt, die sich zunehmend verflüssigt. Vielleicht, weil sie ein Gefühl von Kontrolle aufrechterhält.

Doch diese Kontrolle ist trügerisch, denn sie verkennt, worum es heute tatsächlich geht: nicht um das Haben von Wissen, sondern um die Kunst des Wissenmachens.


4. Die Rolle von KI als epistemischer Partner

Spätestens mit dem Aufkommen grosser Sprachmodelle wie ChatGPT wird klar: Der Mensch ist nicht mehr allein im Denken. KI-Systeme unterstützen uns beim Strukturieren, Vergleichen, Erklären, Hypothesenbilden. Sie helfen nicht nur beim Informationszugriff, sondern zunehmend auch bei der Wissensproduktion selbst.

Das bedeutet nicht, dass Maschinen denken wie Menschen. Es bedeutet: Wer heute noch glaubt, Bildung bestehe darin, möglichst viel im Kopf zu behalten, ignoriert die Realität einer Welt, in der kognitive Assistenzsysteme jederzeit zur Verfügung stehen.

Der neue Bildungsauftrag ist nicht, den Rucksack besser zu packen, sondern den Umgang mit der radikalen Fülle an Information zu erlernen und gleichzeitig die Tatsache zu akzeptieren, dass der Rucksack leer bleibt, weil er das falsche Modell ist. Das falsche Skript, das falsche Konzept, das falsche Mindset. Information ist so wenig ein „Inhalt“ wie Wissen oder Kompetenz:

Lerninhalte können nicht wirklich Inhalte von Lernen sein, weil das Verb „Lernen“ einen Prozess beschreibt und Prozesse haben keine Inhalte. Flaschen haben Inhalte. Solch gegenständliches Denken tut dem Begriff und der Vorstellung des Lernens einen Zwang an, der ihm nicht gebührt, weil er seine Möglichkeiten einschränkt. Wer von Lerninhalten spricht, spricht zumindest ungenau und verschleiert dadurch jenen unheimlichen Zweck der „Wissensvermittlung“, der davon ausgeht, dass „Inhalte“, die in einem Lernprozess präsentiert werden, durch „Lernen“ irgendwo hin transportiert werden können.

Christoph Schmitt, in: Bildung auf Augenhöhe, Bern 2013.

Der Reflex, den Rucksack nun mit „Kompetenzen“ oder „Haltungen“ zu füllen, ist verständlich, aber trügerisch. Was es braucht, ist kein neuer Inhalt im alten Behälter, sondern ein neues Verständnis:

Bildung als Fähigkeit zur Orientierung in einer Welt voller Informationen, und zwar situativ, kontextbezogen, gemeinsam ausgehandelt. Nicht was wir tragen zählt, sondern wie wir uns bewegen: wie wir uns in einer überbordenden Informationslandschaft zurechtfinden, sie bewerten, strukturieren und daraus Sinn erzeugen. Denn es geht heute nicht mehr darum, Inhalte mit sich zu tragen, sondern darum, fähig zu sein, in der Bewegung Bedeutungen zu schaffen: im Moment, im Kontext, im Dialog. Es geht darum, fähig zu werden, aus dem Offenen heraus zu denken, nicht aus dem Vorrat.


5. Der psychologische Widerstand

Warum halten so viele Menschen an der Idee fest, dass Gelerntes etwas ist, das ich mit mir trage? Vielleicht, weil diese Vorstellung tief verankert ist in unseren Bildungsbiografien. Vielleicht, weil sie ein Gefühl von „Gewappnetsein“ vermittelt. Vielleicht auch, weil sie mit Identität verknüpft ist: Ich bin, was ich weiss.

Und vielleicht auch, weil die Rucksack-Metapher untrennbar mit einem anderen kulturellen Narrativ verbunden ist: Lernen muss weh tun. In der Volksschule und auch darüber hinaus gilt noch immer: Lernen ist nur dann „richtig“, wenn es mit Anstrengung, Disziplin, Schweiss und Mühe verbunden ist. Der volle Rucksack symbolisiert genau das: sichtbare Last, sichtbarer Fortschritt, sichtbare Leistung. Wer lernt, muss tragen.

Ein weiteres, besonders hartnäckiges Vorurteil ergänzt dieses Bild: Ein Mensch muss erst etwas wissen, bevor er etwas tun kann. Dieses Denken stellt das Tun unter das Wissen, es erzeugt eine Wartehaltung und verhindert die Erkenntnis und die Erfahrung, dass Lernen durch Handeln geschieht. Gerade hier liegt der zentrale Irrtum: Wissen entsteht nicht vor dem Tun, sondern im Tun, im Kontext, im Kontakt mit der Welt.

Und noch ein gewichtiges Vorurteil erschwert und das Lernen:

Die Vorstellung von Lernen als linearem, stufenweise aufbauendem Prozess ist bis heute das Fundament schulischer Organisation. Lehrpläne basieren auf Progression: von einfach zu komplex, von Grundlagen zu Anwendungen.

