Wer hatte nicht auch schon diesen Gedanken: ob es für das Wohlbefinden und die Entwicklung unserer Kinder nicht besser wäre, wenn es Orte für sie gäbe, an denen sie frei lernen können? Wo sie dabei begleitet werden, sich selbst zu werden und zu erfinden. Wo sie gemeinsam mit anderen in der Entwicklung ihrer unverwechselbaren Persönlichkeit unterstützt werden und wo selbstbestimmtes Denken, Fühlen, Sprechen und Handeln selbstverständlich sind – wo sie aus dem Spielen heraus lernen und sich diesen wertvollen Zusammenhang ein Leben lang erhalten.
Das wäre mal eine Bildung! Doch die Ausgangslage ist meist die, dass wir dafür keine freien Ressourcen haben – nicht einmal um solche Gedanken weiter zu denken. Denn wir sind ja auch auf Schule angewiesen: Sie nimmt uns die Kinder und eine Menge Organisation und Planung ab.
Andererseits höre ich in Gesprächen mit Vätern und Müttern immer wieder den Zwiespalt heraus, in dem sie sich befinden. Sie spüren, dass Schule von ihren Kindern verlangt sich anzupassen, noch bevor sie die dafür notwendigen Fähigkeiten überhaupt entwickeln konnten. Ein Dilemma.
„Raus aus der Schule“ – Das ist doch naiv, oder nicht?
Auf dem Hintergrund der vorgegebenen Taktung unseres Arbeits- und Lernalltags erscheint vielen Erwachsenen und Jugendlichen die Idee selbstbestimmten Lernens naiv: dass Menschen die Schule hinter sich lassen und ihr Lernen selber in die Hand nehmen. Es selber organisieren. Wie soll das gehen?
Da scheinen mühsam erarbeitete und aufrecht erhaltene Strukturen ins Wanken zu kommen. Die fein austarierte Kontrolle und Übersicht(lichkeit) gerät in Gefahr: Wie sollen wir das als Familie organisieren? Erst recht wenn ich alleinerziehend bin? Die Angst vor dem Verlust der unterstützenden Strukturen steht sofort bei Fuss.
Zwar ist der Gedanke an „raus aus der Schule“ im ersten Moment verlockend: intuitiv gehen wir davon aus, dass es unseren Kindern (und damit auch uns) besser gehen würde, wenn sie und wir unserem eigenen Rhythmus, den eigenen Interessen und Potenzialen folgen könnten. Doch als Nächstes stellen sich dann Fragen:
- Wie organisieren wir das?
- Wie garantieren wir, dass (junge) Menschen dann tatsächlich lernen und richtig lernen und das Richtige lernen.
- Wie können wir das feststellen – als Nicht-Fachleute für Schule?
- Wie können wir das einschätzen und beurteilen?
- Und wie sieht es dann mit den so wichtigen Schulabschlüssen aus?
Und was heisst raus aus der Schule konkret? Wohin denn dann? Wo in unserer Gesellschaft ist denn dafür Platz? Wo sind denn andere Menschen, die ähnlich unterwegs sind? Wie finanzieren wir das? Fragen über Fragen!
Colearning als Antwort auf viele ungelöste Fragen
Colearning ist ein Bündel guter Antworten auf diese Fragen, hinter denen eine Menge guter Erfahrungen steckt. Gelingende Experimente. Was unsere Antworten gemeinsam haben, ist Selbstermächtigung.
Jung und Alt entwickeln im Colearning nach eigenen Aussagen ein gesundes Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl, Selbstverantwortung und Selbstvertrauen – und die bilden ja das Fundament und den Boden für die Entwicklung alles weiteren: für Sozialkompetenz und jede Menge Skills in Sachen Beruf & Arbeit.
