Erzähl doch keinen Mist!

Wir sagen: Der Anschluss an die Zukunft gelingt uns nicht, weil wir von hartnäckigen und verkrusteten Strukturen gehalten sind. Innen wie aussen, oben wie unten. Doch das stimmt nicht. Es liegt nicht daran, dass wir in Vergangenheitsprägungen festkleben – sondern dass wir ausser ihnen keine anderen Erzählungen haben. Uns fehlen die Geschichten und die Bilder einer anderen Welt.

„Erzähl doch keinen Scheiss! Wir haben ja gerade von solchen Zukunftsgeschichten mehr als genug – in jeder Färbung. Der Äther ist doch randvoll mit Stories, Podcasts, Clips, Videos und 24-7-Streaming in mehrfachen Überlagerungen. Vieles davon ist mittlerweile dystopisch. Daneben gibt’s auch eine Menge Nippes in den 1-Euro-Shops des Internets. Oder bei Netflix.“

Geschenkt. Doch zum einen liegen diesen Erzählungen alte Strukturen, Muster und Bilder zu Grunde. Es sind Geschichten, deren einziger Zweck darin besteht, Vergangenheiten überleben zu lassen, indem wir sie in die Gegenwart hinein erzählen. Der „Wiedererkennungswert“ wird zum Heiligen Gral.

Zum anderen sind es nicht Geschichten, die wir erfinden und erzählen sondern solche, die uns erzählt werden. Ob wir wollen oder nicht. Unser Status ist eingefroren auf das Zuhören und Nacherzählen.

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So sind wir gefangen in Narrativen, in Erzählungen, die – welchen Inhalts auch immer sie sind – nicht von uns kommen sondern auf uns.

Erzähl doch keinen Scheiss! Geschichten befreien Geist und Seele!

Nö. Erstens entwickeln die Geschichten, die uns erzählt werden, niemals die Kraft, die jene freisetzen würden, die wir selber erfinden. Sie lenken uns vielmehr von diesem Potenzial ab. Sie entwickeln auch eine andere Kraft als die, von der sie erzählen: Ballerspiele machen aus mir keinen Amokläufer, das Neue Testament macht die Welt nicht gerecht. Diese Geschichten entfachen die Lust auf mehr solche Geschichten. Das war’s.

Die Unterstellung, dass sie Vorbildcharakter hätten, greift zu kurz. Sie können als Stories nur wirken, wenn sie bereits auf einem vorhandenen Vorbild-Modell aufbauen. Wer darauf nicht anspringt, spielt keine Ballerspiele.

Auch dass sie zu einem von der Erzählung erzählten Handeln führen, stimmt nicht. Wer regelmässig in der Bergpredigt liest (Matthäus 5-7), wird dadurch nicht zum Role-Model für soziales Handeln.

Solche Vorstellungen stammen aus einer Verdoppelung der Erzählung: Wir erzählen zur Erzählung selbst ihre Wirkung hinzu. Obendrauf. Das erst ist dann ihr Alleinstellungsmerkmal: Eine wirklich gute Geschichte ist in dieser Praxis immer eine, die sich geschickt an die Stelle dessen erzählt, wovon sie erzählt.

Besonders deutlich wird mir das in den Schriften der Bibel und vor allem in denen des Neuen Testaments. Ihnen wird Wirk- und Sprengkraft zugesprochen in Form einer “Erzählung über die Erzählung” selbst, mit dem Zweck, die in den Texten erzählte Wirkung den Texten selbst anzudichten.

Und zweitens: Selber erzählen tun wir ja gar nicht. Wir erzählen nach. Wir erfinden keine Geschichten und erzählen nicht von den Bildern, die uns in den Sinn kommen würden jenseits dessen, was unseren Geist und unsere Seele immer schon belagert. Dieses Phänomen macht auch Pornographie so erfolgreich. Zumindest bei männlich gelesenen Menschen.

Die Wirkung liegt im Ersatz. Da muss es gar nicht um Sex gehen – Macht ist ja auch geil.

Das Ziel: dass in unseren Köpfen irgendwann nur noch Projektoren laufen, die jene Filme abspielen, denen fremde Drehbücher zugrunde liegen. Dabei ist es wurscht, ob wir das Erzählte in Buchform inhalieren oder über bewegte Bilder.

