In Gesprächen mit Lehrpersonen und in der öffentlichen Debatte begegnen mir immer wieder ähnliche Bedenken im Zusammenhang mit KI und Schule. Diese Einwände greifen pädagogische Überzeugungen auf, die über Jahrzehnte hinweg das Selbstverständnis von Schule und Unterricht geprägt haben.
Sie verdienen eine differenzierte Auseinandersetzung. Dadurch wird ihre Argumentationslogik sichtbar und ihre impliziten Voraussetzungen kommen zu Tage. Viele der Einwände gegen KI enthalten nämlich Denkfehler, die uns daran hindern, die Potenziale von KI ernsthaft in den Blick zu nehmen.
Ich habe mir vier der stärksten Einwände ausgesucht, denen ich jeweils einen gesonderten Blog Post widme. Was daraus entsteht, ist keine Verteidigung der KI, sondern ein Plädoyer für ein genaueres Nachdenken und Sprechen über Bildung und Lernen. Künstliche Intelligenz kann uns nämlich dabei helfen, das Lernen von Menschen neu zu verstehen.
Der erste Einwand lautete: „Ohne klare Reihenfolge wird Lernen beliebig. KI zerstört die bewährte Lernlogik.“ Er ist hier abrufbar. Jetzt folgt der zweite:
Ohne Orientierung verlieren sich Kinder. KI überfordert sie – gerade die Schwächeren.
Kinder brauchen klare Strukturen. Sie brauchen Führung, nicht unendliche Möglichkeiten. Lernen ist nicht einfach nur Entdecken. Es muss geplant, gesteuert, geführt werden. Sonst verlieren sich die Kinder und Jugendlichen in der Vielfalt der Möglichkeiten. Gerade schwächere Kinder sind auf klare Abläufe, Ziele und Leitplanken angewiesen. KI aber wirft sie ins Chaos: zu viel Information, zu wenig Orientierung, keine Linie. Das überfordert sie und entwertet unsere pädagogische Arbeit.
In diesem Einwand wird deutlich, wie stark sich die Debatte um KI mit grundlegenden Annahmen über Lernen und Steuerung verschränkt. Die Kritik an KI ist oft gar keine spezifische Kritik an der Technologie selbst, sondern Ausdruck einer tieferliegenden Verunsicherung: dass Lernen ausserhalb institutioneller Struktur nicht gelingen könne. KI bringt diese Verunsicherung ans Licht, weil sie Lernprozesse ermöglicht, die sich nicht an Schulrhythmen, Stoffplänen oder normierten Zielsetzungen orientieren und dadurch als „strukturlos“ erscheinen.
Das fordert uns heraus, unser Verständnis von Struktur neu zu denken, weil hier ein zentrales Thema schulischer Praxis berührt wird: Die Sorge um Überforderung durch Offenheit.
Insbesondere „schwächeren“ Kindern wird gerne unterstellt, sie seien auf feste Strukturen und eindeutige Führung angewiesen. Doch diese Annahme ist problematisch. Womöglich projizieren Lehrpersonen damit ihre eigene Verunsicherung angesichts offener Lernsettings auf jene Kinder, die im klassischen Unterrichtsformat am wenigsten zurechtkommen.
Was wie Fürsorge erscheint, ist dann eine Verschiebung der eigenen Kontrollbedürfnisse, kaschiert durch pädagogische Sprache. Gerade die sogenannten „schwächeren Schüler:innen“ sind dann in Wirklichkeit gar nicht schwach, sondern überfordert durch ein System, das sie zu Objekten macht. Was also wie ein Schutzversprechen klingt, ist nicht Ausdruck von Einsicht ins Lernen, sondern Teil eines Steuerungsparadigmas, das Lernen in vorhersehbare Bahnen zwingen will.
Nota bene: Was als Mangel oder Symptom eines Kindes oder einer Jugendlichen erscheint, kann in Wahrheit eine berechtigte Reaktion auf ein System sein, das sich dem Wesen des Lernens verweigert.
Jedenfalls prägt diese tief eingeschriebene Logik – Lernen muss kontrolliert, gesteuert und abgesichert werden – unser Bild von Schule bis heute. Und genau diese Logik wird durch KI unterlaufen, denn künstliche Intelligenz folgt nicht den Prinzipien pädagogischer Kontrolle. Sie kennt keine Taktung, keine standardisierten Ziele, keine institutionelle Struktur.
