In Gesprächen mit Lehrpersonen, in Weiterbildungen, im Kollegium und in der öffentlichen Debatte begegnen mir immer wieder ähnliche Einwände gegen die Nutzung von Künstlicher Intelligenz im Bildungssystem. Diese Einwände greifen pädagogische Überzeugungen auf, die über Jahrzehnte hinweg das Selbstverständnis von Schule und Unterricht geprägt haben.
Sie verdienen eine differenzierte Auseinandersetzung, damit wir ihre Argumentationslogik sichtbar machen können, ihre impliziten Voraussetzungen offenlegen und sie einer kritischen Prüfung unterziehen. Denn viele dieser Einwände enthalten nicht nur berechtigte Sorgen, sondern auch Denkfehler, die uns daran hindern, die Potenziale von KI überhaupt ernsthaft in den Blick zu nehmen.
Ich habe mir vier der stärksten Einwände für diese Auseinandersetzung ausgesucht, denen ich jeweils einen gesonderten Blog Post widme.
Was daraus entsteht, ist keine Verteidigung der KI, sondern ein Plädoyer für ein genaueres Nachdenken über Bildung und Lernen. Künstliche Intelligenz kann uns nämlich dabei helfen, das Lernen von Menschen neu zu verstehen und Schule neu zu gestalten.
Erster Einwand: „Ohne klare Reihenfolge wird Lernen beliebig. KI zerstört die bewährte Lernlogik“
„Lernen funktioniert nicht chaotisch. Es braucht Reihenfolge. Das Kind muss zuerst das Einmaleins verstehen, bevor es Gleichungen lösen kann. Sprache lernt das Kind über Grammatik, nicht über Assoziationen. Kinder brauchen Struktur, sonst werden sie überfordert. Wer das Lernen dem Zufall überlässt, lässt sie im Stich.“
Dieser Einwand hat Gewicht. Er ist anschlussfähig an eingeübte und fachlich scheinbar gut begründete Annahmen über Lernen. Er wirkt neuropsychologisch plausibel, didaktisch vernünftig, gesellschaftlich bewährt. Deshalb ist er so tief in unseren pädagogischen Institutionen verankert.
Die Logik des Einwands, und was ihn so wirksam macht
Die Vorstellung von Lernen als linearem, stufenweise aufbauendem Prozess ist keine pädagogische Kuriosität. Sie ist das Fundament schulischer Organisation.
Lehrpläne basieren auf Progression: von einfach zu komplex, von Grundlagen zu Anwendungen.
Unterrichtseinheiten folgen dem Prinzip der methodischen Reihe. Schuljahre bauen aufeinander auf wie Stockwerke. Prüfungen messen Reproduktion entlang von Stoffeinheiten. Diese Struktur wirkt auf den ersten Blick evidenzbasiert: Menschen lernen Schritt für Schritt.
Doch genau das ist eine Illusion. Lernen verläuft nicht in gleichmässigen Etappen. Es verläuft nicht synchron, nicht planbar, nicht gleichmässig, nicht linear. Menschen lernen mäandernd, rhythmisch, unterschiedlich schnell, rekursiv, fragmentarisch und oft gegen die Abfolge schulischer Logiken.
Das ist kein Anzeichen von ADHS. Es ist auch kein Signal für das Vorliegen einer Lernstörung. Wir Menschen lernen so.
Die Annahme, dass Lernen wie ein Haus gebaut werden müsse (erst das Fundament, dann die Wände, dann das Dach), ist pädagogisch wirksam aber kognitiv irreführend. Die Metapher vom Hausbau verstellt den Blick auf das, was Lernen tatsächlich ist: ein Prozess der Aneignung von Welt. Ungleichzeitig, unvorhersehbar, subjektiv.
Die fünf Denkfehler hinter dem Einwand
- Lernen sei sequenziell. Tatsächlich ist Lernen nie auf eine einzige Reihenfolge angewiesen. Menschen steigen quer ein, springen zurück, knüpfen an Erlebtes an. Auch komplexe Themen lassen sich ohne Vorwissen verstehen, durch Neugier, Kontexte, Erzählung.
- Wissen sei substantiell. Die Vorstellung, dass man Wissen „besitzt“ wie ein Vorrat, der sich Schicht für Schicht aufbaut, ist kognitiv falsch. Wissen ist eine Aktivität, keine Substanz. Es entsteht im Moment seiner Anwendung, situativ, funktional, kontextbezogen.
- Reproduktion sei ein Zeichen von Verständnis. Wenn Menschen scheinbar dasselbe sagen oder schreiben, reproduzieren sie jedoch nicht identisch, sondern rekonstruieren unter veränderten Bedingungen. Auch Schauspieler rezitieren nicht „identisch“, sie aktualisieren Bedeutung im Spiel.
