Schluss mit Schule, oder warum PISA seit 20 Jahren nach einer Alternative für Schule ruft

Ja, die PISA-Ergebnisse sind wieder schlecht, und das Problem liegt in der Diagnose: Auch 20 Jahre nach der ersten PISA-Studie sind wir nämlich fest davon überzeugt, das hinge mit zu wenig oder mit nicht ausreichend guter Schule zusammen – kombiniert mit bildungsfeindlichen Faktoren: Verweichlichung, TikTok, Eltern.

Also wachsen mit jeder weiteren PISA-Katastrophe der Glaube und die Überzeugung, dass es mehr und bessere Schule braucht, um das Problem zu lösen. Was auf keinen Fall denkbar werden darf:

dass wir dieses Problem haben, weil wir an Schule festhalten – nicht an einer bestimmten Form von Schule, sondern an Schule.

PISA zeigt: Je länger du in einer Schule bist, umso schlechter wirst du – ausser du hast ein maximal unterstützendes Umfeld – und wenn du es nicht hast, kann dir Schule auch nicht helfen.

Wie sagte Einstein so schön: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ Was also, wenn die Lösung nicht eine andere Schule ist, sondern etwas anderes als Schule?

Ich bin davon überzeugt, dass wir in den Bereichen Bildung und Lernen im Moment keine Zeit mehr zu verlieren haben, weil wir junge Menschen durch ihre Beschulung ins „offene Messer“ laufen lassen. Deshalb mein Plädoyer für entschultes Lernen. Aber der Reihe nach:

Das hartnäckige Gerücht vom „richtigen Lernen“

Dass Lernen in die Schule gehört, oder dort besonders gut funktioniert, ist eine pädagogisch-didaktische Lüge, die durch ihre Wiederholung zur Wahrheit wurde. Würden wir sie entlarven, müssten wir uns eingestehen, dass wir an Schule nicht des Lernens wegen festhalten, sondern damit die Kids aus dem Weg sind und dann noch deswegen:

Deshalb richten wir das Lernen von Kindern und Jugendlichen an Schule aus. Wir schütten es mit Methoden zu und messen Lernerfolg an der Demonstration eines akkuraten Methodeneinsatzes. Nur wer die vorgespurten Wege (auch die des Denkens) korrekt ablaufen kann, kriegt die gute Note. Das Ziel lautet bis heute: intrinsisch motiviert extrinsischen Zielen folgen. Damit nimmt das Korrumpieren des (lebenslangen) Lernens seinen Anfang.

Vor allem wenn wir jung sind, orientieren wir uns in Kontexten schulischen Lernens jederzeit daran, wie wir diesen Prozessen und Strukturen für uns selbst einen Sinn abgewinnen können – nicht weil wir uns dadurch die Welt erschliessen würden. Es geht darum, wie wir Aufmerksamkeit, Respekt und „Belohnung“ von Seiten dieses Systems erhalten (Lehrpersonen, Klassengemeinschaften, Noten, Erziehungsberechtigte). Deshalb sind wir darauf angewiesen zu verstehen, nach welchen Prinzipien und Kriterien dieses Lehrsystem funktioniert: weil wir an die Meriten kommen müssen – um jeden Preis!

Was Schule bei jedem und jeder einzelnen Lernenden erreicht, ist dies: Wir versuchen zu verstehen, was Lehrende und ihr Unterricht von uns erwarten. Den meisten von uns gelingt dies, indem wir unser Lernen auf perverse Weise spalten. Wir demonstrieren auf der einen Seite so genannte „Lernerfolge“, die wir mittels pädagogisch-didaktischen Settings nach institutionellen Kriterien („Lernziele“) zu erreichen versuchen, weil wir sie ja vorzuweisen haben. Auf der anderen Seite lernen wir, während wir diese Scharaden mitspielen, eine ganze Menge anderes. Zum Beispiel wie wir erfolgreich solche und andere Scharaden spielen. Wir lernen in der Schule das Schulspiel zu spielen: „What a person learns in a classroom is how to be a person in a classroom.“

