Katharina Maag Merki ist Professorin für Theorie und Empirie schulischer Bildungsprozesse an der Universität Zürich. Im Tagesgespräch mit SRF vom 20. März 2024 zerlegt sie in 25 Minuten die gängige Schulpraxis nach Strich und Faden. Da bleibt kein gutes Haar. Und das ist auch gut so. Es muss in diesen Tagen immer und immer wieder mit aller Deutlichkeit artikuliert und belegt werden:
Schule steht all dem im Weg, was junge Menschen zum Lernen und für ihre Entwicklung brauchen – und sie ist in keiner Weise durchlässig, ausser auf dem Papier (13:25).
Auch die so oft wie ein Schwert gezückte Durchlässigkeit des Schweizer Schulsystems ist also noch immer ein Märchen. Hier etwas konkreter beschrieben:
Das ewige wiedergekäute Hauptargument für dieses Schulmodell ist längst entlarvt: Schule benachteiligt die Lernenden, und zwar alle – und es kann exakt nachgewiesen werden wodurch. Alles bekannt, alles belegt.
Wer es auf der Sekundarstufe nicht in ein anspruchsvolles Niveau schafft, wird kaum eine höhere Allgemeinbildung abschliessen. Laut dem Bundesamt für Statistik gelingt dies genau zwei Prozent.
Quelle
Auch wird Sinn und Nutzen von Selektion erneut und zum x-Mal zer-und widerlegt. Die heutige Praxis führt sogar dazu, dass Jugendliche mit hohem Potenzial in der Sek B landen und solche mit niedrigerem am Gymnasium. Der Selektionsapparat schiesst sich also auch ins eigene Knie, denn er verhindert durch diese Praxis systematisch, dass junge Menschen in und durch Schule ihr tatsächliches Potenzial auf Gesellschaft und Arbeitsmarkt hin entdecken, entfalten und einsetzen können. Auch das ist eine katastrophale Diagnose.
Die Gleichschalterei durch die schulischen Selektionsmechanismen macht blind dafür
- dass die reale Heterogenität, Diversität und Altersvielfalt, für das Lernen von grossem Vorteil ist
- dass Lernende unbedingt mit einbezogen sein müssen in die Beurteilung ihrer Leistungen und Fortschritte
- dass es in Schule um Kompetenzen gehen muss, und dass die über Portfolios erfasst werden
Das Beschämende daran: Diese Erkenntnisse sind 20, teilweise 40 Jahre alt, und das Schulsystem ignoriert sie konsequent – obwohl es die von Maag Merki aufgezählten Alternativen schon längst in Nischen gibt. Es könnte also morgen in der öffentlichen Schulpraxis Realität sein, wenn das System es zulassen oder sogar aktiv entwickeln und fördern würde.
Aber der politische Wille fehlt.
Menschen, die sich innerhalb oder ausserhalb des Schulsystems für eine zeitgemässe Schule engagieren, klug, identifiziert, leidenschaftlich, werden entweder ausgebremst, ausgebrannt oder vertrieben, oder alles zusammen.
Und was blockiert die dringend notwendigen Entwicklungen?
Mutlosigkeit, Verantwortungsdiffusion, Kantönligeist – und eine in Schulen, Lehrer- und Elternköpfen noch immer verbreitete, autoritäre und adultistische Haltung gegenüber jungen Menschen.
… und hier noch ein schickes Erklärvideo zu Adultismus.

Mit der Analyse bin ich völlig einverstanden – über eine Ihrer Folgerungen müsste jedoch noch ausführlich diskutiert werden :
„Es könnte also morgen in der öffentlichen Schulpraxis Realität sein, wenn das System es zulassen oder sogar aktiv entwickeln und fördern würde.“
Dazu einige Stichworte:
– Das „System“ besteht aus einer Vielzahl von Akteurinnen, angefangen bei den Eltern und Lehrpersonen über die kommunalen und kantonalen Verwaltungen bis hin zur hehren Politik. Sie sind aus verschiedenen Gründen träge – sie pauschal als „das System“ wahrzunehmen, halte ich für wenig zielführend.
– Erfreulich ist, dass derzeit sehr viel grassroot development sichtbar ist und dieses von der Wissenschaft auch positiv unterstützt wird. Diese Entwicklung gilt es aktiv zu unterstützen. Die Trägen werden das nicht von sich aus tun, die Politik wohl zuletzt – und damit fehlen wichtige zusätzliche Ressourcen.
– Am meisten überzeugen mich derzeit die Berufsverbände der Lehrpersonen sowie Schulleiterinnen und Schulleiter. Etwas salopp ausgedrückt sind diese die Läuse im Pelz des von Ihnen benannten trägen Systems. Sie zu stärken, z. B. durch gezielte, ermutigende Berichte in geeigneten Medien, wird den Juckreiz im Pelz der Trägen erhöhen. Gelingt es uns, diesen Prozess zu beschleunigen, werden vor allem die politischen Pelzträger bald aktiv. Sie werden schliesslich behaupten, sie hätten‘s erfunden. Das wäre für mich völlig okay.
– Was auch viel hilft, ist der lange völlig verpönte Schulterschluss zwischen Bildung und Wirtschaft bzw. zwischen Schule und Betrieben als Abnehmerinnen von motivierten Berufseinsteigerinnen. Hier liegt viel wirtschaftliches Potenzial ausserhalb des trägen „Systems“.
Danke, Christoph Schmitt, für Ihre unermüdlichen Aufrufe, die mich oft zum Weiterdenken animieren!
H. R. Dietiker
LikeGefällt 1 Person
Ebenso herzlichen Dank für Ihre Zeilen! Eine interessante Strategie, die Sie da visualisieren. Möge sie funktionieren.
Der Begriff „System“ zeigt übrigens keine Pauschalisierung an, sondern definiert sich so, wie Sie ihn beschreiben.
Für sich stehend umfasst er bereits alle, die von der Thematik betroffen sind und in sie involviert.
Was für mich hingegen nicht redlich wäre: Wenn wir die Macht von Eltern und ihre Einflussmöglichkeiten „in diesem System auf das System“ auf eine Stufe stellen würden mit denen der Institution.
Heute ist es so, dass die Schule immer am längeren Hebel sitzt und wirkt. Nicht zuletzt über Gesetze und Reglemente.
Ein Beispiel: Das immer wieder ins Feld geführte Argument, dass die Eltern und ihr Nachwuchs die eigentlich „notengeilen“ Teilnehmer:innen in diesem Spiel seien, ist für mich zumindest eine Verkürzung.
Dieser starke Fokus auf Noten aufseiten von Eltern und ihren Kindern ist ja eine Folge dessen, dass sie im Bildungssystem eine so grosse Rolle spielen, und dass sie über die Zukunft junger Menschen entscheiden.
Wenn also Eltern und ihre Kinder heute auf Noten starren, dann weil eine Bildungskarriere aus Noten besteht – und weil von Ihnen wiederum die Berufslaufbahn abhängt.
So wird für mich ein Schuh draus 🙂
LikeLike