Und diese Fähigkeiten sind ja nicht nur im Zusammenhang mit Kindern und Jugendlichen ein Thema. Wenn ich von mir und etlichen Gesprächspartner:innen ausgehe, dann haben auch wir Erwachsene das Bedürfnis und ein Recht darauf, uns weiterzuentwickeln. „Raus aus der Schule“ ist also auch ein Angebot an mich, den eigenen Kopf zu ent-schulen.

Und was wäre, wenn auf diesem Weg ganz viel Entlastung drinliegt für die Familie und für jede:n von uns? Entlastung vom Stress, vom Erwartungsdruck und von allerhand Organisationsleistungen rund um das Thema „Schule“?
Das alles haben wir im Blick, wenn wir „Colearning“ sagen und machen. In Bern. Tag für Tag.
Deshalb hier ein Blick auf zentrale Elemente, durch die sich Colearning von Schule unterscheidet:
Das erste Element
Zuerst ist da der Raum („Space“), in dem Lernen ja immer stattfindet. Wir sorgen in Bern gemeinsam für einen Raum, in dem das Lernen nicht orientierungslos wird wenn ihm der strukturierende, schulische Rahmen fehlt, sondern ein Raum, in dem es im Gegenteil eine neue Heimat findet, jenseits schulischer Struktur und Kontrolle.
Im Übergang von Schule zum Colearning organisiert der Raum die Beziehungen der Menschen in ihm neu, weil wir das so wollen. Wir schaffen uns diesen Raum zu diesem Zweck. Lernende Menschen, die sich für Colearning und gegen Schule entscheiden, fallen also nicht aus einer Struktur heraus ins Leere.
Wir finden in eine neue Struktur, die zu diesem Zweck nicht „erfunden“ wird oder „konstruiert“, sondern bereits existiert: Unsere Lebens- und Arbeitswelt, in unserem Fall der Coworking Space Effinger in Bern. Der entwickelt sich dadurch als Raum weiter. Er wird ein Raum für Colearning. Er beginnt sich selbst zu verändern.
Colearning ist ein Prozess, der in zwei Richtungen verändernd wirkt:
Als Lernende:r (egal ob ich offiziell noch Schüler:in bin oder bereits erwachsen) verlerne ich die mit dem Schul-Raum verbundenen Haltungen und Beziehungsmuster. Ich entwickle neue. Als Mensch in einem Arbeits-Raum bewege ich mich wiederum „auf das Lernen zu“, das bisher in Schulen untergebracht war.
Durch diese Bewegungen „aufeinander zu“ verändern sich Lernwelten ebenso wie Arbeitswelten und entwickeln neue Identitäten. Sie schaffen einen neuen, gemeinsam gestalteten und verantworteten Raum: den Colearning Space.
So ein „Colearning-Space“ entwickelt sich bevorzugt dort, wo wir ein lebendiges Interesse daran haben, auch das Phänomen des “Arbeitens“ weiterzuentwickeln. Wohl deshalb hat sich das Colearning in Bern in einem Coworking Space entwickelt.
Dort wird bereits anders (zusammen-)gearbeitet. Es gibt bereits eine sicht- und spürbare Kultur der Kollaboration mit zwei zentralen Absichten: sich aufeinander einlassen und sich aufeinander verlassen. In der Schule würden wir das womöglich „Lernziele“ nennen – im Colearning Space sind diese beiden Dimensionen fundamentale Pfeiler der gesamten Kultur.
Das zweite Element
… durch das sich Colearning von traditionell schulisch organisiertem Lernen unterscheidet, und das sehr eng mit dem Element vom „Raum“ zusammenhängt: Colearning bringt in Beziehung, was in herkömmlichen, schulischen Strukturen getrennt ist:
Wir schaffen einen Ort, wo Jugendliche und Erwachsene in der Mitte der Gesellschaft lernen können. Wir führen die Arbeitswelt und die Lernwelt von Jugendlichen und Erwachsenen zusammen.