Deshalb entzieht sie sich dem Zugriff der traditionellen Pädagogik: Sie lässt sich nicht einpassen in ein System, das Lernen von aussen definiert und kontrolliert. Sie entzieht sich der pädagogischen Fremdzuschreibung, weil sie Lernen nicht von aussen ordnet, sondern weil sie von innen anschliesst an Fragen, Interessen, Kontexte. Das verändert alles. Es wird deutlich:
Gerade der pädagogische Zugriff auf das Lernen, so gut er gemeint sein mag, ist Teil des Problems. Indem er Ordnung, Führung und Struktur gewährleisten will, erzeugt er zuerst ein bestimmtes Bild von Lernen, das dann als „selbstverständlich“ oder „alternativlos“ erscheint, obwohl es erst aus dieser Perspektive heraus entstanden ist.
In der Folge erscheint plausibel, was zwar systemkonform ist, aber nicht lernlogisch begründet. Selbstverständlich sucht Lernen Orientierung – aber gerade darin liegt seine Dynamik: im Suchen, nicht im Finden. Wer „Orientierung gibt“, unterbricht diesen Prozess. Denn sobald von aussen festgelegt wird, woran sich Lernende zu orientieren haben, verliert das Lernen seinen inneren Impuls. Dann wird nicht mehr gesucht, sondern gefolgt.
Das Bedürfnis nach Struktur wird so zur Fremdbestimmung und nicht zur Unterstützung. Lernen braucht nicht mehr Vorgaben, sondern Räume, in denen sich Beziehung, Resonanz und Selbstentfaltung ereignen können. Denn Selbstbestimmung, Selbstermächtigung und Selbstverantwortung sind kein Ausdruck von Strukturferne, sie sind Ausdruck eines Lernens, das die Richtung aus sich selbst entwickelt.
Künstliche Intelligenz wiederum stellt die systemkonforme Ordnung und Struktur in Frage, nicht weil sie Chaos erzeugen würde, sondern weil sie eine andere Form von Ordnung ermöglicht: eine Ordnung, die aus dem Interesse, aus dem Moment und aus der Frage heraus entsteht. Sie zwingt uns nicht in die Beliebigkeit, sondern zu einem Perspektivwechsel.
Das eigentliche Missverständnis: Schule sichert Ordnung, nicht Lernen
Die Angst vor der Beliebigkeit des Lernens führt hingegen zu jenem Missverständnis, das für Schule bis heute handlungsleitend ist: dass nämlich Lernen nur dann wirklich (wirklich) gelingt, wenn es durch klare Vorgaben, Ziele und Raster kontrolliert wird. Dabei wird verkannt, dass wir damit gar nicht über einen Bedarf lernender Menschen sprechen, sondern über das Selbstverständnis von Schule, die sich anmasst, über das Lernen bestimmen zu können. Lernlogisch sind solche Vorgaben und Strukturen nicht notwendig. Sie entspringen der Organisationslogik; sie sind Ausdruck eines institutionellen Bedürfnisses nach Steuerung, nicht eine Folge der Einsicht in Bildungsprozesse.

Das Missverständnis liegt also in der Verwechslung von Struktur mit Sinn: Die institutionelle Ordnung dient der Steuerbarkeit, nicht etwa weil dies dem Lernen dienen würde, sondern weil das System sich so selbst erhalten kann. Es geht nicht um die genuine Lernleistung eines Menschen, nicht um die Fähigkeit, Fragen zu entwickeln, Bedeutung zu erschliessen oder Weltbezüge zu gestalten. Es geht um Reproduzierbarkeit, Vergleichbarkeit, Kontrolle.
Nicht der Mensch mit seiner Lerndynamik steht hier im Zentrum, sondern die Organisation mit ihrem Bedürfnis nach Ordnung. Dass dies verwechselt wird, ist nicht zufällig. Es ist der systemische Kern schulischer Organisation.
KI macht diese Verwechslung sichtbar, und genau darin liegt ihr transformatives Potenzial, denn sie folgt nicht der Logik institutioneller Steuerung, sondern orientiert sich an der Bewegung des Subjekts. Sie zeigt: Lernen geschieht nicht wegen der schulischen Ordnung. Indem KI sich dem Steuerungsanspruch entzieht, macht sie deutlich, dass das bisherige Verständnis von Lernen als plan- und kontrollierbarer Prozess nicht nur technisch überholt ist, sondern dem Lernen selbst widerspricht.
Diese Entkopplung von Lernen und Organisation eröffnet einen neuen Möglichkeitsraum: Sie macht sichtbar, dass das System Schule nicht mehr Voraussetzung für Bildung ist, sondern ein Hindernis.