The New Yorker, 1947

Unterm Strich macht uns dieser Status auf eine merkwürdige Weise zu Unerlösten; von der Last all des Erzählten und für wahr Gehaltenen unerlöst. Die fremderzählten Geschichten sind wie Drogen, die Entlastung bringen, sei es indem sie Utopien erzählen, sei es dass sie Dystopien abbilden. Beide Formate wirken entlastend vom Status Quo, auch das Dystopische, wie wir täglich sehen können: Je mehr dystopische Erzählungen, umso weniger gehen wir in die Tat. Und die Scham über das Nichtstun kann nur betäubt werden über eine höhere Dosis vom Narrativ.

Erlöste hingegen können andere Zukunftsgeschichten erzählen – ohne Armageddon und die Reiter der Apokalypse. Und ja: auch dann ist die Erlösung selbst eine Geschichte. Sie ist eine Erzählung, die ihre Wirksamkeit aus einem konkreten und klaren, ersehnenswerten “Danach” beziehen kann.

Dass etwas aufhört, motiviert nicht – nur wenn „danach“ etwas beginnt.

Gute Nacht Geschichte

Jene Beziehungen, die uns nicht gelingen: zwischen Stämmen, Regionen, Völkern und Staaten, zwischen Parteien, Familien, Unternehmen, Organisationen, zwischen Mitarbeitenden und ihren Führungskräften, zwischen Partner:innen und Freund:innen, zwischen dir und mir, sie gelingen uns nicht deswegen nicht, immer noch nicht, wieder nicht, weil wir in und mit diesen Beziehungen und Menschen eine Geschichte haben, die uns geprägt hat.

Sie gelingen nicht, weil wir noch immer den erzählten Erzählungen und ihrem Duktus folgen. Weil wir die entsprechenden Bilder reproduzieren, die all das reproduzieren, was wir dann als Gegenwart erleben. Es ist wie bei den noch kleinen Kindern, die sich Abend für Abend die alten Geschichten wünschen, und zwar genau so wie gestern.

Der Grund, warum uns all das nicht gelingt, was uns gelingen sollte, und damit auch kein Neuanfang, ist ein (un-)denkbar einfacher:

Wir fangen nicht an, hier und jetzt anders zu erzählen und anderes zu erzählen, und neue Bilder zu kreieren in unseren Köpfen. Wir scheuen uns, die Autor:innen unseres Schicksals zu werden. Wir leben lieber als Sequels. Darum machen wir es hier und jetzt nicht anders.

Miteinander nicht, mit unserer natürlichen Umwelt nicht, mit unseren Lebensgrundlagen nicht, mit unserer Wirtschaft und unserem Geld nicht, mit den Tieren nicht. Deshalb finden wir nicht zu anderen Bildern und Gefühlen von Beziehungen, deswegen stecken wir unsere Kinder in Schulen, bauen Barrieren gegen Flüchtlinge, deren Lebensräume wir zuvor zerstört haben.

Wir haben, was uns Schutz geben will, zum Käfig gemacht. Unsere Erzählungen sind unsere Gefängnisse. Wir sperren uns darin ein: unsere Bilder, unsere Gefühle. Die Geschichten von der Freiheit machen das Käfigdasein erträglich.

Hundertwasser schreibt: “Die einen behaupten Häuser bestehen aus Mauern. Ich behaupte Häuser bestehen aus Fenstern.” Und sofort sagen wir: „Ohne Mauern keine Häuser.“

Das meine ich.

Wir finden umgehend zurück zum Dunkeln in unseren Erzählungen. Dieses Zurückfinden hat selber etwas Dunkles. Wir führen eine Dunkelheit mit uns, die wir nur hin und wieder durch gemietete oder geklaute Lichterzählungen für kurze Zeit zu erhellen versuchen – wodurch wir eine fatale Abhängigkeit ausgerechnet dort manifestieren, wo jede Form von Unabhängigkeit und Autonomie wurzelt: im Erzählen.