Unterrichtseinheiten folgen dem Prinzip der methodischen Reihe. Schuljahre bauen aufeinander auf wie Stockwerke. Prüfungen messen Reproduktion entlang von Stoffeinheiten. Diese Struktur wirkt auf den ersten Blick evidenzbasiert: Menschen lernen Schritt für Schritt.

Doch genau das ist eine Illusion. Lernen verläuft nicht in gleichmässigen Etappen. Es verläuft nicht synchron, nicht planbar, nicht gleichmässig, nicht linear. Menschen lernen mäandernd, rhythmisch, unterschiedlich schnell, rekursiv, fragmentarisch und oft gegen die Abfolge schulischer Logiken.

Das ist kein Anzeichen von ADHS. Es ist auch kein Signal für das Vorliegen einer Lernstörung. Wir Menschen lernen so.

Die Annahme, dass Lernen wie ein Haus gebaut werden müsse (erst das Fundament, dann die Wände, dann das Dach), ist pädagogisch wirksam aber kognitiv irreführend. Die Metapher vom Hausbau verstellt den Blick auf das, was Lernen tatsächlich ist: ein Prozess der Aneignung von Welt. Ungleichzeitig, unvorhersehbar, subjektiv. (Textquelle)

Wir dürfen also einiges verlernen: dass Lernen einem linearen Aufbau und Prozess folgt; dass Kompetenz heisst, viel zu wissen; dass Bildung ein Besitz ist; dass Wissen eine Frage von Speichervermögen ist.

Wissen heisst: aus Informationen im Kontext von Problemen Bedeutung zu erzeugen. Und das ist nichts, was ich habe. Es ist etwas, das ich mache. Immer wieder. Immer neu.


6. Schluss: Jenseits des Rucksacks

Die Rucksack-Metapher ist nicht nur falsch. Sie ist gefährlich. Denn sie lenkt uns ab von dem, was heute wirklich gebraucht wird:

  • epistemische Agilität als die Fähigkeit, sich in einer unübersichtlichen, sich permanent verändernden Informationslandschaft zu orientieren, Perspektiven zu wechseln und flexibel Bedeutungszusammenhänge zu schaffen;
  • kritische Reflexion als die Kompetenz, Information nicht nur aufzunehmen, sondern zu hinterfragen, ihre Herkunft, Gültigkeit und Relevanz einzuschätzen – und daraus begründete Urteile zu bilden;
  • kollektive Wissensproduktion als eine soziale Praxis, in offenen und unsicheren Situationen gemeinsam Bedeutung zu erzeugen, Fragen zu formulieren, Hypothesen zu entwickeln und Orientierung zu schaffen.

Bildung beginnt nicht mit dem Einpacken, sondern mit dem Aufbrechen. Nicht der Rucksack hilft uns in die Zukunft, sondern der Mut, ihn abzulegen.

Und bevor wir fragen, was wir Lernenden stattdessen mit auf den Weg geben, sollten wir uns selbst fragen: Was bedeutet das für uns, die Lehrenden? Auch wir sind Lernende. Wir sollten es heute in erster Linie sein. Das Loslassen der Rucksack-Metapher ist ein eigener Lernprozess. Einer, der nicht schwer sein muss, sondern der gerade darin liegt, etwas leichter zu machen. Und genau das fällt uns schwer: Leichtigkeit zuzulassen. Paradox, aber wahr.

Verhältnisse klären.

Statt eines gepackten Rucksacks braucht es ein anderes Bild: Bildung als Beweglichkeit. Nicht das Gewicht auf dem Rücken entscheidet, sondern die Fähigkeit, sich mit leichtem Gepäck durch unbekanntes Gelände zu bewegen, sich neu zu orientieren, Bedeutung zu erzeugen und gemeinsam Lösungen zu entwickeln.

Wir geben also keine Last mit, sondern eröffnen Möglichkeitsräume. Wir trainieren keine Speicher, sondern wecken Neugier, Dialogfähigkeit und Urteilsvermögen. Nicht das Tragen ist entscheidend, sondern das Erzeugen, Beteiligen, Verantworten.

Das ist kein Mangel. Es ist ein neues Bildungsversprechen. Eines, das der Welt, in der wir leben, gerechter wird.

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Autor: Christoph Schmitt

Bildungsaktivist | LinkedIn Top Voice | Colearner | TEDx Speaker | Bildungsdesigner | Bildungsethiker | systemischer Coach & Supervisor | Rituals Expert | Blogger | Nörgler | Ressourcenklempner. Ich unterstütze alles, was mit Aus- und Aufbrechen aus Beschulung zu tun hat. Für Jung UND Alt. Meine Kernkompetenz: Entwicklung ganzheitlich begleiten, moderieren, inspirieren.

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