Lehrpersonen befürchten, dass zu viel Offenheit im Lernen zu Beliebigkeit führt. Doch diese Sorge beruht auf diesem Missverständnis: Es setzt Offenheit mit Orientierungslosigkeit gleich und assoziiert Geschwindigkeit automatisch mit Oberflächlichkeit. Auch die einfache Zugänglichkeit von Information wird rasch mit einem Bedeutungsverlust verwechselt. Doch weder Tempo noch Verfügbarkeit sagen etwas über Tiefe oder Sinn.
Entscheidend ist nicht, wie schnell etwas zugänglich ist, sondern ob es im Subjekt etwas berührt, etwas auslöst, etwas verbindet. KI steht also nicht für Beliebigkeit, sondern für radikale Anschlussfähigkeit. Sie ersetzt nicht Tiefe durch Tempo, sondern schafft neue Möglichkeiten für sinnvolle Beziehungen zur Welt.
Zwischen Plan und Resonanz: Ein Perspektivwechsel auf Struktur
- Struktur ist nicht gleich Hierarchie. Orientierung entsteht im Prozess des Lernens selbst. Sie muss nicht von aussen vorgegeben werden. Auch Selbstorganisation kann strukturiert sein. Auch ein persönliches Interesse kann eine starke Richtung geben. Das bedeutet nicht, dass alle Kinder bereits über vollständige Selbststeuerung verfügen. Aber es heisst, dass die Fähigkeit zur Selbstorganisation nicht gefördert wird, indem wir sie durch äussere Führung ersetzen sondern indem wir Räume öffnen und halten, in denen sie entstehen kann. KI bietet dafür eine entscheidende Voraussetzung: Sie unterwirft Lernende nicht einem vorgegebenen Pfad, sondern ermöglicht ihnen eigene Wege zu kreieren, durchaus begleitet, aber nicht gelenkt.
- Lernziele sind nicht naturgegeben. Was als Lernziel definiert wird, ist bis heute nicht Ergebnis freier gesellschaftlicher Aushandlung, sondern das Resultat machtvoller institutioneller Setzungen. Im deutschsprachigen Raum etwa werden Lernziele von zentralen Behörden und Institutionen definiert und verbindlich festgelegt. Wer diesen Rahmen vorgibt, entscheidet, was als Bildung zählt und entwirft damit nicht ein Bild des Lernens, sondern ein Bild der Steuerung. Die pädagogische Realität besteht dann nicht in der Beziehung zur Welt, sondern im Versuch, vorgegebene Ziele mit Bedeutung aufzuladen. Die Kunst besteht dann nicht darin, mit Welt in Beziehung zu treten, sondern darin, Lernziele als bedeutsam zu verkaufen. Das Subjekt wird aufgerufen, das zu wollen, was es wollen soll. Das ist eine Simulation von Bildung, die Steuerung mit Selbstbildung verwechselt.
- Nicht KI ist beliebig, sondern die Logik vieler Lehrpläne. Lernpläne erscheinen häufig geordnet, weil sie geplant sind. Doch Planung allein erzeugt keine Bedeutung. Relevanz entsteht nicht durch das Setzen von Zielen, sondern durch das, was im Lernprozess Resonanz erzeugt. Dass Lehrpläne beliebig wirken können, liegt nicht an mangelnder Struktur, sondern an ihrer fehlenden Anschlussfähigkeit für die Lernenden. Sie orientieren sich an vorstrukturierten Vorgaben statt an erlebter Bedeutsamkeit. Damit sind sie weniger Ausdruck pädagogischer Einsicht als Ausdruck eines Systems, das Steuerung mit Bildung verwechselt.
- Kindliche Entwicklung ist nicht linear steuerbar. Entwicklung folgt keinem Plan. Wer vorgibt, Kinder gezielt zu bilden, überschätzt nicht nur seine Macht, sondern verfehlt das Subjekt. Gerade diese Fehleinschätzung ist Teil einer systemischen Verirrung, die seit der Gründung des modernen Schulsystems tief verankert ist, und die dieses System auf Kosten des Lernens stabilisiert.