Weil wir nicht in der Lage sind, selber neue Bilder zu erschaffen und Erzählungen zu entwickeln, die nicht wieder geklaute Vergangenheit sind, schaffen wir den Anschluss an die Gegenwart nicht. Die ist deshalb erst zu dem geworden, was sie heute ist: etwas vom Lebensfeindlichsten überhaupt – weil wir keine alternativen Erzählungen haben. Weil wir immer wieder zu den alten zurücksuchen. Zielsicher und mit verbundenen Augen.

Auf diese Weise haben wir sogar die Natur besiegt, über die wir uns bis heute erzählen, sie würde sich gegen uns wenden, wenn wir sie nicht zu beherrschen wissen – und wir realisieren nicht, dass wir selber es sind, die die größte Gefahr darstellen für alles Lebendige, auch für uns selbst als ein Teil dieser Natur.

Warum? Weil die Erzählungen vom Siegen und Besiegen das literarische Oeuvre der Menschheit durchziehen wie nichts anderes.

Statt alles, was wir heute können und wissen, statt auch neue Bilder, die wir entwickeln könnten so „einzupreisen“, damit die Welt zu einem liebens- und lebenswerten Ort für alle wird, reproduzieren wir jene Geschichten, Bilder, Erzählungen und Beziehungen, all jene Kulturen und technischen Artefakte, die nichts anderes tun, als Vergangenheit zuverlässig Gegenwart werden zu lassen. Dadurch auferlegen wir dieser Gegenwart die unendliche Last des Bewahrens. Die Risse, die dabei entstehen, kitten wir mit Rosamunde Pilcher und Martin Suter.

Innovation in den Händen der Bewahrer

Es geht ausschliesslich ums Bewahren. Hinter all unseren Erzählungen ist das Bewahren der Wert. Auch dann, wenn sie vom Aufbruch erzählen, machen sie uns doch nur das Verweilen erträglich.

Es geht bei unserem Erzählprinzip nicht darum, etwas, das sich tatsächlich als gut erwiesen hat, auch weiterhin ein Teil von Gegenwart sein zu lassen, weil es uns dabei helfen würde, die brutalen Herausforderungen dieser Gegenwart anzugehen und zu lösen. Es geht uns nicht um das, was zu bewahren wäre, es geht nur ums Bewahren selbst.

Um herauszufinden was zu bewahren ist in der Zeit, in der wir gerade sind, was davon uns helfen würde Gegenwart lebenswert zu machen, brauchen wir neue Erzählungen, andere Bilder und Gefühle, mit deren Hilfe wir andere Gegenwarten entstehen lassen: gemeinsam.

Um das als bewahrenswert identifizieren zu können, was uns die Gegenwart so gestalten liesse, dass wir dadurch die Chancen auf gute Zukunft erhöhen, müssten wir anders und anderes erzählen. Stattdessen geht es einzig darum, die Gegenwart dazu zu verpflichten, ganz in der Dimension des Bewahrens aufzugehen: Da auch Elektroautos Autobahnen brauchen, bauen wir jetzt mehr sechsspurige davon.

Die Haltung des Bewahrens nimmt den ganzen Raum ein und die volle Aufmerksamkeit. All die Technologien, die auch jetzt wieder so ungemein innovativ daherkommen, nützen und dienen hinter dem Vorhang, vor dem sich die grosse Mehrheit derer tummelt, die diese Technologien nicht im Ansatz verstehen, den Bewahrern und dem Bewahren – dem Vermehren des Bestehenden. Damit ist diese Geschichte bereits erzählt.

Aus einer NZZ- Werbung

Damit sie weitererzählt wird, stellen wir alles zu, füllen alles ab, blähen es auf, nutzen jeden Quadratmillimeter, lassen keinen Raum – auch nicht in ihm. Laden alles mit Sinn auf, statt ihn aus neuen Erzählungen entstehen zu lassen. Wir sind die Sinnmacher. Die Wachstümler. Pausenlos Sprechende.

Darum auch erziehen wir die Kleinen früh zu Hörenden. Lassen sie sprechen nur wenn aufgerufen. Machen sie zu Menschen, die immer einen Sprecher brauchen oder eine Sprecherin. Lassen sie nicht die Kunst eines Hörens entwickeln, das ohne Sprecher auskommt.