www. colearningbern.ch
Anders gesagt: „Colearner:innen arbeiten selbstbestimmt und selbstorganisiert. Wir übernehmen Verantwortung für das eigene Lernen und unterstützen andere in ihrem Lernen. Wir sind eine Gemeinschaft, die Lernen immer wieder sichtbar macht, Lernerfahrungen reflektiert und diese mit anderen teilt. Colearning ist ein Geben und Empfangen. Unsere Lernkultur funktioniert nur, wenn wir alle bereit sind, uns in der Weise einzugeben.“ (Quelle)

Das dritte Element
Colearning lebt ganz zentral aus einem starken, gegenseitigen Interesse an den Lernprozessen derer, mit denen ich unterwegs bin. In der Schule lernen Menschen zwar klassenweise „in einem Raum“, aber am Ende doch wieder jede:r aufs eigene (Noten-)Konto. Colearning ist das Gegenteil. Dein und mein Lernen ist aufgehoben und eingebettet in ein Netz von gegenseitigem Interesse und gegenseitiger Aufmerksamkeit – generationenübergreifend.
Wir wissen umeinander: wo der und die Einzelne unterwegs ist, und wo er und sie gerade steht. Was ihn und sie um- und antreibt. Der Lern- und Arbeitsraum bietet ausreichend Platz für individuelle Projekte, er gewährleistet Zeiten und Orte der Begegnung ebenso wie die Möglichkeit, völlig ungestört zu arbeiten und zu lernen.
Orientierung finden und geben wir einander dabei auch in regelmässigen Mentorings. Sie dienen nicht der Kontrolle, sondern sind ein Ausdruck gegenseitiger Verbindlichkeit in den Lern-Beziehungen. Sie dokumentieren Interesse und bilden einen wichtigen Teil unserer Kultur des Gebens und Empfangens. Dabei liegt es in der Verantwortung jeder Colearnerin/jedes Colearners, auf die für ihn und sie richtige Balance zu achten.
Das vierte Element
… handelt von der Frage, wie wir unser Lernen sichtbar machen – für uns selbst und für die, mit denen wir heute und morgen zusammenarbeiten. Da geht es also ums Reflektieren und ums Ernten.
Zu diesem Zweck haben wir die Schatzhebungstreffen entwickelt. Sie ermöglichen uns, das Individuelle und das Gemeinschaftliche am Lernen und Arbeiten ans Licht zu bringen, es sichtbar zu machen – in erster Linie für uns selbst, und dann immer auch öffentlich:
In einem Blog, in einem sozialen Netzwerk, in Form von Reflexionen, oder indem ich Produkte, die ich entwickelt habe, öffentlich zugänglich mache: ein Programm, eine App, eine Homepage, die ich entwickelt habe, ein Video, das ich für jemanden produziert habe, eine Pilzfarm, die ich aufgebaut habe, eine Lernreise, die ich gemacht habe, einen Event, den ich organisiert habe, eine Rolle, die ich im Coworking Space übernommen habe, und über die ich mit einem Blog Post reflektiere, einen Podcast, den ich produziere. Die Liste der Möglichkeiten ist praktisch endlos.

Unser Colearning Space ist darüber hinaus so flexibel und agil, dass jugendliche Lernerinnen und Lerner in ihm auch alle traditionellen Lernpfade selbstorganisiert gestalten können, bis hin zu einer eidgenössischen Matura.
Da gibt es dann alles mögliche: Angefangen vom 15-jährigen, der kurz vor dem Ende seiner Pflichtschulzeit einen Raum braucht, in dem er diese Zeit gut zu Ende bringen kann, abseits von Mobbing und anderen entwertenden Formen der Kommunikation, über Jugendliche, die sich mit ihren Eltern zusammen entschieden haben, im Homeschooling zu lernen, und die diesen Prozess, um einen Colearning Space erweitern, bis hin zu Jugendlichen, die im Coworking Space eine Lehre anpacken (die wir nach innen konsequent „Lerne“ nennen) – bei den Unternehmen, die in Coworking Space ansässig sind, oder einer jungen Frau, die ihren Berufstraum der Pferdetrainerin vorantreibt, indem sie ihre Ausbildung von Grund auf systematisch selber gestaltet.
