Meine Hypothese: Das Bildungssystem hat den Anschluss an gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen verloren. Es hat sich entkoppelt.
Der Reihe nach:
Das Augenmerk auf erfolgreiche Führung und ihre Kriterien, liegt derzeit vor allem darauf, die Funktionalität von Organisation aufrecht zu erhalten. Mittlerweile ist dieser Fokus (meiner Beobachtung nach) immer häufiger abgekoppelt vom Zweck einer Organisation. Das Aufrechterhalten ihres Funktionierens erfolgt nicht mit dem Zweck ein Unternehmensziel zu erreichen, der Fokus liegt allein auf dem Erhalten der Lebensfunktionen. Es geht rein ums Funktionieren.
Eine mögliche Dysfunktionalität der Organisation im Aussen (Forschungsfrage: „Wozu braucht es uns eigentlich ganz konkret?“) kann aufgrund des verengten Blicks auf die Funktionalität im Innen nicht mehr gesehen werden. Es findet eine Entkoppelung statt. Dadurch nimmt oder bricht auch der so wichtige Informationsfluss ab und damit die Möglichkeit, in der Organisation Wissen zu generieren über ihre Umwelten – als Überlebenszweck, sprich: um auch in Zukunft zu existieren. Dieses Wissen wird durch Vermutungen und Mutmassungen ersetzt, die aus dem Speicher der Organisation bezogen werden, also aus der Vergangenheit.
Das ist meine Zustandsbeschreibung für Schulen & Co.
Jetzt passiert folgendes:
Weil das Entwicklungstempo in den Umwelten einer Organisation mit exponentieller Geschwindigkeit voranschreitet, kann eine Verzögerung bei der Anpassungsfähigkeit ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr aufgeholt werden. Die Verspätung führt zur Entkopplung, und wenn das nächste Mal „Kommunikation“ auf dem Plan steht, ist die Schnittstelle nicht mehr da oder (kulturell) neu kodiert. Wir verstehen einander nicht mehr, während wir davon ausgehen, dass wir einander verstehen – und machen immer mehr davon:
Das System ist davon überzeugt, sich hier und jetzt um Anschluss zu bemühen, verstärkt aber gerade damit die Dysfunktionalität – als eine neue Form der Beziehung 😅.
Der Anschluss von Umwelten an Systeme und umgekehrt kann nicht mehr vollzogen werden, wenn Organisationen die Fähigkeit zur Anpassung vernachlässigen und aus dem Blick verlieren. Diese Unterscheidung zwischen konkreter Anpassungstätigkeit und der Anschlussfähigkeit ist wichtig, denn solange ich mir die Fähigkeit zur Anpassung bewahre, lassen sich Versäumnisse beim Anschliessen relativ kurzfristig aufholen und ausgleichen: Anpassung ist dann immer noch möglich.
Wenn ich aber als Organisation die Fähigkeit zur Anpassung verliere (die ich mir vor allem dadurch erhalten würde, dass ich um Anschluss bemüht bin und diesen Prozess konsequent analysiere), müsste ich, um eine Anpassungsleistung zu erbringen, zuerst einmal die eigene Anschlussfähigkeit wiederfinden (z.B. durch Versuch und Irrtum, also durch Lernen), wozu ich aber aufgrund der Entwicklungsrhythmen und -tempi in Gesellschaft und Ökonomie gar nicht mehr komme.
In der gegenwärtigen sozioökonomischen Lage, in der wir uns befinden, hat ein Pausieren der Anschlussbemühungen von Systemen an Umwelten und umgekehrt zur Folge, dass die Fähigkeit zur Anpassung rapide abnimmt.
So genannte „Feedback Loops“ verstärken diese Entwicklung. Sie sorgen dann über die Zeit hinweg dafür, dass Systeme, die ursprünglich die Funktion von Problemlösern hatten, selber zum Problemfall werden. Ein Beispiel aus dem Klimabereich: Irgendwann wird das „System Wald“, das die Funktion hatte, CO2 zu absorbieren, zu einem CO2-Produzenten (siehe hier, wie das vor sich geht).
Analog dazu die Schule: Wenn das Bildungssystem ursprünglich die Funktion hatte, Bildung zu ermöglichen und zu fördern, entwickelt es sich derzeit mehr und mehr zu einem Bildungs-Verhinderer.
Die Zeitschindererzählung vom langsamen Kulturwandel
Was den Prozess der Entkoppelung beschleunigt, ist ein Narrativ aus der gegenwärtigen Organisationsentwicklung, dass alles, was mit „Kulturwandel“ zu tun hat, viel Zeit brauche.
Doch die Erzählung, dass die Kultur einer Organisation der Bereich sei, der bei Entwicklungsprozessen am meisten Zeit benötigt und sich am langsamsten bewegt und verändert, ist recht eigentlich eine Erzählung der Kultur über sich selbst. Sie hat den Zweck, sich Zeit zu verschaffen: „Morgen ist auch noch ein Tag. Schlaf jetzt.“
Wenn nun aber Evolution gar nicht „evolutionär“ ist? Vielleicht ist sie ja ein Schwarzer Schwan. (#Antifragilität)
Wenn Umwelten zur Schule sagen: „Wir brauchen dich jetzt!“ und Schule antwortet: „Ich brauche aber mehr Zeit!“ – ist das eine Ausgangslage für Entkoppelung.
Und: Die Erzählung von der Langsamkeit der Kultur macht keine Aussage darüber, ob die Organisationskultur diese Zeit tatsächlich braucht um sich zu verändern. Sie macht lediglich eine Annahme – und schon gar nicht kann sie einen Einfluss darauf nehmen, ob oder dass es diese Zeit auch tatsächlich gibt. Das müsste uns mittlerweile stutzig machen angesichts der Radikalität und Beschleunigung der Entwicklungen, in denen wir drin stecken.
Dieses Arrangement erinnert mich an die Taktik von Hänsel und Gretel, den Rückweg aus dem Wald mit Brotkrumen zu markieren, will sagen:
Es ist ein bestimmtes Verständnis von Ressourcen und ihr konkreter Einsatz, der zu ihrem Verlust führt.
Wohl denen, die dann ein Klavier dabei haben 😎