Der zweite Einwand unterstellt, dass pädagogische Planung automatisch zu sinnvoller Struktur führt. Doch Struktur ist kein Wert an sich. Sie ist nicht Ausdruck von Einsicht in Lernprozesse, sondern Ausdruck eines institutionellen Bedürfnisses nach Steuerbarkeit. Sie ist eine Form der Selbstreferenz, nicht der Lernerkenntnis. Deshalb ist sie auch nicht neutral. Sie will nicht nur Ordnung stiften, sie behauptet, dass diese Ordnung dem Lernen diene. Und genau das ist der Denkfehler: Die Struktur des Systems wird verwechselt mit einer Struktur des Lernens.
KI macht diese Verwechslung sichtbar, weil sie Ordnung nicht durch Planung herstellt, sondern durch Anschlussfähigkeit: Ein Kind interessiert sich für Vulkane. In einer traditionellen Unterrichtssituation müsste es warten, bis das Thema im Lehrplan vorgesehen ist oder hoffen, dass die Lehrperson spontan darauf eingeht.
Eine KI hingegen reagiert sofort. Das Kind stellt eine Frage, bekommt eine verständliche, anschlussfähige Antwort, stellt die nächste Frage, entwickelt Hypothesen, forscht weiter. Die Struktur dieses Lernprozesses entsteht nicht durch ein Curriculum oder eine externe Steuerung, sondern aus der Dynamik des eigenen Interesses. KI unterstützt diesen Prozess, indem sie jederzeit, ohne Vorbedingungen, anschlussfähig reagiert und so die Eigenlogik des Lernens stärkt.
Sie zeigt damit, dass Struktur nicht von aussen vorgegeben sein muss, sondern im Lernprozess selbst entstehen kann. Orientierung ist nicht etwas, das man braucht, um zu lernen. Sie entsteht im Lernen. KI eröffnet die Möglichkeit, dass diese Orientierung nicht durch Raster oder Planung erzeugt wird, sondern durch Beziehung, Interesse, Resonanz; durch lebendige Prozesse also, die sich im Vollzug des Lernens selbst strukturieren.

Was Schule übersieht: Vier notwendige Unterscheidungen
1. Struktur ist nicht gleich Bedeutung
Die institutionelle Struktur von Schule erzeugt Ordnung, aber diese Ordnung erzeugt nicht automatisch Sinn, weder für die Lernenden noch für das Lernen selbst. Sie dient primär der Steuerung und Stabilisierung des Systems, nicht der Ermöglichung individueller Sinnbildung. Diese Form der Ordnung schafft Orientierung im organisatorischen, nicht im bildenden Sinne. Sie sorgt für Abläufe, nicht für Weltbezüge. Sinn, Bedeutung und echte Lernmotivation entstehen nicht durch äussere Vorgaben, sondern durch Resonanz und das Erleben von Welt. Diese Prozesse lassen sich nicht herstellen, sondern müssen sich entfalten können. Wenn Schule dennoch davon ausgeht, dass Ordnung zu Sinn führt, verwechselt sie ihre eigene Funktionslogik mit den Bedingungen echten Lernens. Die Ordnung entsteht im System, Bedeutung aber entsteht im Subjekt. Wenn Schule vorgibt, was „gutes Lernen“ sei, dann verwechselt sie Steuerbarkeit mit Bildungsqualität. Und damit stützt sie sich auf einen Denkfehler: dass Struktur bereits etwas über das Lernen aussagt. Dabei sagt sie nur etwas über die Schule aus: über ihren institutionellen Anspruch, Lernen steuerbar zu machen.
2. Selbststeuerung ist keine Abwesenheit von Struktur
Selbststeuerung bedeutet nicht, dass Lernende ohne jede Form von Orientierung agieren. Sie bedeutet, dass die Orientierung nicht von aussen vorgegeben wird, sondern im Lernprozess selbst entsteht; durch Interesse, Beziehung, Resonanz. Entscheidend ist: Diese Form von Orientierung ist keine Anleitung, sondern ein innerer Kompass. Dabei geht es nicht darum, dass automatisch Sinn oder Bedeutung entsteht, weder durch KI noch durch äussere Struktur.
Es geht vielmehr darum, dass die dialogische Dynamik des Lernens selbst jene Ordnung hervorbringen kann, die anschlussfähig ist, weil sie sich an der subjektiven Bewegung orientiert.
Was das heisst? Künstliche Intelligenz funktioniert nicht nach den Vorgaben institutioneller Bildung: Sie plant nicht voraus, sie prüft nicht nach, sie denkt nicht in Lehrplänen. Deshalb kann ich ihr auch nicht jene Rolle zuweisen, die Schule typischerweise für Lehrpersonen vorsieht: das Lernen von aussen zu strukturieren und zu bewerten.