Mein eigenes Lern-Projekt ist es, Colearning immer besser sichtbar zu machen: Menschen, die sich dafür interessieren, die Idee und das Konzept näher zu bringen – gemeinsam mit dem Team, und dafür meine eigenen Kompetenzen einzubringen und zu erweitern. Die grosse Herausforderung sehe ich für mich darin, die Genialität von Colearning nicht auf ein Geschäftsmodell zu reduzieren und doch davon leben zu können.
Ist das die Quadratur des Kreises?
Was es zum Anfangen braucht
Nach meiner Beobachtung liegt die größte Herausforderung in den Anfangsphasen eines Colearning Space darin, dass wir tatsächlich aus den tief in uns verankerten Rollenbildern von „hier Schüler:in“ und „dort Lehrer:in“ nach und nach herausfinden. Dazu bedarf es relativ viel Reflexionsarbeit und gegenseitiger Unterstützung, Aufmerksamkeit und Zuwendung, die wir aber ganz selbstverständlich wieder unter Lernen „verbuchen“.
Dabei hilft uns auch wieder das Setting, hilft uns der Raum, der auf ganz „kultürliche“ Weise Lernen und Arbeiten verbindet und vernetzt. So kommt auch von dieser Seite her gar nicht erst der Eindruck auf, hier könnte so etwas wie Schule stattfinden.
Was braucht es noch neben diesem Raum, einer Minimalstruktur und -organisation, die ohne grossen Aufwand entstehen können? Vor allem eine Gemeinschaft, die uns trägt, also das, was überall eine Voraussetzung für Gelingen ist, wenn es ans Eingemachte geht, wenn es um Innovation geht, wenn es darum geht, eingespurte Wege zu verlassen.
Hier kommt die schöne Doppelbedeutung dieses Wortes zur Geltung: Weil wir uns aufeinander verlassen können, können wir das Alte verlassen. Das ist in Zeiten von sich festsetzendem Misstrauen und zunehmender Verunsicherung in praktisch allen persönlichen und öffentlichen Feldern ein anspruchsvoller Prozess – und im gelingenden Fall ein unendlich wertvoller.

Wir haben einen Verein gegründet, mit dem wir uns und jenen, die auch an der Colearning-Idee interessiert sind, eine Plattform zur Verfügung stellen. Als digitale Möglichkeit der Vernetzung via Discord, wo du Menschen triffst, ins Gespräch kommst, Material findest und teilst.
Und wir stellen unsere Erfahrung und unser Knowhow allen zur Verfügung, die Colearner:in werden möchten: unsere inspirierenden Räume in Bern, die kreative, offene Infrastruktur, die zum Colearning einlädt. Wir bieten Workshops an, Time Outs, peer-learning-events für Jugendliche und Erwachsene. Wir bieten die Möglichkeit, Colearning für Organisationen greifbar zu machen:
Auch ich mache mein Lernen immer wieder sichtbar – etwa durch Blog Posts wie diesen, mit dem ich meine Beziehung zum Colearning reflektiere und es immer wieder neu entdecke und vertiefe.
Auf ein Lern-Produkt bin ich dabei besonders stolz: Meine Videodokumentation, in der Colearner:innen jeden Alters zu Wort kommen und erzählen, was das für sie ist. Hier wird wirklich spürbar, worum es geht 🙂
Bist du neugierig geworden? Möchtest du ins Gespräch mit uns kommen? Dann melde dich ungeniert jetzt.


4 Kommentare zu „Raus aus der „Schule im Kopf! Warum es so oft beim Traum bleibt und wie wir es trotzdem geschafft haben“