- Lernwege seien vorgegeben und Umwege problematisch. Diese Vorstellung geht von einem Zielweg aus, von dem man abweicht. Aber es gibt diesen Zielweg gar nicht. Lernen verläuft nicht auf Routen, sondern erzeugt seine eigene Struktur erst im Rückblick. Der Sinn des Lernweges entsteht durch Rückbezug auf eigene Erfahrung, nicht durch Befolgen eines Curriculums.
- Nur Aufbauwissen sei nachhaltiges Wissen: Gerade das Gegenteil ist der Fall. Wissen, das durch Fragen, Konflikte, biografische Bedeutsamkeit oder praktische Anwendung entsteht, ist deutlich nachhaltiger als Stoff, der „aufgebaut“ wurde. Denn: Was nicht bedeutsam war, wird auch nicht erinnert, egal wie linear es war.
Vier wichtige Klarstellungen
Menschen lernen nicht synchron. Lernprozesse verlaufen individuell, in unterschiedlichen Tempi, Rhythmen und Intensitäten. Sie lassen sich nicht vereinheitlichen oder parallelisieren.
Lernen ist keine Bewegung auf vorgezeichneten Bahnen. Es gibt keine Route, die vorher feststeht. Es gibt nur den Rückblick auf den Weg, den ich gegangen bin und die Bedeutung, die ich diesem Weg gebe.
Sinn entsteht nicht durch Stofffolge, sondern durch subjektive Konstruktion. Lernen ist kein Reproduzieren, sondern ein Weltverhältnis. Wer lernt, antwortet nicht auf einen Plan, sondern auf ein Problem, eine Irritation, eine Frage.
Das Gehirn entwickelt sich durch Bedeutung, nicht durch Wiederholung. Neurologisch bedeutsam ist nicht die Menge an Übung, sondern der Grad an Relevanz. Was emotional, existenziell oder kontextuell aufgeladen ist, wird verarbeitet, nicht, was im Lehrmittel steht.
Die Rolle von KI, und warum ausgerechnet sie das System Schule infrage stellt
KI macht das Steuerungsmodell Schule obsolet, weil sie eine zentrale pädagogische Notlüge entlarvt:
Dass man Menschen zwingen könne, das zu lernen, was ihnen noch nicht wichtig ist, und dass daraus Bedeutsamkeit entstehen werde.
Künstliche Intelligenz kann nicht zaubern, doch sie beendet die Notwendigkeit, Kinder durch ein einheitliches, standardisiertes Bildungssystem zu schleusen, das mit ihrem Lernen nichts zu tun hat.
- Sie erlaubt Lernen ohne Gleichschritt, weil sie nicht auf Gruppenlogik, sondern auf individuelle Kontexte reagieren kann. Sie unterstützt Rhythmen statt Takte, weil sie sich nicht an den Stundenplan hält, sondern an das Interesse.
- Sie entlastet Lernbegleiter:innen von der Illusion, Lernprozesse steuern zu können und eröffnet Möglichkeiten um Räume zu gestalten, in denen Lernen geschieht.
- Sie macht es möglich, das Lernen selbst zum Gegenstand zu machen; nicht als Stoffaneignung, sondern als Sinnbildung, Beziehung, Urteil, Handlungsfähigkeit.
Könnten Lehrpersonen das nicht auch leisten, wenn sie möchten?
Einerseits lässt das System es in seiner gegenwärtigen Struktur nur in Ausnahmefällen zu. Wer offene Lernformen praktiziert, tut das meist gegen den Strom: gegen den Lehrplan, gegen das Zeitregime, gegen die Prüfungslogik, gegen Elternvorstellungen, gegen politische Steuerung. Die Schule ist nicht neutral gegenüber Formen des Lernens. Sie ist ein Steuerungsinstrument, und sie belohnt das, was ich messen, takten und vergleichen kann. Offenes Lernen ist in diesem Rahmen vielleicht pädagogisch geduldet, aber institutionell nicht getragen.
Andererseits arbeiten nicht wenige Lehrpersonen implizit nach dem oben beschriebenen Lernverständnis, das durch die Ausbildung, durch Erfahrung im System und durch institutionelle Erwartungen geprägt wurde. Dieses Verständnis ist zwar nicht selbst gewählt, doch es ist tief in die Profession eingeschrieben.
Es folgt einem Bild von Lernen als Aneignung vorstrukturierter Inhalte, als linearer Aufbau von Kompetenzen, als steuerbare Abfolge von Lehrzielen. Diese Vorstellung ist das Produkt eines Systems, das Lernen planbar machen will, und das dafür Steuerungsmodelle, Prüfungsroutinen, Kompetenzraster und Stoffpläne entwickelt hat.