KI widersetzt sich genau diesem Zugriff: Sie ordnet das Lernen nicht von aussen, sondern reagiert auf das, was im Subjekt selbst lebendig ist. Und genau deshalb lässt sie sich nicht „pädagogisch besetzen“. Sie bleibt offen, anschlussfähig, unberechenbar aus Sicht der Schule. Das ist keine Schwäche, sondern ihr stärkster Impuls zur Veränderung.
KI ersetzt den Lernprozess nicht, sie begleitet ihn, mit ihrer Anschlussfähigkeit an das Lernen des Kindes. Ein Beispiel: Wenn ein Kind sich für Pflanzen interessiert, fragt die KI nicht: „Was steht im Biologie-Lehrplan?“ – sondern: „Was interessiert dich an Pflanzen?“ Darauf aufbauend bietet sie Impulse, Ressourcen, Perspektiven, nicht zur Zielerreichung, sondern zur Orientierung im eigenen Prozess. Das Kind könnte zwar auch eine Lehrperson fragen, aber diese hat in der Regel eine vorstrukturierte Vorstellung davon, was nun zu geschehen hat. Die KI hat das nicht. Und gerade darin liegt ihr Potenzial: nicht im Wissen, sondern in der Offenheit.
3. „Schwächere Kinder“ sind nicht weniger lernfähig. Sie sind besonders verletzlich gegenüber einem System, das sie zu Objekten seiner Steuerung macht
Der Ruf nach Struktur wird oft mit einem vermeintlichen Schutz schwächerer Kinder begründet. Doch zuerst ist zu klären, womit oder wodurch diese Kinder überfordert sind. Nicht selten besteht die Überforderung darin, dass sie schlicht nicht gesehen werden in ihrer Lernlogik. Gerade sie brauchen keine Führung, sondern Vertrauen, Resonanz, Halt, und das bedeutet nicht Zwang, sondern Beziehung.
4. Lernen ist nicht Beliebigkeit, sondern subjektive Sinnbildung
Wenn Lernen nicht mehr fremdgesteuert wird, heisst das nicht, dass es beliebig wird. Es heisst, dass Bedeutung nicht mehr simuliert werden muss, sondern entstehen kann: in Weltbezügen, die vom Subjekt ausgehen, nicht vom Stoffplan.
KI entzieht sich dem System – und zeigt damit seine Grenzen auf
Künstliche Intelligenz ist kein pädagogisches Konzept, keine Reformidee und kein bildungspolitisches Programm. Gerade deshalb stellt sie die Schule so radikal infrage: Sie folgt nicht der Logik der Schule. Sie funktioniert nach anderen Prinzipien, und genau das macht sie zum Störfaktor im System.
KI entkoppelt Lernen von der Steuerung. Sie verlangt keine Gleichzeitigkeit, keine standardisierten Lernziele, keine Klassenzimmerlogik. Sie antwortet individuell, sofort, kontextbezogen, unermüdlich und orientiert sich am Bedürfnis der Lernenden, nicht an der Prüfungsordnung, nicht an der Fächerlogik, nicht an der Jahrgangstaktung, nicht an linearen Stoffverteilplänen. Sie folgt nicht der schulischen Ordnung, sondern der subjektiven Bewegung. Darin liegt das Potenzial: Sie stellt das System nicht in Frage, weil sie es angreift, sondern weil sie sich ihm entzieht. Sie funktioniert nach einer anderen Logik und zeigt damit auf, dass die bestehende Schulstruktur für gelingendes Lernen nicht mehr notwendig ist.
Gerade deshalb gerät Schule unter Druck. Denn die Gründe für ihre bisherige Form – Rhythmisierung, Jahrgangsdenken, Kompetenzraster – fallen aus technischer Sicht weg. Das ist keine Kritik an Schule, sondern eine Realität: KI braucht keine Organisation, um wirksam zu sein. Ihre Wirksamkeit entsteht im Moment des Fragens, dort, wo ein:e Lernende:r auf die Welt zugeht und nicht sofort auf institutionelle Rahmenbedingungen trifft.
Das ist ein Bruch mit der bisherigen Schulstruktur, denn dort entsteht Ordnung durch Planung, durch Regeln, durch administrative Vorgaben. KI hingegen antwortet nicht mit Vorgaben, sondern mit Resonanz. Sie erzeugt keine Ordnung im klassischen Sinn, sondern knüpft an das an, was im Lernenden lebendig ist.