Erwachsen geworden hören wir nicht, wenn niemand spricht. Doch der wahre Erzähler und die wahre Erzählerin sind ja keine Sprecher. Sie sind Erzählende. Lehrer und Reporter sind Sprecher. Sie berichten. Sie fordern Zuhören ein. Sie biegen das Hören.

Die Beziehung zwischen Sprechenden und Hörenden ist durch Autorität und Autoritäres geprägt: wer sprechen darf und wer zuhören muss. Egal, ob das jetzt ein Radiosender ist oder ein Podcast, eine Predigt oder der gute alte Frontalunterricht.

Wir Menschen scheinen ja tatsächlich Wesen zu sein, die Geschichten brauchen. Sie korrespondieren mit einer unserer faszinierendsten Eigenschaften, nämlich auf ihnen aufbauend Bilder in unseren Köpfen zu entwickeln, die einen Realitätssinn entwickeln.

Doch dass wir sie so dringend brauchen und lieben, ist nicht gleichbedeutend damit, dass wir sie aus den Archiven zu beziehen hätten. Im Gegenteil. Dass der Mensch nur ganz Mensch sei, wenn er und sie spielt, bezieht sich auch auf diese Bilder und Geschichten. Wir kommen durch sie zu uns selbst – und dazu gehört, dass wir sie immer und immer wieder neu erfinden und damit uns selbst und unsere Möglichkeiten.

Hier steckt das grösste Potenzial an Freiheit überhaupt – und zugleich das grösste an Manipulation.

Kopfbilder pflanzen

Deshalb wohl ist die Frage, wer sprechen darf, und was der und die sagen darf, und wer denen zuzuhören hat, reguliert wie nichts anderes. Auch ökonomisch reguliert: durch Werbung, Marketing, durch einen Buchmarkt, durch die Filmwelt. Die Erzählungen machen die Bilder, und die Bilder machen die Wirklichkeit. Diese „geliehenen Erzählungen“ sind unserem Geist die einzige Bleibe geworden. Darum brechen wir (sie) nicht auf. Wohin auch sonst mit uns?

Weihnachten signalisiert auch so eine Erzählung. Herrschaft mal anders. Doch nach wie vor Herrschaft. Das Paradigma wechselt nicht – nur die, die herrschen. Nicht das Kleine und Unscheinbare wird gross, sondern das Grosse bemächtigt sich des Kleinen. Es ist kein Machtwechsel, so süss die Erzählung auch am Anfang klingt. Am Ende setzt sich die Herrschaft durch, wie sie in einem der ältesten christlichen Hymnen besungen wird:

Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein,sondern er entäusserte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihr Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr – zur Ehre Gottes, des Vaters.

Philipperhymnus (Phil 2, 6-11)

Weihnachten überwindet nicht die alte Erzählung von Macht und Durchregieren. Es ist die alte Erzählung von Herrschaft. Einfach anders erzählt. Die volle Sanduhr wird gedreht.

Und die Künstliche Intelligenz? Kommt die Erlösung von dort? Eher nicht, denn auch die Texte und Bilder, die mir KI liefert, sprengen nirgendwo den Rahmen, geschweige denn die Ketten.

Ich vermute, weil sie keine Phantasie hat – oder eben nur die, die der Code ihr gibt, und das ist immer nur die Phantasie, die schon jemand hatte. Und ich vermute weiter: KI ist der grösste jemals gebaute Speicher von Vergangenheit. Die Bewahrungsmaschine schlechthin – und ihre mächtigste Sprecherin. Sie macht die Gegenwartspräsenz des Vergangenen total. Jetzt sind wir die Dinosaurier.

Das bringt mich erst recht zu der Überzeugung, dass wir ganz neue Bilder brauchen.

Bloss: woher?

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Autor: Christoph Schmitt

Bildungsaktivist | LinkedIn Top Voice | Colearner | TEDx Speaker | Bildungsdesigner | Bildungsethiker | systemischer Coach & Supervisor | Rituals Expert | Blogger | Nörgler | Ressourcenklempner. Ich unterstütze alles, was mit Aus- und Aufbrechen aus Beschulung zu tun hat. Für Jung UND Alt. Meine Kernkompetenz: Entwicklung ganzheitlich begleiten, moderieren, inspirieren.

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