Auch der „richtige Mix von Methode und Instrument“ ändert an dieser Scharade gar nichts. Je ausgefuchster, je methodisch vielfältiger das pädagogisch-didaktische System uns von unserem Eigenlernen abhält, umso stärker lenkt es unsere Aufmerksamkeit und unsere Lernenergie auf das erfolgreiche Einsetzen dieser Methoden – und auf das Demonstrieren der damit verbundenen Lernziele.

aus: Michael Hüter, Kindheit 6.7

Was den Nerv tatsächlich tötet – und was ihn trifft

Wir wissen alle aus eigener Erfahrung, dass dort, wo wir uns und unserem eigenen Lernen überlassen sind, ein Zustand niemals eintreten wird: Monotones Einerlei und Nervtötendes. Das liegt daran, dass sich unser Lernen jederzeit dem zuwendet, was maximal interessant ist, was uns weiterführt, was uns dabei hilft, die Welt immer tiefer zu verstehen, uns dabei das zu holen, was wir in dem Moment brauchen, um unser Lernen mit spielerischem und hartnäckigem Ernst immer weiter in seine Materie hinein zu treiben. Das kann manchmal für diejenigen nervtötend sein, die wir als ExpertInnen für unser Lernen in Anspruch nehmen, indem wir sie z.B. mit Fragen löchern. Niemals aber für die Lernenden selbst.

Klärungen

Es stimmt einfach nicht, dass Menschen, deren Lernen, nicht von aussen gesteuert, kontrolliert, organisiert und bewertet wird, nicht(s) lernen. Es stimmt das Gegenteil: Sie fangen dann erst an das zu tun, was dem Phänomen des Lernens gerecht wird, nämlich in einer kreativen, lustvollen, herausfordernden Auseinandersetzung mit der Welt und allem in ihr, sie und sich selbst immer besser zu durchschauen, zu begreifen und zu gestalten, und das alles gemäss den Möglichkeiten, die ein lernender Mensch hier und jetzt gerade hat und sich lernend schafft.

Das Schöne ist nämlich, dass ein lernender Mensch sich selbst gar nie mit dem Lernen überfordern kann, denn ich lerne ja, wenn ich ein entsprechendes Umfeld habe, immer das und nur das, auf diese Weise und mit den Zielen und Gefühlen, wozu ich hier und jetzt gerade fähig bin. Und wir wissen auch, dass Menschen von Natur aus, einfach weil sie Menschen sind, die Herausforderungen des Lernens von sich aus suchen, und zwar in dem Mass und Ausmass, wie es für sie stimmt und passt.

Kein Mensch verweigert sich dem Lernen – höchstens auf eine, wie ich finde sehr nachvollziehbare Weise jenen Anforderungen und Umwelten, die ihn und sie überfordern würden. Überforderung gibt es hingegen ebenso wenig wie ihr Gegenteil dort, wo Menschen ihrem Lernen überlassen sind – und ihr Lernen ihnen überlassen bleibt.

Es ist also falsch zu behaupten oder anzunehmen, Menschen würden nicht lernen, wenn sie hinsichtlich des Lernens sich selbst überlassen bleiben bezüglich dessen, was sie lernen, wann sie es lernen, auf welche Weise sie es lernen, wie lange sie dran bleiben, mit wem sie es lernen, und von wo und wem sie sich Hilfe holen. Dieses Lernen, das immer und jederzeit stattfindet, kann durch die Brillen und Optiken einer Pädagogik einfach nicht gesehen werden. Es findet aber trotzdem pausenlos statt – inklusive seiner Reflexion, die ja beim Lernen darin besteht, einerseits zu erkennen, ob und wie ich eine Herausforderung gemeistert habe und wenn nicht, woran das liegt und was ich noch tun könnte, um sie zu meistern.

Es ist auch falsch zu behaupten oder anzunehmen, Menschen würden „falsch lernen“ oder das Falsche, wenn das Lernen ihnen selbst überlassen bleibt und sie ihrem Lernen. Es ist vielmehr umgekehrt so, dass sie dann in jedem Fall vor allem das lernen, was jetzt dran ist für sie.