Die Annahmen, die daraus erwachsen, etwa dass Lernprozesse geführt, kontrolliert und abgeprüft werden müssen, sind vielen Lehrpersonen längst zur zweiten Natur geworden. Sie strukturieren nicht nur das didaktische Handeln, sondern auch die Wahrnehmung dessen, was als „gutes Lernen“ gilt. Gerade weil diese Annahmen systemisch konsistent sind, bleiben ihre Alternativen oft unsichtbar.
Deshalb braucht es Klarheit: Nicht ob eine Lehrperson das theoretisch leisten könnte, ist die Frage, sondern warum sie es systemisch nicht kann, und warum KI ein Katalysator ist, der diesen Widerspruch nicht mehr überdecken lässt. Genau darin liegt der Unterschied, der einen Unterschied macht.
Mein Fazit
KI entkoppelt Lernen von der Gruppenlogik, von Prüfungszwängen, von Zeitrasterung, nicht weil sie irgendeine (pädagogische) Absicht hat, sondern weil sie es technisch kann. Deshalb ist KI funktional inkompatibel mit der bisherigen Schularchitektur.
Das erzeugt einen neuen und radikalen Möglichkeitsraum.
Wenn wir diesen Raum nicht als Einladung zur Systemtransformation verstehen und nutzen, wird KI zwar die Schule nicht abschaffen, aber sie wird in jedem Fall sichtbar machen, wie wenig Schule mit Lernen zu tun hat.
KI ist also nicht einfach ein Werkzeug. Sie ist ein kulturelles Angebot, das den Zwang zur Linearität aufhebt und damit die pädagogische Architektur von Schule grundsätzlich infrage stellt. Denn ein Sprachmodell wie GPT kann
- jederzeit anschlussfähig antworten, ohne Wartezeit, ohne Vorwissen vorauszusetzen
- individuell anknüpfen an Bilder, Interessen, Fragen, Sprache, Denkstile
- dialogisch reagieren, in Schleifen, mit Feedback, Wiederholungen, Perspektivenwechsel
- multiperspektivisch strukturieren, ohne monologische Lehrgänge
- unendlich oft üben lassen, ohne Ermüdung, ohne Bewertung
- kreative Wege ermöglichen, mit Text, Bild, Ton, Code, Story, Logik
Aber, und das ist entscheidend, KI funktioniert nur, wenn ich als lernendes Subjekt etwas will. KI ersetzt nicht das Denken. In keinem Alter, zu keinem Anlass, in keinem Beruf. Sie ersetzt den Zwang zu einer Form des Lernens, das mit Denken wenig zu tun hat.
KI ermöglicht nicht Lernen. Sie entlastet vom falschen Lernen. Das heisst auch: KI ersetzt die Lehrperson in jener Form, wie sie im traditionellen System definiert ist. Sie ersetzt nicht die mitfühlende Begleiterin, nicht den herausfordernden Gesprächspartner, nicht die erwachsene Person, die ein Kind sieht und ihm oder ihr zur Seite steht.
Aber sie ersetzt die Rolle der Lehrperson als Wissensvermittlerin, als Prüfungsinstanz, als Kontrollorgan des Lernens. Sie ersetzt das Berufsbild, das Unterricht als Stoffsteuerung versteht, als Instruktionslogik, als Progressionsmanagement entlang vorgegebener Ziele.
Genau dieses Bild von Schule wird durch KI obsolet, weil Lernen jetzt anders möglich ist. Nicht ohne Erwachsene und selbstverständlich nicht ohne Peers, aber ohne das alte Verständnis von Lehrer*innenmacht über Lernwege.
KI macht möglich, dass wir Lernen so organisieren, dass es dem Menschen gerecht wird. Nicht weil sie mehr kann, sondern weil sie uns zeigt, was nicht mehr nötig ist: Der Zwang zur Gleichzeitigkeit, zur Reihenfolge, zur Steuerung, zur Bewertung, zur Reproduktion.
Wir müssen nicht mehr tun, was die KI besser kann. Wir dürfen tun, was sie nicht kann: Räume schaffen, in denen der Mensch zu sich kommen kann im Lernen.
Und das ist vielleicht das erste Mal, dass wir ernsthaft gefragt sind, das Lernen des Menschen gegen seine Zurichtung zu verteidigen.
Im nächten Blog Post geht es dann um folgenden Einwand:
Lernen ohne Anleitung führt zu Beliebigkeit. Kinder brauchen Vorgaben, Ziele und Orientierung.

4 Kommentare zu „Vier Einwände gegen KI in der Schule – und ihre Widerlegung. Teil eins“