KI erzeugt keine Ordnung im klassischen Sinn. Sie erzeugt Anschlussfähigkeit. Sie fragt nicht: „Was musst du als Nächstes lernen?“ Sondern: „Woran knüpfst du gerade an?“ Das ist keine Beliebigkeit, sondern dialogische Logik.
Wenn gute Praxis zur Ausnahme wird, stimmt das System nicht
Die Idee, dass Lehrpersonen genau das ermöglichen könnten, was hier beschrieben wird, nämlich individuelle Lernprozesse begleiten, Räume der Resonanz schaffen, Strukturen aufbrechen, ist theoretisch möglich oder richtig. Aber sie verkennt die Systemlogik.
Lehrpersonen arbeiten in einer Schule, die auf Taktung, Vergleichbarkeit und Steuerung basiert. Sie lässt womöglich hier und da Raum für offenes Lernen, aber sie schützt diesen Raum nicht als Institution. Sie lässt punktuell Raum für Beziehung, doch dieser wird durch Prüfungsdruck, vorgegebene Lehrmittel, Zeitvorgaben, Stoffpläne und administrative Vorgaben immer wieder untergraben. Was auf der einen Seite als bildungswirksam oder lernförderlich gilt, wird auf der anderen Seite durch die Systemlogik neutralisiert, nicht weil es an Engagement fehlt, sondern weil es strukturell nicht vorgesehen ist.
Wer mit tatsächlich offenen Lernformen arbeitet, tut das gegen die Ordnung und gegen die Struktur. Es bleibt die Ausnahme.
Es geht also nicht um engagierte Einzelpersonen, sondern um die Notwendigkeit, sich vom bestehenden System zu verabschieden, einem System, das gute Praxis nicht nur selten ermöglicht, sondern strukturell verunmöglicht. Das Problem liegt nicht im Mangel an Willen oder Können von Lehrpersonen, sondern in der Beschaffenheit der Schule selbst, die wir hinter uns lassen, wenn Lernen sich entfalten soll.
KI ersetzt nicht einfach eine gute oder schlechte Lehrperson. Sie ersetzt die Lehrperson in ihrer traditionellen, institutionell verankerten Rolle vollständig. Das betrifft nicht den Menschen, der Lernprozesse begleitet, nicht die Gemeinschaft, die trägt, nicht die Beziehung, die stärkt sondern jene spezifische Funktion der Lehrperson, die mit Planung, Kontrolle, Stoffverteilung und Steuerung betraut ist. Und genau diese Funktion wird durch KI obsolet. Nicht weil sie schlecht ausgeführt würde, sondern weil sie Ausdruck eines Verständnisses von Lernen ist, das sich überlebt hat.
Daraus erwachsen neue Anforderungen an die Professionen in der Schule. Es braucht keine Wissensvermittler mehr, sondern Ermöglicher:innen von Lernverantwortung, Beziehungsgestalter:innen, Raumhalter:innen für Subjektwerdung.
Vielleicht bleibt der Name, aber nicht das System
Wenn wir KI ernst nehmen, denken wir Schule neu: nicht mehr als Institution der Steuerung, sondern als Möglichkeitsraum für Selbstbildung. Nicht als Verteilzentrum von Wissen, sondern als Erfahrungsraum für eigenverantwortliche Weltbegegnung.
Die zentrale Aufgabe der Schule ist dann nicht mehr: „Wie vermittle ich Wissen?“, sondern: „Wie halte ich Räume offen, in denen Fragen wachsen können?“ Nicht mehr: „Wie führe ich Kinder zum Ziel?“, sondern: „Wie begleite ich sie dabei, Verantwortung für ihren eigenen Weg zu übernehmen?“
KI ist kein Ersatz für Beziehung, für Menschlichkeit, für Gemeinschaft. Sie ersetzt jenes System von Zwang, Gleichschritt und Taktung, das Lernen reguliert und zugleich begrenzt. Genau darin liegt ihre befreiende Kraft: Sie ermöglicht, Schule loszulassen und Bildung neu zu denken.
Was daraus entsteht, wird vielleicht noch Schule genannt werden. Vielleicht aber auch nicht. Entscheidend ist nicht der Name, sondern die Haltung: Ob wir bereit sind, die Institution zu verabschieden, um dem Lernen Raum zu geben.

Pinsel auf Papier und Karton. Zentrum Paul Klee, Bern.

2 Kommentare zu „Vier Einwände gegen KI in der Schule – und ihre Widerlegung. Teil zwei“