Demgegenüber erweist sich jedes noch so ausgefeilte pädagogisch-didaktische Setting als nachgerade armselig, weil es gar nicht in der Lage ist, das explosive, innovative, individuelle Lernpotenzial eines lernenden Menschen in einer Art zu begleiten und zu unterstützen, die diesem Lernen auch nur im Ansatz gerecht werden könnte. Institutionell strukturierte Lernprozesse können das gar nicht leisten, denn erstes Ziel institutionell organisierten, schulischen Lernens ist es, nach vorgegebenen Mustern (Lehrpläne, Lernziele und Methoden und vor allem Prüfungen) zu funktionieren. Dem ist alles andere untergeordnet. Also auch das Lernen.

Individuelle Begleitung und Förderung bezieht sich innerhalb dieser schulischen Prozesse nie auf das Lernen eines lernenden Menschen, sondern darauf, einen lernenden Menschen mit sehr begrenzten Lehrer-Ressourcen dabei zu unterstützen, dass er und sie „mitkommt“, sprich: das pädagogisch-didaktische Setting besser versteht und sich entsprechend anpassen kann. Konkret: bestimmte Themenblöcke nach bestimmten, vorgegebenen Methoden in einer bestimmten Zeit „abzuarbeiten“, um dafür eine Bewertung zu bekommen und im günstigen Fall „zu bestehen“.

Das ist nervtötend – und vor allem lerntötend.

Schule bedeutet: Das Leben als etwas Fremdgesteuertes begreifen zu lernen

Lernende Menschen lernen im Setting „Schule“ nicht, sich auf sich selbst und auf ihre eigenen Potenziale, Motive und Interessen zu verlassen, sie entwickeln sich nicht zu dem, was die „Natur des Lernens“ eigentlich mit uns vorgesehen hat: während den endlosen Phasen selbstgesteuerten Entdeckens, Vertiefens, Verknüpfens und Vernetzens auf zutiefst lustvolle Art Verantwortung zu übernehmen für das Gestalten dieser Prozesse, für die eigene Entwicklung und für das soziale Umfeld. Das alles wird in schulischen Lehr-Lern-Systemen fremdgesteuert. Es ist vorgegeben. Inhaltlich, zeitlich, methodisch, strukturell – und was die Ziele betrifft.

„Wollen sie auch mal?“ – fragt DALL-E

Was Menschen in dieser traditionellen, schulischen Lern-„kultur“ seit vielen Generation gelernt haben, ist dies: Verantwortlich sind sie „in diesem Setting lediglich für die korrekte Ausführung eines vorgegebenen Organisationsmusters, das sich von Fachlehrerin zu Fachlehrer stark unterscheiden kann. Nahezu 100 Prozent der Ressourcen der Lernenden gehen dafür drauf, die Präferenzen der einzelnen Lehrpersonen herauszufinden und nachvollziehen zu können um dann einigermaßen geglückt zwischen den einzelnen Anforderungssettings hin und her zu zappen. Lernende lernen lavieren.“ (Zitat aus Bildung auf Augenhöhe).

Damit wir als Individuen ebenso wie als soziale Gemeinschaften auf das Angebot und auf die Herausforderungen der brutalen ökonomoschen, sozialen und digitalen Transformationen in menschengerechten Formen eingehen können, damit wir überhaupt eine Chance haben, diese gewaltigen Veränderungen als Einzelne wie als Kollektive entsprechend gestalten zu können, damit wir darauf überhaupt Einfluss nehmen können, müssen wir das Lernen radikal entschulen. Daran führt kein Weg vorbei.

Das Lernen der Zukunft hat nichts mehr mit dem zu tun, was Schule bis heute macht. Wie genau das gehen soll, darum geht’s bei Colearning. Eine zivilgesellschaftliche entwickelte und getragene Alternative.

Wenn du an einer Entschulung des Lernens mitdenken und mitgestalten möchtest, dann findest du hier Inspiration, Impulse und eine Möglichkeit zum Mitmachen:

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Autor: Christoph Schmitt

Bildungsaktivist | LinkedIn Top Voice | Colearner | TEDx Speaker | Bildungsdesigner | Bildungsethiker | systemischer Coach & Supervisor | Rituals Expert | Blogger | Nörgler | Ressourcenklempner. Ich unterstütze alles, was mit Aus- und Aufbrechen aus Beschulung zu tun hat. Für Jung UND Alt. Meine Kernkompetenz: Entwicklung ganzheitlich begleiten, moderieren, inspirieren.

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